In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die deutsche Kritik an der EZB ist außerhalb der Bundesrepublik nur schwer nachvollziehbar
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Jürgen Klute
In der Bundesrepublik nimmt man der EZB bzw. ihrem bisherigen Chef Mario Draghi die Niedrigzinspolitik äußerst übel. Entsprechend hart werden Draghi und die EZB in der öffentlichen Debatte von fast allen Seiten kritisiert.
Jean-Lou Siweck vom Tageblatt Lëtzebuerg wirft der deutschen Sichtweise Kirchturmdenken vor und fordert zum Blick über den Tellerrand auf. Zum einen, so Siweck, haben die deutschen Kritiker keine Alternativen zur Zinspolitik von Draghi anzubieten. Zum anderen hält Siweck den deutschen EZB-Kritikern vor Augen, was ohne die Zinspolitik von Draghi aller Wahrscheinlichkeit nach im Euro-Raum passiert wäre bzw. zu welchen ökonomischen Verwerfungen es zwischen den EU-Mitgliedsstaaten ohne den Euro gekommen wäre.
Dass es Dank des Euros und der Zinspolitik der EZB nicht zu solchen Verwerfungen gekommen ist, kommt auch der Bundesrepublik zugute. Siwecks Fazit:
Denn das wahre Problem der deutschen Sparer ist volkswirtschaftlicher Natur: Da weder die private noch die öffentliche Hand derzeit viel investiert, gibt es kaum einen produktiven Nutzen für das tapfer ersparte Geld. Deutschland kann man daher nur raten, etwas weniger auf Mario Draghi zu schimpfen und etwas mehr in die zu oft marode Infrastruktur zu investieren.
Den deutschen Kritikern der EZB kann man die Lektüre dieses Leitartikels und den daraus resultierenden Perspektivwechsel nur wärmstens empfehlen. Im Vergleich zu den oft schwülstigen, meinungsstarken und informationsarmen bundesrepublikanischen Debattenbeiträgen zur EZB und zu Draghi ist dieser Beitrag aus dem Luxemburger Tageblatt erfreulich sachlich und erfrischend informativ.
Die Suche nach dem optimalen Steuersystem
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Thomas Wahl
Große Vermögen erfassen, Spitzensteuersatz erhöhen, gerechte und einfache Steuern – das waren und sind die Schlagworte hitziger Diskussionen. Klaus Mackscheidt, Jahrgang 1935, ist einer der renommiertesten deutschen Finanzwissenschaftler Deutschlands und nimmt hier differenziert Stellung. Sind höhere Steuersätze für Reiche per se gerecht? Wie sieht das ideale System für die Einkommensteuer aus? Wie sinnvoll ist eine Vermögenssteuer? Schließen z. B. die Einfachheit und Gerechtigkeit im Steuergesetz sich gegenseitig aus? Dazu Mackscheidt:
Ja, das ist genau der Zielkonflikt. Wenn Sie es einfach machen, werden Sie immer auf Fälle stoßen, die das Gerechtigkeitspostulat verletzen. Und dann heißt es: Das müssen wir verhindern – mit einer neuen Regelung. So gerät, wenn Sie Einzelfallgerechtigkeit verwirklichen wollen, ein Eskalationsprozess in Gang.
Man erahnt die Kompliziertheit der Materie – es wird keine wirklich ideale Lösung geben. Und keine, die wir alle als gerecht empfinden würden.
Die Finanzwissenschaft hat Abstand von der Idee genommen, ein gerechtes Steuersystem zu finden. Wir machen heute Wirkungsanalysen, und zwar sehr präzise, mit immer besserem empirischem Material. Wir können simulieren, welche Wirkungsketten beispielsweise bei bestimmten Steuersätzen ablaufen werden – und daraus lässt sich ein Gesamtmodell entwickeln, das die größtmögliche Akzeptanz in der Bevölkerung gewinnen kann. Die Gerechtigkeitsvorstellung dagegen ist zu diffus.
Der Autor sieht als Ziel den Wohlstand der Gesellschaft als Ganzes. Er weiß, dass dieser Wohlstand durch Umverteilung steigen kann, weil “wir weniger Rivalitäten haben, weniger egoistische Schachzüge“. Aber er weiß auch, dass dies durch einfache Gerechtigkeitsvorstellungen nicht zu realisieren sein wird. Eher durch strafbewährten Druck, kombiniert mit Anreizsystemen. Ein anregender und bedenkenswerter Text.
Opportunity Atlas: Der Traum von der Chancengleichheit
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Michaela Haas
Es ist der amerikanische Traum: vom Tellerwäscher zum Millionär. Harvard-Professor Raj Chetty hat zwar eine Version dieses Traums für sich selbst verwirklicht – er hat es vom Sohn indischer Einwanderer zum Nobelpreis-Anwärter geschafft – aber in diesem faszinierenden Porträt erklärt er, warum der American Dream heute kaum noch verwirklicht wird:
Es ist heute fast doppelt so wahrscheinlich, den amerikanischen Traum in Kanada zu verwirklichen, wie in den USA. Stichwort: Ungleichheit. Wenn die eigenen Eltern im unteren Fünftel der Einkommensverteilung liegen, stehen die Chancen, es selbst ins obere Fünftel zu schaffen, bei nur 7,5 Prozent. In Kanada sind es 13,5 Prozent.
Chetty will das ändern. Er hat das Institut „Opportunity Insights“ in Harvard gegründet, um damit seinen eigenen Traum zu verwirklichen: den amerikanischen Traum wieder zum Leben zu erwecken.
Als Defibrillator dienen ihm Millionen von Daten, Verkaufsgeschick und der Wille, Wissenschaft in konkrete Maßnahmen zu überführen.
In seinem „Opportunity Atlas“ hat er die Daten von 20 Millionen Amerikanern ausgewertet. Und ist dabei auf eine überraschende, aber simple Strategie gestoßen, wie Familien die Chancengleichheit erhöhen können.
Wie die Agrarsubventionen der EU Korruption befeuern
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Hristio Boytchev
Jährlich schüttet die EU über 50 Milliarden Euro an Agrarsubventionen aus. Sie sollen Bauern und ländliches Leben unterstützen. Das Programm ist eines der ältesten der Union und macht einen Großteil ihres Budgets aus. Es wirkt als Klebstoff, der den Block zusammenhält.
Deswegen kann es politisch kaum belangt werden. Dabei wäre eine Reformierung zwingend notwendig, wie dieser Artikel eindrucksvoll beweist. Denn gerade in Osteuropa wird das Programm von korrumpierten Politikern missbraucht, um sich selbst oder engste Vertraute zu bereichern. In der Geschichte tauchen auf: der ungarische Premier Viktor Orban, der tschechische Premier Andrej Babis und Jan Kuciak, der slowakische Investigativjournalist, der offenbar wegen seinen Recherchen zum Thema ermordet wurde.
Deutschlands Fehlplanung in Sachen Quantencomputer
piqer:
Robert Gast
Als Google vor einigen Wochen seinen Quantenprozessor Sycamore präsentierte, ging eine Frage teilweise ein wenig unter: Was passiert eigentlich in Deutschland in Sachen Quantencomputer? Zwar kamen deutsche Quantenphysiker immer wieder in den Medien zu Wort und ordneten die Ergebnisse aus den USA ein. Aber woran sie selbst forschen – und unter welchen Bedingungen – blieb eher unklar.
Christian J. Meier hat nun in der SZ einen einigermaßen ausführlichen Blick auf die Quantencomputer-Forschung in Deutschland geworfen. Dabei sind ihm mehrere interessante Dinge aufgefallen: Zum einen fließen in die Quantentechnologien weniger Sondermittel, als das Bundesforschungsministerium (BMBF) gerne vorgibt. Von den 650 Millionen Euro, die die Regierung in dieser Legislaturperiode für Quantenforschung spendieren will, wären 400 Millionen ohnehin geflossen, da sie beispielsweise aus den festen Budgets der jeweiligen Forschungseinrichtungen stammen.
Für Unmut bei den Forschern sorgt auch, dass man die anwendungsnahe Fraunhofer-Gesellschaft mit der Quantencomputer-Entwicklung beauftragt hat und alles auf einen einzigen Quantencomputer-Ansatz setzt (supraleitende Qubits). Offene Ausschreibungen für Universitäten und andere Institutionen gibt es laut Meiers Artikel bisher nicht. Der Auftrag an Fraunhofer mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, schließlich sollen Quantencomputer ja früher oder später in der Anwendung landen. Allerdings haben die Institute der Gesellschaft bisher keine nennenswerte Erfahrung auf diesem Gebiet.
In dem anwendungsnahen Umfeld läuft die Quantenforschung außerdem Gefahr, die Erwartungen zu enttäuschen: Bis man mit Quantencomputern praktische Dinge anfangen kann, werden womöglich noch Jahrzehnte vergehen (wenn die Maschinen sich überhaupt als nützlich erweisen). Vermutlich wäre es also klüger gewesen, die Grundlagenforschung stärker einzubinden – auch wenn das nicht zur anwendungsbezogenen Förderlogik des BMBFs passt. So, wie es jetzt läuft, droht jedenfalls eine große Enttäuschung, meint Meier:
Der Drang zu Anwendungen könnte sogar in der Sackgasse enden. Die Befürchtung einiger Experten: Uneingelöste Versprechen könnten zu einer Art „Quantenwinter“ mit gekürzten Mitteln führen.
Ein Migrationsmodell à la Kanada – Warum eigentlich nicht?
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Emran Feroz
Kanada hat verkündet, in den nächsten drei Jahren eine Million weitere Migranten aufnehmen zu wollen. Konkret bedeutet dies rund 350.000 Zuwanderer pro Jahr, was rund ein Prozent der aktuellen Gesamteinwohnerzahl darstellt.
Jeder fünfte Kanadier ist mittlerweile Migrant. Viele von ihnen waren einst Geflüchtete und sitzen mittlerweile in der Regierung.
Ein Beispiel hierfür ist Ahmed Hussen, Minister für Migration, Geflüchtete und Staatsbürgerschaft. Er stammt ursprünglich aus Somalia.
Er sagt u. a. Folgendes:
„Immigrants and their descendants have made immeasurable contributions to Canada, and our future success depends on continuing to ensure they are welcomed and well-integrated.“
Streng gesehen sind natürlich die meisten Kanadier, genauso wie ihre nordamerikanischen Nachbarn, Nachfahren von Migranten.
Dennoch finde ich derartige Entwicklungen beachtlich und frage mich: Warum geht das nicht hier? Warum machen europäische Gesellschaften einen rassistischeren Eindruck auf mich? Noam Chomsky meinte mir gegenüber, dass das mit der Homogenität Europas zu tun habe.
Wie dem auch sei, ich kann mir weder in Österreich noch in Deutschland einen Ahmed Hussen als MINISTER FÜR STAATSBÜRGERSCHAFT vorstellen – und das ist traurig.
Übrigens: Ich habe so einige Freunde und Bekannte, die als Geflüchtete nach Europa gekommen sind, mittlerweile allerdings in Kanada leben. Und sie fühlen sich dort um einiges wohler.
Warum? Weil Kanada uns einfach in Sachen Migrationspolitik um einige Schritte voraus ist.
„Wird der Impuls für Fortschritt stärker sein als der für Repression und Selbstzerstörung?“
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Achim Engelberg
Daniel Binswanger sucht Alternativen: nicht für Deutschland, sondern die Welt. Unlängst postete die Kollegin Anja C. Wagner seine Rezension des neuen Werks von Thomas Piketty. Hier sein Gespräch mit Paul Mason (hier gibt es andere Interviews und Buchhinweise), der die 3 zentralen Gefahren heute so benennt:
die Tatsache, dass das Wirtschaftssystem für eine Mehrheit der Leute nicht mehr befriedigend ist; die schwindende Unterstützung für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte und die Bedrohung durch algorithmische Kontrolle. Alle drei Entwicklungen haben eines gemeinsam: die Zerstörung der menschlichen Handlungsfähigkeit.
Mit dem Beginn der Krise 2008 begann ein Teil der Elite, die Demokratie anzugreifen,
weil die Demokratie den Menschen die Möglichkeit gibt, ein dysfunktionales Wirtschaftssystem zurückzuweisen und zu sagen: Wir wollen das nicht mehr.
Paul Mason sieht uns am Scheideweg: Eine neue Allianz von Mob und Elite droht – so charakterisierte Hannah Arendt den Faschismus. Dagegen benötigt eine lebenswerte Alternative eine Utopie, die die postmoderne Linke mit Hinweis auf Faschismus und Stalinismus verdammt.
Herausfordernd das Fazit von Paul Mason:
Ich habe meinem Buch eine Formulierung von Trotzki zum Titel gegeben: clear bright future. Ich glaube zumindest, dass wir eine konsistente Theorie darüber haben können, wie wir uns auf eine solche Zukunft zubewegen, auf eine Menschheit, die handlungsfähig ist und selbstbestimmt. Wir sind eine technologiebegabte Spezies, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir diese Fähigkeiten weiterhin nutzen werden, um unseren Lebensstandard zu erhöhen. Die Frage ist lediglich, ob die wirtschaftlichen Transformationen, die damit einhergehen, Klassenstrukturen generieren, die neue Hierarchien und noch massivere Unterdrückungsformen erzeugen werden. Es ist die ewige Dialektik der Geschichte: Wird der Impuls für Fortschritt stärker sein als der Impuls für gesellschaftliche Repression und Selbstzerstörung?
Die globale Protestwelle unserer Tage, knapp erklärt
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Rico Grimm
Als ich kürzlich nachgezählt habe, kam ich auf mindestens 20 größere Protestbewegungen, die seit Ende September auf dem Planeten in Erscheinung getreten sind. Schlagzeilen macht momentan vor allem Chile, davor waren es Russland, Hong Kong oder Katalonien. Eine Frage drängt sich da natürlich auf: Ist das alles nur Zufall? Oder gibt es Gemeinsamkeiten? In diesem Text suchen Max Fisher und Amanda Taub nach möglichen Faktoren. Sie finden:
1. „Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg übersteigt die Zahl der Länder, die sich in Richtung Autoritarismus bewegen, die Zahl der Länder, die sich in Richtung Demokratie bewegen.“ – Die Demokratie breitet sich nicht mehr aus.
2. Social Media macht Proteste anfangs wahrscheinlicher und größer, es steigt aber dadurch auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie scheitern.
3. Die Gesellschaften driften auseinander. Protestbewegungen repräsentieren so gut wie nie „das Volk“, sondern nur einzelne Teile der Bevölkerung, bestimmte Milieus, Religionen etc. Diese Teile wiederum protestieren, oft auch gegeneinander. Man denke in Deutschland nur an Pegida und die riesige Gegenbewegung.
4. Autokraten lernen dazu und lernen auch voneinander.
Die USA steigen aus dem Paris-Protokoll aus
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Nick Reimer
Auch wenn das Vielen hierzulande nicht gefallen wird: Die Chancen für eine zweite Amtszeit von Donald Trump stehen ausgezeichnet. Auf der einen Seite macht der Polterer alles richtig, er kämpft gegen das Establishment, was seine Anhänger mobilisiert: Das angestrebte Amtsenthebungsverfahren nützt ihm mehr, als das es ihm schadet. Andererseits machen die Demokraten alles falsch: Sie sind heillos zerstritten und können keinen überzeugenden Gegenkandidaten präsentieren. Und die Republikaner stehen sowieso bedingungslos hinter Trump.
Insofern sieht es schlecht aus für das Paris-Protokoll: Wie angekündigt haben die USA ihre Unterschrift unter den Klimavertrag aufgekündigt. Vor genau drei Jahren trat der Vertrag am 4. November in Kraft. Bevor ein Staat kündigen durfte, musste das Protokoll erst drei Jahre wirksam sein. Trump hat keinen Tag gezögert. Allerdings dauert es noch ein Jahr, bis der jetzt vollzogene Ausstieg der USA gültig wird. Frühestens ist das nach der nächsten US-Präsidentenwahl am 3. November 2020, ein neuer Präsident könnte also das ganze als erste Amtshandlung noch aufhalten. Ein neuer Präsident aber – siehe oben.
Nun wäre es heuchlerisch, den Finger auf Trump zu zeigen: Auch Deutschland ist Mitglied des Protokolls, hält sich aber kein Deut an das, was die Paragraphen sagen. Geist des Paris-Vertrags sind so genannte INDCs, „Intended Nationally Determined Contributions“, die „national festgelegten Beiträge“ – Ziele von Staaten zur Treibhausgas-Emissionsminderung, mit der das Zwei-Grad-Ziel (das 1,5-Grad-Ziel) erreicht werden soll. Deutschland hat der UNO minus 40 Prozent bis 2020 gemeldet – und schert sich einen Dreck um seine Verantwortung.
Gern empfehle ich an dieser Stelle noch die Einschätzung meines geschätzten Spanien-Kollegen Reiner Wandler: Madrids Einspringen als Ausrüster der COP in diesem Jahr hat zwei Gründe: Erstens lassen sich damit gute Geschäfte machen, zweitens grüner Wahlkampf. Und Spanien wählt ja schon wieder.