Fremde Federn

Putins Utopie, Feindbild Metropole, prekäre Kreativwirtschaft

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Der Unterschied zwischen arm und pleite aus der Bodenperspektive, die Probleme der Labour-Partei mit dem Brexit und wie groß bzw. klein der Kryptomarkt wirklich ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Eurasische Union statt EU – der Mann, der Putins Utopie wieder cool machen soll

piqer:
Simone Brunner

Sie gehört zu den großen Schlagwörtern der Putin-Ära: die „Eurasische Union“, inklusive der „Eurasischen Wirtschaftsunion“, die 2014 gegründet wurde. Ein Zusammenschluss der post-sowjetischen Länder als Gegengewicht zum Westen für die einen, ein Bollwerk jener Staaten, die die pluralistischen Werte des Westens ablehnen, für die anderen. Die Vision einer „supranationalen Union, die ein Pol der modernen Welt werden könnte“, wie es der russische Präsident Wladimir Putin einmal schrieb.

Aber ist das Projekt mehr als ein Papiertiger? Nach der Ukraine-Krise gescheitert? Oder hat es doch noch eine Zukunft? Fakt ist jedenfalls, dass mögliche Beitrittsländer derzeit nicht gerade Schlange stehen, was wohl auch daran liegt, dass Russland seine Außenpolitik in der Region eher hegemonisch statt partnerschaftlich angelegt hat. Wenn bis 2014 noch über einen Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union diskutiert wurde, ist das mit der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass wohl endgültig passé.

Coda Story hat den Mann aufgespürt, der das Projekt der Eurasischen Union intellektuell untermauern und somit wieder für die post-sowjetischen Staaten „cool“ machen soll. Spoiler: Es ist nicht der rechtsextreme Ideologe Alexander Dugin, der immer wieder als Stichwortgeber für einen „Neo-Eurasismus“ auftritt, sondern ein junger, eloquenter Russlanddeutscher.

Vom Vorreiter zum Nachzügler: 18 verlorene Jahre deutscher Klimapolitik

piqer:
Daniela Becker

Franzjosef Schafhausen war bis 2016 Abteilungsleiter Klima im Bundesumweltministerium. Er erklärt in diesem Beitrag, wie Deutschland in die peinliche Situation geraten konnte, sowohl die selbst gesetzten als auch die EU-Klimaziele zu verfehlen.

Das nationale Klimaschutzprogramm 2000 war bereits defizitär: Das Umweltministerium konnte sich gegen das damalige Wirtschaftsministerium, das vom Bundeskanzleramt unterstützt wurde, nicht mehr auf die notwendigen zusätzlichen Politiken und Maßnahmen verständigen. Notwendig gewesen wäre eine Minderung der CO2-Emissionen um 50 bis 70 Millionen Tonnen bis Ende 2005 – geleistet wurden dagegen lediglich 30 Millionen Tonnen. Das Klimaschutzprogramm 2000 war – unmittelbar vor einer Bundestagswahl – nicht viel mehr als „business as usual“.

Der eigentliche Sündenfall fand aber im Sommer 2007 statt: Das „Integrierte Energie- und Klimaprogramm – IEKP“ mit seinen zehn Maßnahmen beendete die übergeordnete Rolle des Bundesumweltministeriums und verschob das Gewicht in das Wirtschaftsministerium. Konsequenz: Bis Ende 2014 verabschiedete das Bundeskabinett kein eigenständiges Klimaschutzprogramm mehr.

Ergo: 18 kostbare verlorene Jahre.

Schafhausen wünscht sich nun „Politik als visionärer Wegweiser zu Beginn der neuen Legislaturperiode“. Was bisher aus den GroKo-Verhandlungen zu hören ist, lässt aber nur wenig Hoffnung aufkeimen.

Zur Lage der Nation und jenseits der Nation

piqer:
Achim Engelberg

Herfried Münkler, den manche den „Carl Schmitt der Berliner Republik“ nennen, läuft in großer Form auf.

Lange haben Merkels persönlicher Stil und die Herausforderungen, denen sie begegnen musste, sehr gut zueinander gepasst. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es kommt jetzt nicht nur darauf an, dass moderiert und ausgeglichen wird und dass unsere Politik das Bestehende gut verwaltet.

Das Ankommen der verdrängten Flüchtlinge analysiert er als Katalysator von Machtverschiebungen:

Lange wurden deutsche Generationen nach Kriegen benannt: Vorkriegsgeneration, Kriegsgeneration, Nachkriegsgeneration. Dann gab es Gott sei Dank keine Kriege mehr, es kam die Generation Golf. Das war einer konsumistischen Gesellschaft angemessen. … Insofern beobachten wir eine Rückkehr aus der Konsumdimension in politische Projekte – was 25 Jahre nach dem Mauerfall und den Herausforderungen der Vereinigung eben die Flüchtlingskrise ist.

Und er sieht, wie die Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft einen solchen in der Öffentlichkeit hervorrufen:

Die Zeit der langfristigen und sicheren Beschäftigungsverhältnisse ist vorbei. Auch in der Politik gibt es jetzt Projekte.

Eine Lücke, die auch Münkler lässt, der immerhin in der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt: Es gibt keine ostdeutschen Erfahrungen.

Es stimmt, die Zeit vom Beginn des Mauerbaus bis zum Beginn des Mauerabbaus ist heute genauso lang. Allerdings: Geistig steht die Mauer immer noch.

So muss Jana Hensel diese Lücke im piq wenigstens benennen:

http://www.deutschlandfunk.de/autorin-jana-hensel-westdeutschland-ist-immer-noch-die.694.de.html?dram:article_id=409988

Ich frage mich tatsächlich, ob es nicht möglich gewesen wäre, Ost- und Westdeutschland gleichberechtigter wiederzuvereinen. … Ob es nicht möglich gewesen wäre, tatsächlich diese beiden deutschen Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch jeweils als Antworten auf den zweiten Weltkrieg gegründet haben, ob man nicht deren Geschichte hätte gleichberechtigter erzählen können.

Hat die Labour-Partei ein Rezept für einen funktionierenden Brexit?

piqer:
Silke Jäger

Nicht nur die Torys scheinen wie gelähmt von der Last, den Willen des Volkes in die politische Wirklichkeit zu übersetzen, die Lähmung betrifft auch große Teile des Parlaments, in dem die Mehrheit der Abgeordneten in Sachen Brexit entgegen der eigenen Überzeugung abstimmt. So steht es in diesem Artikel aus der Financial Times (kostenpflichtig, lesenswert), in dem auch dem politischen Großbritannien ein Nervenzusammenbruch auf allen Ebenen bescheinigt wird.

Von der Lähmung betroffen scheint auch die Labour-Partei, über deren Brexit-Strategie weiterhin Rätselraten herrscht. Die Partei unter der Führung des linken Flügels mit Corbyn an der Spitze könnte unserer SPD zwar als Vorbild dienen, schrieb zuletzt der Freitag, sie schweigt aber zum Brexit weitgehend. Die Agenda ist eher, das schlechte Projektmanagement der Regierung zu kritisieren. In Sachen Brexit-Vorschläge wartet Corbyn jedoch ab. Es gehe ihm nur darum, der nächste Premierminister zu werden, so seine Kritiker. Auch zu dem Preis, dass in der Zwischenzeit das Land durch den Tory-Brexit heruntergewirtschaftet wird.

In der Kritik enthalten ist die Annahme, es gäbe einen guten Brexit. Den von Labour vielleicht? Was Remainer um den Schlaf bringt, findet die EU-Reform-Gruppe DiEM25 nicht abwegig – im Gegenteil. Am Dienstag sprach einer der Köpfe der Bewegung, Yanis Varoufakis, vor Labour-Abgeordneten in Westminster und brachte einen Vorschlag mit.

Varoufakis‘ Rede liest sich wie ein Weckruf an die Partei, mit einem Labour-Brexit rauszurücken, definiert das beste Modell dafür als Norwegen plus und rät, sich nicht in alten Referendumskämpfen zu verzetteln. Er legt dar, warum Labour für Norwegen plus einstehen sollte und wie Großbritannien mit diesem Modell trotz Stimmverlust in EU-Gremien der europäischen Reformbewegung helfen würde. Sein Vorschlag: 5 Jahre Norwegen plus, Teil der Reformbewegung, Rückkehr in die neue EU.

Egal, was man von seinen Vorschlägen hält, seine Rede ist es wert, sich mit ihr zu beschäftigen.

In den Krypto-Markt sind keine 300 Milliarden Dollar geflossen, eher so 6 Milliarden*

piqer:
Rico Grimm

In den vergangenen Monaten ist in den USA eine neue Webseite zu den zehn beliebtesten des Landes geworden, die bis dato nur in Fachkreisen bekannt war: coinmarketcap.com. Die Betreiber listen dort Kryptowährungen und digitale Wertmarken („Token“) einschließlich ihrer aktuellen Preise und ihrer Marktkapitalisierung auf. Wer schauen will, wie es dem Markt geht, schaut auf diese Seite oder Ähnliche. Dabei passiert es immer wieder, auch vermeintlich professionellen Beobachtern, dass sie die „Marktkapitalisierung“ missinterpretieren. Sie glauben, dass dieser Wert angibt, wie viel Fiat-Geld (Dollar, Yuan, Euro, Yen, Won,…) jeweils in den Markt geflossen ist. Aktuell wären es 375 Milliarden Dollar für den gesamten Markt. Aber das stimmt nicht, wie dieser Text sehr gut verständlich und knapp für jedermann erklärt.

*Die Zahlen aus der Überschrift stammen von der Bank JP Morgan und beziehen sich auf die Zeit vor der Dezember-Blase

Der Unterschied zwischen „arm“ und „pleite“: Eine Familiengeschichte

piqer:
Christian Huberts

»Pleite […] schon, aber nicht arm«, antwortet die Mutter von Janne Knödler auf ihre Frage, ob sie sich damals, in einer schwierigen Lebensphase, für arm gehalten hätte. Bei einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern, einem laufenden Rechtsstreit um Unterhaltszahlungen und einem Einkommen, das nur durch staatliche Beihilfe bis zum Monatsende reichte, müsste »relative Armut« durchaus ein treffender Begriff sein. Und dennoch sieht die Autorin im Missy Magazine einen wichtigen Unterschied in ihrer Familiengeschichte:

Der Begriff Armut ist kompliziert. Es geht um Geld, natürlich. In Deutschland gelten Menschen als arm, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung stehen. […] Diese Definition wird der Komplexität von Armut aber nicht gerecht: Viele Student*innen leben von weniger als 917 Euro im Monat, trotzdem wäre es hirnrissig, zu behaupten, dass sie alle in Armut leben. Aber was ist dann der Unterschied? Mit ihrer Antwort traf meine Mutter einen wichtigen Aspekt von Armut: Zeit.

Pleite ist man vorübergehend, Armut ist ein dauerhafter, komplexer Zustand. Diese Unterscheidung nicht treffen zu können, sorgt bei vielen Menschen für mangelnde Solidarität mit den Armen. Schließlich hatte man ja auch mal wenig Geld und hat es mit etwas Anstrengung dann doch geschafft. Unterschlagen werden dabei, wie Knödler anmerkt, andere Formen des Kapitals als das ökonomische. Ihre Mutter verfügte etwa über gerade genug kulturelles und soziales Kapital, um bis zur verbeamteten Lehrerin aufzusteigen. Die Autorin musste so selbst nicht fürchten, in der Schule allein auf Grund des sozialen Status vorsortiert zu werden. Ein lesenswerter Text aus Bodenperspektive über die große Bedeutung nicht-finanzieller Ressourcen:

Aufstieg erfordert in unserer Gesellschaft spezifische Ressourcen. Schulen, Ämter und andere Institutionen sorgen aber nicht dafür, dass diese Ressourcen für alle zugänglich sind. Deshalb ist Armut politisch. Und wir als Gesellschaft im Zugzwang.

Auf der Suche nach dem wahren Volk – oder wie Populisten die Metropole als Feindbild entdeckt haben

piqer:
Hauke Friederichs

Populisten wollen das wahre Volk vertreten, die echten Menschen. Und sie rufen zum Kampf gegen die Elite, gegen das Establishment auf. Doch wie macht man klar, wer zu welcher Kategorie gehört? Was steht für die da oben und wir hier unten?

Wer einen Konflikt zwischen Volk und Elite konstruiert, der muss seinen Anhängern erklären, wer auf der anderen Seite steht, stellt Lukas Haffert im Merkur fest. Und weiter:

„Denn ‚Elite‘ ist ja nicht schlicht ein anderer Begriff für all diejenigen, die nicht dem ‚wahren Volk‘ angehören – Flüchtlinge beispielsweise gehören zwar nicht zum ‚wahren‘ Volk, aber selbst der gewiefteste Populist wird kaum behaupten können, sie zählten zur Elite. Auch ‚die Elite‘ muss also erst aus der Vielzahl politisch, kulturell oder ökonomisch einflussreicher Individuen herauspräpariert werden.“

Dafür bedarf es Symbole. Emile Durkheim, der große Soziologe aus Frankreich, hat solche Begriffe, die für ein ganzes Kollektiv stehen, als Totem bezeichnet. Für die Elite können Bildungsabschlüsse stehen oder Aspekte des Lebensstils. Für Rechtspopulisten eignet sich ein weiteres Symbol aber besonders, um eine Elite anzuprangern: die Metropole.

„Die Metropole New York ist hier eine Chiffre für ganz unterschiedliche Elemente der Elite: für Vegetarier und Fahrradfahrer, aber auch für Atheisten, Waffengegner oder Abtreibungsbefürworter – für all diejenigen also, mit denen das ‚wahre‘ Amerika außerhalb der Metropole nichts zu tun haben möchte“, fasst Haffert zusammen. In Deutschland eignet sich aus Sicht der Populisten natürlich Berlin für ähnliche Zuweisungen – und das ist nicht neu.

Auch die NSDAP griff das Establishment in der Hauptstadt an. Der „Berliner Herrenclub“, ein sehr exklusiver Verein meist konservativer Mitglieder, war ihr Symbol für die abgewirtschaftete, korrupte Politikelite. Für Rechtspopulisten, schreibt Haffert, die ein symbolmächtiges Ziel der Elitenkritik suchen, sei Berlin ein Gottesgeschenk.

Leben von Luft und Liebe

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Gabriela Westebbe

In der Kreativwirtschaft mit ihren großen Metropolen in Südafrika und Südamerika arbeiten heute weltweit mehr Personen als in der Autobranche. Auch in Deutschland ist sie der am stärksten wachsende Wirtschaftszweig mit einer Bruttowertschöpfung von über 60 Milliarden Euro, mehr als beispielsweise in der Chemiebranche zusammenkommt. Die Zahl der Erwerbstätigen hat sich in diesem Feld in den letzten 20 Jahren verdreifacht. 1,6 Millionen Menschen arbeiten hierzulande mittlerweile im künstlerischen Bereich. 11 Teilbranchen sind es, darunter Graphikdesigner, Schauspieler und Journalisten.

Die meisten Angehörigen dieser kreativen Berufe leben in prekären Verhältnissen. Der Verdienst liegt im Schnitt bei 15.000 Euro brutto im Jahr. Von ihren künstlerischen Arbeiten können sie nicht leben. Sie sind auf zusätzliche Brot-Jobs angewiesen. Ihr Leben und Wirtschaften ist durch Idealismus, dem Wunsch nach Anerkennung und Selbstausbeutung gekennzeichnet.

Und dennoch verkörpert das freie Leben der Künstler einen Lebens- und Arbeitsstil, den immer mehr junge Menschen – vornehmlich aus der gehobenen Mittelschicht kommend – bevorzugen. Sie möchten nicht in festen Hierarchien arbeiten, sondern ihre Zeit frei einteilen und für individuelle Leistungen Anerkennung und Geld erhalten. Das Gefühl „etwas Besonderes zu tun“ ist für viele sinnstiftend und identitätsbildend zugleich.

Damit allerdings machen sie sich unfreiwillig zu Handlangern des Kapitalismus und merken nicht, wie anpassungsbereit sie in Wirklichkeit sind.

Das Lebens- und Erwerbsmodell der Kreativen hat mittlerweile auch andere Branchen erfasst und es spricht einiges dafür, dass diese Entwicklung sich weiter fortsetzen wird.