In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die Weltwirtschaft im Putin-Schock?
piqer:
Thomas Wahl
Paul Krugman widmet sich der Frage, wie sich der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Maßnahmen auf die Weltwirtschaft auswirken könnte. Sicherlich wird das ganze nicht ohne „Kosten“ und wirtschaftliche Folgen bleiben. Aber vermutlich keine ökonomische Kathastrophe hervorrufen:
My tentative answer is that it will be bad, but not catastrophic. Specifically, the Putin shock seems unlikely to be nearly as bad as the oil shocks that roiled the world economy in the 1970s.
Wie damals werden es die Verknappung wichtiger Rohstoffe und der daraus folgende Preisanstieg sein, die die Weltwirtschaft treffen. Rußland ist ein führender Exporteur von Öl, Gas und Getreide, die Ukraine eine wichtige Quelle für Weizen. Zu erwarten sind also Schockwirkungen auf die Energie- als auch auf die Lebensmittelpreise. Erstere sehen wir schon.
Und Krugman ist etwas überrascht von der hohen Preissteigerung dort. Eigentlich gelten ja die europäischen Sanktionen gegen Russland noch nicht für Öl- und Gasexporte. Die Vereinigten Staaten verbieten zwar Ölimporte aus Russland, aber das wird nicht so viel Gewicht haben. Amerika hat selber Öl und Gas und kann den Rest zukaufen. Russland wiederum kann diesen Anteil anderswo verkaufen:
Markets are nonetheless reacting as if supplies are going to be disrupted, either by future sanctions or because global energy companies, fearing a public backlash, are “self-sanctioning” their purchases of Russian crude. Indeed, Shell, which bought Russian oil at a discount the other day, has apologized and says it won’t do it again.
Dieser schnelle Anstieg wird vermutlich nicht so lange anhalten. Auch wenn der reale, inflationsbereinigte Ölpreis fast auf das Niveau gestiegen ist, das er während der iranischen Revolution 1979 erreicht hatte. Sicher ist Rußland ein wichtiger Ölproduzent. Aber es fördert nur etwa 11 Prozent der Weltproduktion. Das Ölkartell am Persischen Golf extrahierte in den 1970er Jahren immerhin ein Drittel des weltweiten Öls. Dazu kommt,
the world economy is much less dependent on oil than it used to be. Oil “intensity” — the number of barrels of oil consumed per real dollar of gross domestic product — is half what it was in the 1970s
Auch beim Erdgas gibt Krugman eine gewisse Entwarnung. Der Gasverbrauch ist stark saisonal und so hat Europa bis Ende des Jahres Zeit, Lösungen zu realisieren.
So könnte die Frage der Lebensmittelpreise den größten Schock verursachen. Nicht in den wohlhabende westlichen Ländern, die anteilig relativ wenig für Lebensmittel ausgeben.
For poorer nations, where food is a huge fraction of family budgets, the shock will be much more severe.
Auch für die Inflation und entsprechende Wirtschaftspolitiken erwartet Krugman keine katastrophischen Entwicklungen. Insgesamt konstatiert er:
the Russian shock to the world economy will be nasty, but probably not all that nasty. If Putin imagines that he can hold the world to ransom, well, that’s probably yet another fatal miscalculation.
Putins Krieg gegen die Ukraine bedroht die Lebensmittelversorgung
piqer:
Jürgen Klute
Dass Kriege auch wirtschaftliche Folgen haben, dürfte den meisten Leserinnen und Lesern klar sein. Manche Folgen, wie die Zerstörung von Kriegsgerät, Brücken, Schienen, Häusern, Fabriken etc. sind offensichtlich. Andere wirtschaftliche Folgen sind weniger direkt sichtbar. Um diese Folgen geht es in diesem Artikel von Verena Kainrath im Wiener Standard.
Genauer geht es um die Bedrohung der Lebensmittelproduktion durch den Krieg in der Ukraine. Nicht jedem und jeder ist bewusst, welche Rolle die ukrainische Lebensmittelproduktion weltweit spielt. Verena Kainrath führt diese Rolle in ihrem Artikel deutlich vor Augen:
Die Ukraine ist weltgrößter Exporteur von Sonnenblumenöl, viertgrößter Exporteur von Mais und siebentgrößter Exporteur von Soja und Weizen. Brechen Ausfuhren der Ukraine ein, führt dies auch zu einer Verknappung von Schweinefleisch, da Futtermittel rar werden.
Im Weiteren beschreibt sie, wie der Krieg die Lebensmittelproduktion beeinflusst und zum Einbruch bringt und welche konkreten Auswirkungen das bereits jetzt, aber auch für die nächsten Monate hat bzw. haben wird. Die Lebensmittelverknappung hat nicht nur Preissteigerungen zur Folge, sondern könnte auch Hungersnöte zur Folge haben.
Zum anderen skizziert Kainrath, welche politischen Diskussionen die Kriegsauswirkungen auf die Lebensmittelproduktion der Ukraine in der EU derzeit auslösen – bis hin zur Infragestellung der bereits auf den Weg gebrachten klimapolitisch erforderlichen Agrarreformen in der EU.
Wenn Sanktionen in Sippenhaft umkippen
piqer:
Dirk Liesemer
Im Großen und Ganzen finde ich die Sanktionspolitik sehr richtig. Ich bin auch davon überzeugt, dass sie wirken werden, aber sie sollten zielgenau und auf die Elite rund um Putin gemünzt sein sowie dessen Krieg möglichst erschweren.
Aber längst werden auch Künstler boykottiert, die sich noch nie groß zur Politik geäußert haben (womit hier nicht Valery Gergiev gemeint ist) oder behinderte Sportler, die nun nicht mehr bei der Olympiade mitmachen dürfen (dass es gleichwohl Sportler gibt, die Propaganda betreiben, wird hier nicht geleugnet). Sogar die Internationale Katzenförderation beteiligt sich an einem Boykott. Und die Liste ist hier noch keineswegs zu Ende. Was nützen solche Sanktionen? Sind sie überhaupt produktiv?
Alexander Kissler warnte in der NZZ schon kurz nach Kriegsbeginn vor einer Sippenhaft:
Die Frage, was den Westen ausmacht, stellt sich besonders in Kriegszeiten. Man kann darüber streiten, auf welchen Wegen die Ukraine am besten unterstützt werden kann, ohne einen globalen Flächenbrand auszulösen. Es gilt, Putin in die Speichen zu greifen. Ebenso unstrittig hat jeder Mensch das Recht, nach seinen tatsächlichen Handlungen und konkreten Äusserungen beurteilt zu werden und nicht nach seiner Herkunft. Kontaktschuld, Generalverdacht und Sippenhaftung sind mit den westlichen Werten nicht vereinbar.
Tatsächlich finden auch hierzulande längst Übergriffe auf Russen statt, etwa auf russische Lkw-Fahrer oder gegen russische Geschäfte.
Mittlerweile gibt es eine Art Wettrennen. Jeder will Verträge mit Russland aussetzen, was oft kaum noch begründet wird. So schreibt selbst die Deutsche Forschungsgemeinschaft lapidar auf ihrer Internetseite:
Die Solidarität gilt dabei sowohl den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Ukraine, die um ihr Leben und ihre Gesundheit fürchten und ihre Heimat verlassen müssen, als auch unseren langjährigen Kooperationspartnern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an russischen Forschungseinrichtungen, die über das Handeln der russischen Regierung selbst entsetzt sind.
Der Absatz wirft mehr Fragen auf, als der DFG vermutlich lieb ist. Nicht nur mir ist nicht klar, warum die Aussetzung von deutsch-russischen Kooperationsprojekten ein Zeichen der Solidarität sein soll. Immerhin haben sich fast 7000 russische Wissenschaftler öffentlich gegen Putins Krieg positioniert, was Haftstrafen nach sich ziehen kann. Oder weiß die DFG von russischen Forschern, die über den Krieg jubeln? Auch so etwas hat es schon in der Geschichte gegeben. Man denke an das „Manifest der 93“ von 1914. Und das wäre dann tatsächlich ein Grund die gemeinsamen Projekte nicht nur ruhen zu lassen, sondern sie ganz zu beenden.
Gepiqd habe ich einen kostenpflichtigen Text von Jürgen Kaube, der sich mit dieser Entscheidung der DFG auseinandersetzt. Kaube schreibt:
Es liegt auf der Hand, dass Wladimir Putin nicht durch die Aufkündigung von gemeinsamer Schwerionenforschung oder Studien zu Wanderungsbewegungen von Tieren zu beeindrucken ist.
Und er resümiert:
Trotz Putins verbrecherischen Angriffs Russe oder Russin zu bleiben, kann niemandem vorgeworfen werden. So gut es darum ist, wenn die DFG Ukrainern wie Russen, die ihre Länder verlassen müssen, Unterstützung anbietet, so zweideutig bleibt eine Sanktion, die keine Handlungen sanktioniert, sondern nur eine Zugehörigkeit.
Ich habe bei solchen Entscheidungen den Eindruck, dass es weniger um Russland oder Putin geht. Vielmehr will man dem hiesigen Publikum beweisen, dass man zu den Guten gehört. Und vermutlich fürchtet man einen entrüsteten Twittersturm, wenn man sich denn zu einer differenzierteren Position entschlösse. Dass die DFG dies nicht tut, sollte man ihr nicht als Stärke auslegen. Mut und Stärke haben hingegen die 7000 russischen Wissenschaftler bewiesen.
Lobenswerter als die DFG ist eine Entscheidung der Humboldt-Stiftung, hier nachzulesen. Sie teilt mit:
Der institutionelle und materielle Austausch mit Russland ist gestoppt, die Kommunikation wird jedoch fortgesetzt. Durch den Krieg oder aus politischen Gründen bedrohten Forschenden wird unbürokratische Unterstützung und Zuflucht geboten.
Kaubes lesenswerter, kurzer Text ist für ein paar Tage auch auf Blendle abrufbar.
In 10 Minuten verstehen, wie Oligarchen in UK Geld waschen
piqer:
Silke Jäger
Die Aktivisten-Gruppe Led by Donkeys (Geführt von Eseln) hat sich nach dem EU-Referendum gegründet und sorgt mit spektakulären Aktionen immer wieder für Schlagzeilen: großformatige Video-Installationen auf dem britischen Parlamentsgebäude, auf den weißen Klippen bei Dover oder auf fahrenden Autos. Ihre Mission: Die Lügen und leeren Versprechen der Politiker:innen aufdecken. Wer hinter der Gruppe steckt, war lange unklar – bis zu diesem Text, in dem sich die vier Gründer zum ersten Mal zu ihren Guerilla-Aktionen äußerten.
Ich empfehle hier ein Video der Gruppe, in dem der Journalist Oliver Bullough erklärt, wie leicht es ist, Geld in UK zu verstecken. Die Kernbotschaft: Wenn wir wollten, könnten wir das alle ganz leicht nachmachen. Damit möglichst viele Menschen von diesem Wissen profitieren können, fahren Led by Donkeys die Leinwand durch London und zeigen, wo genau man was tun muss: Wo die Briefkastenfirma am besten ansiedeln, wo sich am besten nach schönen Häusern umsehen, etc.
Anlass für den piq ist eine Debatte, die am Montag im britischen Unterhaus stattfand. Nach all den leeren Versprechen aus der Politik, es russischen Oligarchen schwerer machen zu wollen, diskutierte das Unterhaus endlich einen entsprechenden Gesetzesvorschlag. Hintergründe zum Problem gab es auch heute in der Zeit. Und vor einiger Zeit schon hier bei piqd.
Großbritannien hinkt bei Sanktionen gegen russische Oligarchen hinter anderen westlichen Ländern her – und auch bei der Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine.
Übers Klima sprechen in Zeiten des Krieges
piqer:
Daniela Becker
Meine Klimakrise-Philosophie war bis vor Kurzem, die Transformation ist nicht zu schaffen, aber man muss dennoch alles Menschenmögliche probieren.
Mit Beginn des Krieges denke ich nur noch: Das war’s. Nicht nur, dass der Krieg an sich ohne Ende Schäden an Natur an Klima anrichtet – und natürlich entsetzliches menschliches Leid. Dieser Krieg findet auch mitten in der letzten Dekade statt, die uns noch bliebe, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die Konsequenzen könnten dramatischer nicht sein.
Natürlich könnten Krisen theoretisch Katalysatoren zu einer besseren Welt sein. Nämlich, wenn wir konsequent den Weg gingen, den der vormals als „Rasen-auf-der-Autobahn-ist-Freiheit“ bekannte FDP-Vorsitzender Christian Lindner mit seinen „Freiheitsenergien“ aka Erneuerbaren Energien angedeutet hat.
Aber, nicht nur dass ich es als absurd zynisch empfinde, aus dem Leid der vielen Ukrainer:innen, die ihre Heimat verlieren oder sterben werden, so etwas wie Zukunftszweckoptimismus abzuleiten – es scheint mir auch naiv. Wir haben es ja nicht mal geschafft, die Corona-Pandemie – die im Vergleich zur jetzigen Krise harmlos war – halbwegs organisiert zu bewältigen.
Was hatten wir Hoffnungen! Auch bei Klima wandeln haben wir eine ganze Reihe zur Weggabelung verfasst, an der wir uns befanden; über die Dinge, die sich hätten ändern können und müssen. Im Rückblick bleibt mir nur Ernüchterung. Nach kurzer Zeit war die Luftbelastung und Treibhausgasemissionen wieder hoch wie zuvor, die Autoverkaufszahlen angestiegen, der Flugverkehr wieder auf „normalem“ Niveau. Der Green New Deal ist spätestens mit der Taxonomie nur noch eine Worthülse.
Zwei Jahre nach dem Corona-Ausbruch stehen wir wieder an einem historischen Scheidepunkt. Und es gibt aus meiner Sicht keinen Grund zur Hoffnung. Ich weiß nicht, was exakt passieren wird. Energiepolitische Interpretationen sind im Moment lediglich Kaffeesatzleserei. Aber ich kann Indizien interpretieren: Die Ewiggestrigen bringen sich in Stellung. Sie werden versuchen, die Welt zurückzudrehen, um ihre Pfründe zu schützen und uns damit alle in den Abgrund reißen. Über Nacht wurde in Deutschland ohne weitere Debatte ein milliardenschweres Militärbudget verabschiedet. Für Klimaschutz, Energiewende und soziale Abfederung der Transformation war dieses Geld nicht freigemacht worden.
Die Errichtung von LNG-Terminals wurde „versprochen“, ohne darüber zu reden, ob diese überhaupt in einem sinnvollen Zeitraum zu errichten sind, um die aktuell drohende Energiekrise abzufedern. Über die Reaktivierung von Kohlekraftwerken wird geredet – ohne jedwede zeitliche Limitierung solcher Maßnahmen.
Andreas Politiker Pinkwart ruft die Netzagentur zur Überprüfung des Kohleausstiegs auf. Manuela Schwesig trötet ohne Scham und noch immer ohne sonderlichen Widerspruch aus der eigenen Partei das Lied des angeblichen Friedensprojekt Nordstream 2, obwohl ihre Rolle im Rahmen der „Klima-Stiftung“ mindestens nach einem Untersuchungsausschuss schreit. Eon wehrt sich gegen die Idee, Nord Stream 1 aufzugeben.
Dass ausgerechnet Robert Habeck, der diese schwere Last von Peter Altmaier, Angela Merkel und einer energiepolitisch völlig fehlgeleiteten großen Koalition geerbt hat, jetzt womöglich Kohlekraftwerke in Deutschland reaktivieren muss, macht mich persönlich richtig wütend. Habeck nimmt das Krisenmanagement mit großer Ernsthaftigkeit an. Nicht auszudenken, was im Moment noch am Horizont stehen könnte, wenn die Fossil-Lobbyisten und Windkraftgegner, die jahrelang die Energiewende verhindert haben, weiterhin direkten Zugriff auf das Wirtschaftsministerium hätten.
Aber: Keine ideologische Denkverbote dürfe es geben, sagte Minister Habeck. Sein Ministerium lasse längere Laufzeiten für Atomkraftwerke prüfen. Natürlich macht er das, der Mann ist ja nicht blöd. Das Ergebnis wird wie immer das gleiche sein: Der Strom, den die Laufzeitverlängerung der AKW brächte, nutzt uns nicht signifikant. Und alle mit ein bisschen Sachverstand wissen das.
Woran es fehlt, ist Wärmeenergie, um Häuser zu heizen, um Industrieprozesse am Laufen zu halten und Gas, um Schwankungen im Strombereich auszugleichen. Ein Bereich, der bei der Energiewende jahrelang sträflich vernachlässigt wurde. Das rächt sich nun.
Mal ganz davon abgesehen, dass die Forderungen nach der „zivilen Nutzung von Atomkraft“ – während Russland mit einem Atomkrieg droht, die Strahlung um die AKW-Ruine Tschernobyl aufwirbelt und russische Truppen in der Nähe jedes ukrainischen AKWs oder Atommülllagers eine Bedrohung darstellen – schon eine bemerkenswerte kognitive Dissonanz darstellt.
Das eigentliche Problem ist aber, dass es sehr wohl ideologische Denkverbote gibt. Denn worüber politisch nicht gesprochen wird: Energie sparen, Tempolimit, autofreie Tage und Wochen, etwaige Strom- und Wärmeenergiebezugskürzungen für Industrie, aber auch private Haushalte, um sich kurzfristig von der Abhängigkeit von russischem Gas, Kohle und Öl freizumachen. Natürlich ginge das: Versorgungssicherheit bedeutet nicht, dass Energie im Überfluss bereitzustehen hat. Aber diese Gedanken gab es nicht in der Sondersitzung des Bundestags.
Doch nicht einmal die Grünen haben solche Vorschläge auf den Tisch gebracht. Und so kaufen wir weiter Öl und Gas aus Russland und finanzieren damit nicht nur einen brutalen Angriffskrieg, sondern auch die Klimakatastrophe.
Ich schreibe diesen pessimistischen Text in vollem Bewusstsein, dass man so was nicht schreiben sollte. Aber ich bin nur ein Mensch, ein sehr deprimierter. Deswegen piqe ich hier diesen Text von Christopher Schrader, Autor des Handbuch Klimakommunikation, der sich sehr ausführlich damit beschäftigt hat, wie man besser über Klimaschutz spricht. Auch in Zeiten des Krieges.
Mit EU-Kohäsionsfonds den Gesundheitssektor stärken
piqer:
Jürgen Klute
Sozialpolitik ist für die EU ein kompliziertes Thema. Denn die Mitgliedsstaaten haben sich vorbehalten, diesen Politikbereich im eigenen Zugriff zu behalten. Sozialpolitik gehört folglich zu den so genannten geteilten Kompetenzen. Mit etwas Phantasie lässt sich aber auch in diesem Politikbereich etwas auf der EU-Ebene bewegen. Das zeigt das Europäische Parlament (EP). Es hat einen legislativen Initiativbericht ausgearbeitet, mit dem das EP gesundheitliche Ungleichheiten innerhalb der EU bekämpfen will. Amalie Holmgaard Mersh hat für Euractiv ein Interview mit Tomislav Sokol geführt, dem verantwortlichen Berichterstatter dieser Gesetzesinitiative des EP.
In den letzten Jahren wurde die Gesundheitspolitik zwar schon ein ganzes Stück auf EU-Ebene vernetzt, so dass EU-Bürgerinnen mittlerweile recht unkompliziert auch Gesundheitsdienstleistungen in anderen EU-Ländern in Anspruch nehmen können. Das EP will diese Entwicklung aber weiter intensivieren. Da die im Rahmen des EU-Programms „EU4Health“ zur Verfügung stehenden Mittel dafür aber bei weitem nicht ausreichen, will das EP EU-Kohäsionsfonds zukünftig auch für den Ausbau von Gesundheitsdienstleistungen nutzen – nicht zuletzt auch deshalb, um die Abwanderung von jungen Ärztinnen und Ärzten (Brain-Drain) aus osteuropäischen in westeuropäische Länder zu stoppen. Wie das EP sich das vorstellt, erklärt MdEP Tomislav Sokol in diesem Interview.
Es bleibt allerdings abzuwarten, ob und wie erfolgreich das EP mit dieser Gesetzesinitiative sein wird. Der Bericht richtet sich an die EU-Kommission und fordert diese auf, einen Gesetzesentwurf im Sinne dieses legislativen Initiativberichts des EP auszuarbeiten und auf den EU-Gesetzgebungsweg zu bringen. Zwischenzeitlich wurde allerdings bekannt, dass die EU-Kommission beabsichtigt, EU-Kohäsionsfonds zur Unterstützung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen umzuwidmen, wie Euractiv am 04.03.2022 berichtete – also wenige Tage nach der Veröffentlichung des hier empfohlenen Artikels.
Mehr Bildungsgerechtigkeit wagen – klappt wie?
piqer:
Anja C. Wagner
Zum Abschluss des Internationalen Frauentages empfehle ich diese halbstündige Ausgabe der Bauerfeind-Show zur Evergreen-Frage: Was heißt heute Bildung?
Vorab: Die Frage wird nicht abschließend beantwortet, da hier lediglich auf die schulischen Säulen geblickt wird. Aber dies wirklich gut und unterhaltsam. Das liegt nicht zuletzt an den beiden Gästinnen: Marina Weisband und Diana Kinnert.
Beide sehr eloquent, sich gut ergänzend und zukunftsorientiert, wäre es wirklich hilfreich, wenn diese Sendung von vielen Zuschauer:innen auch und vor allem aus dem Nicht-Bildungssektor geschaut würde, um ein authentisches Gefühl zu entwickeln, was eigentlich verändert werden müsste und könnte im Schulsektor:
- Was benötigen junge Menschen, um sich selbst entfalten und ihre Talente entdecken zu lernen?
- Und welcher Rahmenbedingungen bräuchte es, um dorthin zu gelangen?
Viele gute Antworten zeigen sie in dieser Sendung gut verständlich auf.
Kompetenz-Framework
Kommunale Räume
Schließlich bringt Marina ein schönes neues Schlagwort ins Spiel:
Die Volkshochkneipe
Auch ich denke, die zunehmend verlassenen Innenstädte ließen sich gut über flexible Bildungshäuser (die nicht so heißen dürfen) neu gestalten. Zur erquicklichen Unterhaltung und Vernetzung der jungen wie alten Bevölkerung, als außerschulischer Lernort ebenso wie als Anlaufpunkt für vielfältige Kurse, zivilgesellschaftliche Gruppen oder Makerspaces.
Dies als „Kneipe“ zu bezeichnen, wäre sicherlich ein Coup – dort finden sich zumindest die Deutschen sicherlich gerne immer wieder ein. Solange auf maximale Diversity gesetzt wird und weniger Angebots-Nachfrage-Denken vorherrscht, könnte hier ein neuer demokratischer Marktplatz der Ideen und Weiterentwicklung entstehen.
So utopisch wie es in Katrin Bauerfeinds Ohren klingt, ist dies gar nicht: In Lübeck hat die Stadt bereits das leere Karstadt-Gebäude gekauft und bringt dort zunächst Schulklassen unter, aber soweit mir berichtet wurde, sollen dort bald auch Hochschulabteilungen und sonstige Bildungsakteure einziehen. Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung!
Also, alles in allem: Große Empfehlung zur Ansicht dieses Videos in der Mediathek (verfügbar bis 13.10.2022). Es ist auch so erfrischend, drei dynamische Frauen im konstruktiven, unterhaltsamen Austausch zu erleben. Bitte mehr davon!
Verstärkt Erben wirklich die soziale Ungleichheit?
piqer:
Thomas Wahl
Ab und zu sollte man auch geglaubte Gewissheiten mal infrage stellen. Es stimmt:
Jahr für Jahr werden riesige Summen verschenkt und vererbt, umverteilt von “oben” nach “unten” wird davon nur wenig. Das gilt besonders für Österreich, wo es keine Erbschaftsteuer gibt. Es gilt aber auch für Deutschland, wo Schätzungen zufolge zuletzt bis zu 400 Milliarden Euro im Jahr vererbt oder verschenkt wurden, der Staat aber nur 8,5 Milliarden Euro an Erbschaft- und Schenkungsteuer erhielt. Die Tabaksteuer brachte im selben Jahr 14,7 Milliarden Euro. Deutschlands Erben tragen weniger zur Staatsfinanzierung bei als Deutschlands Raucher.
Aber komplexe Systeme verhalten sich oft kontraintuitiv. Und so stellen sich Ökonomen immer wieder die Frage: Wie viel kann man mit einer Erbschaftssteuer im Kampf gegen die soziale Ungleichheit wirklich erreichen?
Zwei neue Studien, aus Australien und Norwegen, geben nun grundsätzlich zu denken, ob die Erbschaftsteuer überhaupt etwas gegen die Ungleichheit in einer Gesellschaft ausrichten kann. Beide Studien verfolgen einen ähnlichen Ansatz. Sie schauen, welches Gewicht im Verhältnis zu den sonstigen Vermögen die Erbschaften überhaupt ausmachen.
In diesen Ländern gibt es schon länger keine Erbschaftssteuern mehr – in Australien seit 1979, in Norwegen seit 2014.
Und die Australier z. B. übertrugen in den vergangenen zwei Jahrzehnten Vermögen im Gesamtwert von etwa 1,5 Billionen Dollar – 90 Prozent davon als Erbschaften.
Gemessen an der Höhe des bereits vorhandenen Vermögens, erhielten die weniger wohlhabenden Menschen im Durchschnitt einen viel größeren Zuwachs durch Erbschaften. Bei den ärmsten 20 Prozent war er etwa 50-mal so hoch wie bei den reichsten 20 Prozent. “Vermögenstransfers verringern also tendenziell den Anteil des Vermögens der reichsten Australier”, hieß es. Und diese Entwicklung werde sich wahrscheinlich fortsetzen.
Ähnliches lässt sich für Norwegen sagen. Dort kommt noch die für empirisch arbeitende Ökonomen hervorragende Datenlage hinzu. Individuelle Steuererklärungen sind in Norwegen seit Anfang des 19. Jahrhunderts öffentlich. Man kann also flächendeckend über einen langen Zeitraum analysieren, in welchem Verhältnis Erbschaften zu den Arbeitseinkommen oder zu staatlichen Transferzahlungen stehen. Die Analyse umfasste allerdings nur die Jahre zwischen 1995 und 2013, bezog aber die gesamte Bevölkerung ein.
Das durchschnittliche Nettovermögen der Norweger lag 2013 bei umgerechnet 176 000 Euro. Der Wert ihres bis zu dem Zeitpunkt verdienten Arbeitseinkommens nach Steuern betrug im Schnitt etwa 1,04 Millionen Euro, die Transfers nach Steuern lagen bei 266 000 Euro, der Wert der erhaltenen Geschenke und Erbschaften bei 45 000 Euro. Schenkungen und Erbschaften machen im Durchschnitt also nur zwei bis fünf Prozent des Gesamteinkommens aus. Als die Forscher simulierten, wie die norwegische Einkommens- und Vermögensverteilung aussehen würde, wenn es keine Schenkungen und Erbschaften gäbe, stellten sie fest, dass sie im Wesentlichen unverändert wäre. Ihr Fazit: Für die Vermögensverhältnisse im Land spielen Erbschaften keine große Rolle.
Wie in Australien liegt das daran, dass die meisten Menschen ihre Erbschaft meist spät im Leben antreten. Der Lebenslauf, die Karrieren sind also schon über dem Höhepunkt.
Eine höhere Besteuerung der Erbschaften, meinen die Forscher, würde kaum zur Verringerung der ungleichen Vermögensverteilung beitragen. Dafür wirkten sich die Erbschaften einfach zu wenig auf die finanziellen Möglichkeiten der Menschen im Laufe ihres Lebens aus.
Was natürlich insgesamt noch kein Plädoyer gegen eine vernünftige und einfach zu handhabende Erbschaftssteuer ist. Solange dabei die Besteuerung von zu vererbenden Betriebsvermögen nicht zur Destabilisierung der Familienunternehmen führt.
OP-Roboter übertrifft die Leistung seiner menschlichen Pendants
piqer:
Ole Wintermann
Ein Team von Forschenden der John Hopkins University hat einen Roboter einen chirurgisch komplizierten Eingriff (an 4 Schweinen) vornehmen lassen. Bei diesem minimalinvasiven Eingriff war es Aufgabe der Roboter, mit den Instrumenten dieser Art von Eingriffen die beiden Ende des Darms miteinander zu vernähen. Das Vernähen der Darm-Enden gehört nach Angaben des Teams zu den herausforderndsten Eingriffen in der Chirurgie, da es einerseits einer extrem hohen Präzision des Chirurgen bedarf und es andererseits bei einer nicht optimalen Vernähung zu lebensbedrohlichen Folgen für die Patienten kommen kann.
Mit Hilfe Machine Learning basierter optischer Systeme und den modernsten Instrumenten zur Vernähung hat der Roboter den Eingriff nicht nur mit minimaler menschlicher Unterstützung (der Text geht darauf leider nicht weiter ein) vollzogen; die Ergebnisse der insgesamt vier Operationen haben zudem die Qualität des menschlichen Chirurgen übertroffen.
Wir sollten – aus meiner Sicht – die roboterbasierten Potenziale im Gesundheitswesen sehr viel stärker in die Debatte um das Gesundheitswesen mit einbeziehen. Erstaunt hat mich jedoch die Aussage des Projektverantwortlichen:
„We hypothesize that this will result in a democratized surgical approach to patient care with more predictable and consistent patient outcomes.“
Ob mit dieser Aussage die sozial diskriminierende Auswirkung des kostenintensiven US-Gesundheitssystems oder einfach die Gleichbehandlung in allen Operationen gemeint war, wurde im Text leider nicht deutlich.