Fremde Federn

Privatisierung von Depressionen, Jobboom, No-Deal-Brexit

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Donald Trump das Silicon Valley demontiert, was für eine Rolle unser Wirtschaftssystem bei der Entstehung von Depressionen spielt und warum der E-Sport die nächste große Blase sein könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Trump & Co.: Wie Rechtspopulisten die Wirtschaft ruinieren

piqer:
Gunnar Sohn

Professor Lutz Becker, Studien-Dekan der Hochschule Fresenius in Köln, hat auf Facebook eine wichtige Frage gestellt: „Merkt eigentlich niemand, dass Figuren wie Trump, Johnson, Strache & Co. reinstes Gift für die Wirtschaft sind?“ Da ist was dran. In der Sendung #9vor9 kritisierte ich die Entscheidung von Google, sich in den Trump-Handelskrieg gegen China reinziehen zu lassen und Huawei die Verwendung des Android-Betriebssystems zu untersagen.

Jens-Uwe Meyer geht in seiner Manager-Magazin-Kolumne noch einen Schritt weiter: Die nationalistisch geprägte Einwanderungs- und Handelspolitik von Donald Trump schadet der Wirtschaft:

„Viele der erfolgreichen Silicon-Valley-Gründungen sind in den vergangenen Jahren von Immigranten gegründet oder mit aufgebaut worden. Dem chronischen Mangel an qualifizierten Entwicklern begegnen die USA dadurch, dass sie – wie es die ‚Washington Post‘ formulierte – den Markt für qualifizierte Einwanderer erobert haben.“

Der US-Präsident demoliert diesen wichtigen Faktor für die ökonomische Prosperität seines Landes. Ohne die Chinesen und ohne Huawei wird es bei den neuen technologischen Themen wie 5G nicht gehen. Das Silicon Valley, der Innovationstreiber der Digitalisierung, könnte der große Verlierer sein, wenn Trump so weitermacht. Meyer meint:

„Aktuell deutet alles darauf hin, dass Asien – allen voran Südkorea und China – die technologischen Zukunftsfelder maßgeblich besetzen wird. Vielleicht wird es in zwanzig Jahren im Silicon Valley ein Museum geben, in dem die einstige Größe der Region dargestellt wird. Bevor die weltweit klügsten Köpfe verschreckt wurden, bevor das Tal in die technologische Rückständigkeit verfiel… Manche sagen, Donald Trump sei nur wie ein bellender Hund. Er meine es gar nicht Ernst, er wolle nur spielen. Dummerweise ist es ein gefährliches Spiel mit der Zukunft des Silicon Valley.“

In Deutschland sollten wir uns in diesen Protektionismus nicht reinziehen lassen. Wandel durch Handel.

Wider die Privatisierung von Depressionen

piqer:
Charly Kowalczyk

Gesetzliche Krankenkassen stellen einen ständigen Anstieg von psychischen Krankheiten fest. Gründe dafür gibt es bekanntlich viele. Die Autorin und der Autor des Radiofeatures setzen sich vor allem gesellschaftspolitisch mit Depressionen und Suiziden auseinander. Ein nachdenklicher Beitrag. In gewisser Weise ist es auch ein intensiver Ruf an die Hörerinnen und Hörer, dass es doch schlicht zu einfach wäre, seelische Erkrankungen hauptsächlich als individuelle Leidensgeschichte zu sehen.

Die Autoren stellen in ihrem Beitrag  den „Neoliberalismus“ bzw. den „Turbokapitalismus“ bei der Entstehung von psychischen Krankheiten in den Mittelpunkt. Was geschieht mit Menschen, wenn Stress privatisiert wird? Was kannst du dafür, wenn deine Seele leidet: durch hohes Arbeitsaufkommen, Gehaltskürzungen oder dem ständig drohenden Verlust des Arbeitsplatzes? Welche Folgen hat es, wenn du plötzlich aus deinem Kiez ziehen musst, weil du die Miete nicht mehr bezahlen kannst? Oder wenn du von einem Job zum anderen wechseln musst, um dein Überleben zu sichern?

Viele, die unter psychischen Krankheiten leiden, leben in Armut, heißt es in der Sendung. Und: Therapeutinnen und Psychiater würden viel zu selten nach gesellschaftlichen, systemischen Ursachen der Erkrankung fragen. Die meisten würden die sozialen Ursachen bei der Entstehung von Depressionen einfach nicht berücksichtigen. Vielleicht kann man es lax formulieren: Wenn du kein Geld und keinen Job hast, hilft es auch nicht wirklich, Antidepressiva einzunehmen.

Die Autoren offenbaren, dass sie selbst Depressionen und Selbstmordgedanken kennen, sie erzählen ganz unprätentiös davon. Das verleiht dem Stück zusätzliche Tiefe. Ein nachdenkliches und gut inszeniertes Hörfunkfeature. Sehr hörenswert.

EU-Förderung, Euro und Soziale Gleichheit – EU-BürgerInnen ziehen eine Bilanz

piqer:
FEATVRE – Die besten Dokus online

Wie ist es um die Soziale Gleichheit und die Zufriedenheit in den EU-Mitgliedsstaaten bestellt? Diese Politik-Doku begibt sich auf eine Reise durch die EU-Länder und stellt dabei die Frage nach EU-Förderung, Euro-Stabilität, Arbeit, Lebensstandard und Freizügigkeit.

Die Idee der Europäischen Union zeichnet sich vor allem durch Solidarität und gegenseitige Unterstützung aus. Die Vergabe von EU-Fördergeldern ist jedoch alles andere als gleichmäßig. Oftmals werden europäische Metropolen im Städtebau und in der Kulturförderung zwar großzügig unterstützt, jedoch haben ländlichere und ärmere Gegenden das Nachsehen wie beispielsweise in Bulgarien. Die Verteilung der Gelder wird meistens von den jeweiligen Staatsregierungen bestimmt und nicht von der EU.

Zusätzlich macht die Eurokrise vielen EU-BürgerInnen immer noch zu schaffen und die Arbeitslosigkeit ist in vielen Ländern weiterhin hoch. Die Doku zeigt ein paar dieser „Wirtschafts-Verlierer“: Italienische Anwälte, die Schuhe putzen oder ehemalige FabrikarbeiterInnen, die auf der Straße arbeiten. Die Freizügigkeit und Mobilität innerhalb der EU stehen jedoch weiterhin für die großen Vorteile der Union. Dank ihr können Arbeitskräfte sich frei zwischen den Staaten bewegen, wovon auch die Unternehmen profitieren.

Fakt ist: Der wirtschaftliche Erfolg fällt innerhalb der EU leider noch sehr unterschiedlich aus. Um sie zu einem Ort sozialer Gleichheit und Zufriedenheit zu machen, muss aber noch viel passieren. Das Potential ist auf jeden Fall vorhanden.

Überraschung – in der OECD boomt der Jobmarkt

piqer:
Thomas Wahl

Wer kennt sie nicht, die Klagen über die Arbeitslosigkeit im reichen Kapitalismus, über schlechte Arbeit und eine noch düstere Zukunft. Und nun titelt der „Economist“: Across the rich world, an extraordinary jobs boom is under way. Was ist da dran?

Across the OECD a jobs bonanza is under way. In the past five years the group has added 43m jobs. The unemployment rate—the number of people looking for work as a share of the total labour force—is at its lowest in decades (see chart 1). Not every member can celebrate. Unemployment in Italy, Spain and Greece remains higher than before the financial crisis of 2008-09. America’s rate of labour-force participation is still well off its all-time high. But most can. In 2018, the employment rate among people of working age was the highest ever in Britain, Canada, Germany, Australia and 22 other oecd countries.

Und der Aufwärtstrend steht wohl auf einer breiten Basis – er wirkt positiv auch für die Jugend, für Niedriglöhner und Teilzeitarbeiter. Auch die steigende Bedeutung prekärer Arbeit wird, statistisch belegt, in Frage gestellt. Mit der fallenden Arbeitslosigkeit steigen außerdem die Löhne.

Verantwortlich wird ein ein Puzzle von Faktoren gemacht, aber auch eine zyklische Bewegung der Volkswirtschaften. Wir werden sehen, ob die folgende Prognose stimmt:

Yet the lesson of the past half-millennium is that technological change complements jobs rather than destroys them. Sky-high employment rates today suggest that nothing has changed. And there is plenty of evidence pointing in the direction of more improvements. The current period of economic expansion seems to have further to go.

Nichts ist unmöglich …

Was bedeutet die Wiederwahl von Narendra Modi und seiner Hindu-Nationalisten?

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Dirk Liesemer

Es sei ein Bruch mit der Geschichte Indiens, bringt Willi Germund in der FR die Ergebnisse der Wahlen in Indien auf den Punkt. Erstmals ist auf dem Subkontinent, der größten Demokratie der Welt, ein Premierminister wiedergewählt worden, der nicht der sozialliberalen und säkularen Kongresspartei angehört. In einem nicht allzu langen Video erklärt der Economist, wie die Hindu-Nationalisten zuletzt brutale Übergriffe auf Minderheiten und einen Terrorangriff für ihre Politik zu nutzen wussten. Offen sei gleichwohl, ob Modi, der vor einigen Jahren noch als Modernisierer gewählt wurde, fortan mit einem zunehmend nationalistischen Kurs das multireligiöse Indien spalten wird. Oder ob er sich auf die säkularen Traditionen besinnt. Insgesamt legt das Video den Schluss nahe, dass man nicht allzu zuversichtlich sein sollte.

Brexit-Kurs: No Deal

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Silke Jäger

Es stimmt schon: Mit Theresa May als Premierministerin ging es inzwischen weder vor noch zurück. Der totale Stillstand. Viele haben sich also den Tag ihres Rücktritts herbeigesehnt. Nun wird sie Downing Street am 7. Juni verlassen. Aber die Frage ist: Was kommt dann? Mehr Bewegung in den Brexit? Endlich ein tragfähiger Kompromiss, der es durchs Parlament schafft?

Danach sieht es leider überhaupt nicht aus. Eher muss man damit rechnen, dass sich die Möglichkeiten verengen: No Deal oder Remain. Für die Torys macht es inzwischen wenig Sinn, jemanden an die Spitze zu stellen, der den Kompromiss sucht. Die Partei, die versprochen hatte, den Brexit auszuliefern, ist daran gescheitert. Und die Basis denkt, das liegt eher an zu hoher Kompromissbereitschaft als an zu geringer.

Vor allem jetzt, da die Brexit-Partei großen Druck macht, wünschen sich viele eher jemanden, der entschlossen durchzieht, was May ihrer Meinung nach nur halbherzig angegangen ist. Geben sich die Torys jemanden, der nicht ganz klar pro-Brexit ist, laufen sie Gefahr, von Farages Brexit-Partei gefressen zu werden. Zumindest sieht es momentan so aus, wenn man den Umfragen glaubt.

Doch ein neuer Parteichef oder eine neue Chefin kann nicht auf einen neuen Deal hoffen. Einen anderen als den aktuellen wird es mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht geben. Und Artikel 50 einfach zurückziehen, nach drei Jahren großspuriger Ankündigungen und Kriegsrhetorik gegen die EU? Dazu ist die Stimmung zu aufgeheizt derzeit.

Mit Mays Rückzug steuert Großbritannien nun hart auf No-Deal-Kurs. Der Politikwissenschaftler Bertholt Rittberger erklärt in diesem Interview genau, wie die Logik dahinter aussieht.

Der witzigste, gemeinste, am besten informierte Text zur EU-Wahl, den ich gelesen habe

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Rico Grimm

Dieser Text ist VOR der Wahl erschienen und trotzdem ist noch jede Zeile lesenswert (nur das mit der Wahlbeteiligung stimmt nicht mehr). Ryan Heath, der jeden Morgen einen EU-Newsletter schreibt, stellt hier, augenzwinkernd, die 12 Menschen vor, die die Wahlen zum Europäischen Parlament „ruiniert“ haben. Darunter sind unter anderem Helmut Kohl, die großartige Simone Veil, Mark Zuckerberg, aber auch ein ehemaliger belgischer Premierminister, dessen Name völlig unbekannt ist, die Wahlen für Belgien aber… ähh… zu einem Nebenschauplatz gemacht hat. Also, wie gesagt, hier geht es nicht um die Ergebnisse der Wahl, aber um die ganzen vermeintlich kleinen Nebensächlichkeiten, die Punkt für Punkt noch immer aktuell sind, Stichwort „Demokratische Legitimität“.

Ist der E-Sport die nächste große Blase?

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Sonja Wild

E-Sport ist ein gigantisches Geschäft mit riesigen Turnieren, enormen Preisgeldern und Millionen von Fans. Er ist aber auch: eine gewaltige Geldverbrennmaschine.

Das jedenfalls sagt Cecilia D’Anastasio im verlinkten Feature, das ernüchternde Einblicke in die kommerzielle Welt des E-Sports eröffnet. Es scheint eine Mischung aus überzogenen Erwartungen, intransparenten Zahlen und einer Art Wettrüsten bei den Investitionen zu sein, die eine E-Sport-Blase genährt hat, die irgendwann platzen könnte.

Für die Sponsoren der Teams ist E-Sport wahnsinnig teuer: Allein die Lizenzgebühren an die Unternehmen hinter Spielen wie Overwatch oder League of Legends liegen meist im zweistelligen Millionenbereich. Dazu kommen enorme Aufwendungen für die Gehälter der Spieler, Preisgelder, Ausgaben für Marketing und so weiter.

Das alles wäre kein Problem, wenn dem entsprechende Einnahmen entgegenstünden – doch laut den Recherchen von D’Anastasio wird im E-Sport fast überall defizitär operiert, er ist für viele Investoren eine teure Wette auf die Zukunft. Sogar für die Studios ist fraglich, ob sich der Aufwand eigener Ligen und Turniere lohnt, ob etwa die Fans deshalb mehr Zeit und Geld in ihr eigenes Spiel investieren.

Vor allem aber ist es schwer bis unmöglich, an verlässliche und vertrauenswürdige Zahlen zu gelangen. Von Ungenauigkeiten in der Methodik bis hin zu Manipulation reicht hier die Kritik – in einem Geschäft, das damit wirbt, dass es teils mehr Zuschauer hat als große Sport-Events und in dem mit quantifizierbarer Aufmerksamkeit Geld verdient wird, ist das mehr als bedenklich.

Ein zahlenlastiger, detailverliebter und hochinteressanter Longread, der nicht am E-Sport selbst zweifelt, sondern an der Nachhaltigkeit seines derzeitigen Geschäftsmodells:

“There’s a lot of money going in,” said Fields, “and not a lot of money going out.”

Vielleicht muss diese Blase wirklich erst platzen, damit es ein Umdenken gibt.