Fremde Federn

Postneoliberalismus, Freizeit als Währung, bewusstes Einkaufen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Die postneoliberale Gesellschaft nimmt Gestalt an, warum China so nicht weiter wachsen kann und wieso der Tarifabschluss in der Metallindustrie (nicht) der Einstieg in die Vier-Tage-Woche ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die postneoliberale Wirtschaft nimmt Gestalt an

piqer:
Georg Wallwitz

Der Neoliberalismus ist schon länger tot, aber die Frage, was an seine Stelle als die dominierende Wirtschaftstheorie tritt, war lange Zeit offen. Seit dem Amtsantritt der Regierung Biden scheint es eine Antwort zu geben: Protektionismus und staatliche Lenkung sind wieder OK, schuldenfinanziertes Wachstum ebenfalls und die enorm profitablen Technologie-Unternehmen sollen nun endlich spürbar besteuert werden. Seit Dezember hat die US-Regierung 2.800 Milliarden Dollar ausgegeben, um die Wirtschaft zu stützen oder nach den neuen politischen Präferenzen umzubauen.

Europa wird in Bidens Fußstapfen nachfolgen. Das Corona-Budget der EU in Höhe von 750 Milliarden Euro wird erst der Anfang sein. Auch in Europa wird es darum gehen, die eigene Infrastruktur, die eigenen technologischen Standards und die eigenen Finanzplätze vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Auf das globale Dorf folgt, anscheinend, die regionale Festung.

Der Artikel im New Yorker liest sich wie ein Nachruf auf Larry Summers, den letzten Vertreter der globalisierten Elite.

Warum China so nicht weiter wachsen kann

piqer:
Christian Odendahl

Eine ökonomische Kennzahl, die zum politischen Ziel erhoben wird, ist meist keine sinnvolle ökonomische Kennzahl mehr. Diese allgemeine Erkenntnis trifft dieser Tage auch auf China und sein BIP zu: Lange war ökonomisches Wachstum das Hauptziel der chinesischen Regierung, unter anderem, um sich selbst zu legitimieren. Das Resultat war, wie dieser Artikel schreibt, die spektakulärste ökonomische Aufholjagd, die die Welt je gesehen hat: 9.5%, in Worten: neunkommafünf Prozent, Wachstum pro Jahr über 40 Jahre.

Doch die Nebenwirkungen nehmen überhand. Denn um das Wachstumsziel zu erreichen, kann man auch Löcher buddeln und wieder zuschütten – eine Steigerung des BIP ohne irgendeinen Wert. Oder Schuldenberge auftürmen, um lokale Infrastruktur zu bauen. Der Artikel beschreibt zudem, dass einem wohlhabenderen Land und seiner Gesellschaft Wachstum allein nicht mehr reicht. Doch mit immer mehr Zielen kommt eine halbstaatliche Planwirtschaft an ihre Grenzen.

In the 1980s, township leaders were only assigned six targets, with economic targets taking up the lion’s share of evaluation points, all packed into one page. By 2009, the list had ballooned to more than 140 granular targets.

Was man sich nach dem Lesen dieses exzellenten Artikels fragt: Vielleicht ist die Angst vor dem unaufhaltsamen Aufstieg Chinas doch übertrieben? China hat eindrucksvoll gezeigt, was ein Land schaffen kann, das staatlich verordnete (und kontrollierte) Marktwirtschaft ins Zentrum seines politischen Schaffens stellt. Aber der nächste Sprung, eine innovative Volkswirtschaft an der Spitze der Entwicklung zu werden, ist sehr viel komplexer und mit dem bisherigen chinesischen Ansatz eventuell unvereinbar. Was ein ökonomisches Scheitern Chinas politisch zur Folge haben könnte, wäre dann die nächste und etwas beängstigende Frage.

Weg in die Vier-Tage-Woche? Der Tarifabschluss in der Metallindustrie

piqer:
Michael Hirsch

Nach langen Verhandlungen und Warnstreiks in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld kam es letzte Woche zu einem Tarifabschluss für die Metallindustrie. Der Abschluss regelt nicht nur die Entgelte und Arbeitszeiten für eine gewisse Zeit, er eröffnet auch eine Reihe von Spekulationen und Deutungskonflikten. Der Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt daher zurecht: „Tarifrunden haben eine Eigenart: Das Ergebnis muss hinreichend kompliziert sein. Komplexität eröffnet einen Deutungsspielraum, den Arbeitgeber wie Gewerkschafter für sich nutzen können.“

Die Deutung, für die sich der Kommentar dann entscheidet, schreibt dem Abschluss eine positive Modellfunktion für die Zukunft zu: den Weg zu einem Einstieg in die Vier-Tage-Woche:

Schon beim vorangegangenen Abschluss 2018 haben die Tarifparteien vereinbart, Mitarbeiter wählen zu lassen zwischen einer Sonderzahlung und zusätzlichen freien Tagen. Das führen sie jetzt mit der Vier-Tage-Woche fort: In Firmen, in denen es schlecht läuft, sollen die Beschäftigten ihre Arbeitszeit reduzieren und einen Teil des Lohnausfalls ausgeglichen bekommen. Das Kalkül: Wenn alle etwas weniger arbeiten, bleiben insgesamt mehr Jobs erhalten.

Der Autor sieht Gewerkschaften und Arbeitgeber also auf einem klugen Weg: Der technologische Strukturwandel auf dem Weg vom Verbrennungs- zum Elektromotor steht beispielhaft für einen sozial-ökologischen Umbau, dessen Kern wohl darin bestehen dürfte, dass Industriearbeit zwar weiterhin enorm produktiv ist, aber immer weniger Arbeit benötigt. Insofern wird mittelfristig an der Reduktion der Normalarbeitszeit und an einer Umverteilung der Produktivitätsgewinne kein Weg vorbeiführen.

Diese Sicht der Dinge ist nicht unplausibel. Andere Publikationen, die nicht gemäßigt linksliberal sind wie die SZ, sondern eher konservativ wie die „Frankfurter Allgemeine“, oder links, wie das „Neue Deutschland“ oder die „Frankfurter Rundschau“, sehen den Abschluss denn auch weit nüchterner. Sie betonen eher, dass die Arbeitgeberseite in der Lohnfrage kaum Zugeständnisse machen musste, und dass dieser Abschluss zwar ein gutes Zeichen darstellt, aber eben nur ein Zeichen, wie schon 2018, und noch keinen wirklichen Paradigmenwechsel mit klarem Zukunftsversprechen. Also nur „Schwach glänzend„, wie der Leitartikel der „Frankfurter Rundschau“ titelt.

Man wird also letztlich sowohl der „Rundschau“ in ihrer Skepsis, als auch der „Süddeutschen“ in ihrer verhaltenen Euphorie zustimmen müssen, die ja, am Ende des Artikels, ebenfalls den zentralen Schwachpunkt aller bisherigen Tarifabschlüsse überhaupt aller Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten zugibt: dass für die Masse der Beschäftigten eben bisher immer noch bei der eigentlichen Machtfrage kaum Terrain gewonnen wurde. Diese liegt darin, ob uns gesellschaftlich ein Strukturwandel gelingt, der bei reduzierten Arbeitszeiten existenzsichernde Löhne für alle sichert. Dieses einzig wahre politische Projekt ist bisher noch immer am Widerstand ebenso der privaten wie staatlichen und kommunalen Arbeitgeber gescheitert.

Und an diesem Punkt steht die Gesellschaft seit Jahrzehnten am selben Punkt. Es scheint mir evident, dass wir an diesem Punkt nur im Rahmen einer gesellschaftspolitischen Gesamtoffensive weiterkommen. Die Gewerkschaften sind mit ihrer eher defensiven Position und ihrem Zurückschrecken vor massiven, flächendeckenden Streiks nur ein Spiegelbild einer mutlosen Gesellschaft, die rein defensiv Besitzstände verteidigt und verzagt vor der Aufgabe, einen neuen, visionären Gesellschaftsvertrag zu vereinbaren, in dessen Rahmen dann „alle weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können“, wie es der große Sozialökologe und Gewerkschaftsvordenker André Gorz nannte.

Die Vier-Tage-Woche ist somit ein Ausdruck der Krise, sie weist aber auch darüber hinaus. Im Kleinen setzt sie eine Entwicklung fort, die schon vor mehr als hundert Jahren begonnen hat: Die technische Entwicklung schreitet immer weiter voran, der Mensch arbeitet immer kürzer, zumindest in der Industrie. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass man sich die Arbeitszeitverkürzung leisten können muss. Metaller verdienen im Schnitt so viel, dass sie auch mit 34 bezahlten Wochenstunden (vier Tage plus Lohnausgleich) gut hinkommen. Altenpfleger zum Beispiel können davon nur träumen. Sie sind aber gewerkschaftlich auch lange nicht so gut organisiert wie die Metaller.

Wie viel Wirtschaftswachstum brauchen wir, um Armut abzuschaffen?

piqer:
Thomas Wahl

Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, nimmt ab – von 1,9 Mrd. im Jahr 1990 (36 % der Weltbevölkerung) auf 0,73 Mrd. (9,9 %) 2015. Trotz aller Fortschritte: Armut bleibt eines der drängendsten Probleme unserer Zeit.

Wir können konstatieren, dass Armut nicht unvermeidlich ist. Gerade in den westlichen Ländern ist sie in den vergangenen Generationen mit Kapitalismus und Sozialstaat sehr stark zurückgegangen.

Die Bevölkerung Dänemarks war einst so arm wie die heutige Bevölkerung Äthiopiens, aber seitdem nahm die Armut ab und die Lebensbedingungen verbesserten sich: Das Durchschnittseinkommen stieg um mehr als das 25-fache, die Kindersterblichkeit sank von mehr als einem Viertel auf weniger als ein halbes Prozent – eine der niedrigsten Levels der Welt – und Dänemark ist heute eines der Länder, in denen die Menschen mit ihrem Leben am zufriedensten sind.

Der Artikel nutzt Dänemark daher als Maßstab dafür, was es bedeutet, dass die Armut „erheblich“ sinkt. Mit dieser „Benchmark“ wird gefragt: Wie gleich und reich müssten Länder auf der ganzen Welt werden, damit die globale Armut ähnlich niedrig ist wie in Dänemark? In Dänemark leben heute 86 % der Bevölkerung mit mehr als 30$ am Tag, in Äthiopien mehr als 99 % mit (meist sehr viel) weniger als 30$.

Ordnet und visualisiert man die Länder der Welt nach Einkommen – von den ärmsten Ländern ganz links bis zu den reichsten Ländern rechts zeigt sich:

Die große Mehrheit der Welt lebt in Ländern, in denen die Mehrheit arm ist. Wie man in dieser Grafik lesen kann, leben 77 % der Weltbevölkerung in Ländern, in denen mehr als 90 % von weniger als 30 USD pro Tag leben.

Das zu ändern,wird nicht gehen ohne beträchtliches globales Wirtschaftswachstum – Klimawandel und Ressourcenproblematik hin oder her. Um ein Gefühl für die Größenordnung des notwendigen Wachstums zu bekommen, werden Äthiopien und Dänemark mit ihren jeweils durchschnittlichen Einkommensniveaus (55$/3,3$ pro Tag) und den Ungleichheiten dieser Einkommen verglichen.

Äthiopien hat ein viel niedrigeres Durchschnittseinkommen: Eine Erhöhung des Durchschnittseinkommens wird als Wirtschaftswachstum bezeichnet. Eine Erhöhung des Durchschnittseinkommens von 3,30 USD pro Tag auf 55 USD würde bedeuten, dass Äthiopien sein Einkommen um das 16,7-fache erhöhen müsste (weil 55 USD um das 16,7-fache höher sind als $ 3,30).

Auch die Ungleichheit ist in Äthiopien höher (Gini 28,5 / 33). Um das gleiche Armutsniveau bei gleichem Durchschnittseinkommen zu erreichen, müsste der Gini um 5 Punkte fallen. Der derzeitige Durchschnitt liegt jedoch so weit unter  30 USD pro Tag, dass eine reine Umverteilung ohne drastisches Wirtschaftswachstum die Armutsquote im Verhältnis zu dieser Schwelle nicht senken würde.

Eine mehr als 16-fache Steigerung des Durchschnittseinkommens ist sicherlich nicht leicht zu erreichen, aber auch nicht unmöglich. Das Durchschnittseinkommen in Dänemark ist in den letzten Generationen um mehr als das gestiegen, und ein solches Wachstum ist in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte nicht selten.

Dieses Szenario auf die gesamte Welt projiziert würde heißen: einerseits rechnerisch in jedem Land, das ärmer als Dänemark ist, das Durchschnittseinkommen auf das Niveau Dänemarks zu erhöhen und in jedem Land, das reicher ist, das Einkommen der Menschen entsprechend zu senken. Darüber hinaus reduziert man in jedem Land der Welt die Einkommensungleichheit auf das niedrige Niveau Dänemarks. Wie viel Wachstum wäre damit insgesamt global erforderlich? Die Berechnungen des Autors Max Roser ergeben:

Das notwendige Mindestwachstum, um die globale Armut auf das Armutsniveau in Dänemark zu reduzieren, beträgt 410 %. Eine Steigerung um 100 % würde bedeuten, dass sich die Größe der Wirtschaft verdoppeln würde. Ein Anstieg um 410 % ist daher ein 5,1-facher Anstieg der Weltwirtschaft. Oder anders ausgedrückt: Eine Weltwirtschaft mit wesentlich weniger Armut ist mindestens fünfmal so groß wie die heutige Weltwirtschaft.

Wir hätten damit eine globale Ökonomie, in der Armut erheblich reduziert wäre, aber dennoch 14 % der Bevölkerung von weniger als 30 USD pro Tag in relativer Armut leben. Klar ist auch, das dahinter eine ganz andere globale Lebensqualität stehen wird. Hohe Lebenserwartung, Gesundheit, Bildung und Kultur für alle.

Wir wissen, die Verringerung der Armut ist nicht das einzige notwendige globale Ziel. Ähnlich wichtig ist es, die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt zu verringern. Beides zusammen ist die eigentliche Herausforderung.

EU-Wirtschaft sucht Wachstumspfade

piqer:
Jürgen Klute

Die Europäische Union steckt in einer, auch selbst verschuldeten, Klemme. Die Corona-Pandemie drückt das Wirtschaftswachstum nach unten und die Staatsverschuldung nach oben. Die Mehrausgaben der öffentlichen Haushalte fließen aber nicht vornehmlich in einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, sondern zunächst einmal dienen sie der Stabilisierung der von der Pandemie unter Druck geratenen Wirtschaft.

Zugleich kämpft die EU mit restriktiven Haushaltsregeln, die einer extensiven Unterstützung der Wirtschaft, wie etwa in den USA, entgegenstehen. Zwar wurde mit dem Corona-Fonds ein Instrument geschaffen, das der EU erstmals in ihrer Geschichte die Aufnahme von Schulden zur Finanzierung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie erlaubt. Doch die Investitionen, die dieser Fond vorsieht, sind im Vergleich zu den USA bescheiden und dürften kaum ausreichen für das, was nötig ist. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht die Gesetze zur Ratifizierung des EU-Corona-Fonds vorerst gestoppt. Da Einstimmigkeit Voraussetzung für den Start des Fonds ist, droht also eine derzeit schwer einzuschätzende Verzögerung.

Wie die EU mit dieser politisch vertrackten Lage umgehen will, um wieder auf einen auch ökologisch nachhaltigen Wachstumspfad zu gelangen, skizziert Jorge Valero in seinem Artikel für Euractiv. Im Kern geht es um Strategien zur Aktivierung öffentlicher und privater Investitionen. Ziel der EU ist es, die Fehler aus der Finanz- und Eurokrise von vor gut einem Jahrzehnt nicht zu wiederholen. Denn dann, so heißt es in dem Artikel, würde die EU wirtschaftlich stark zurückfallen:

In ihrem Investitionsbericht 2020-2021 betont auch die Europäische Investitionsbank (EIB), dass die Gefahren „vielschichtig“ sind. Es bestehe das Risiko, „dass gewaltige öffentliche Summen nicht zielgerichtet eingesetzt werden; dass Europa in der neuen Digitalisierungswelle zurückfällt; und dass wir den Wandel nicht schnell genug schaffen und unseren Vorsprung bei grünen Technologien einbüßen.“

Sollten den Problemen nicht angemessen entgegengetreten werden, stünden „die Nachhaltigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und der Wohlstand Europas auf dem Spiel, und zwar auf Jahrzehnte hinaus“, wird im EIB-Bericht gewarnt.

Kapital und Ressentiment?

piqer:
Thomas Wahl

Wenn Philosophen und Literatur-/Kulturwissenschaftler eine neue Geschichte des Kapitals schreiben (wollen), dann entsteht meist eine abstrakte und intellektuell herausfordernde Vernetzung von Begriffswelten etwas jenseits der Empirie. Von denen man allerdings nicht genau weiß, ob da die Welt den Begriffen und Abstraktionen angepasst wird oder eher umgekehrt. Haben wir es hier mit einer neuen Scholastik zu tun (wie Klaus-Rüdiger Mai in der NZZ nahelegt),

die aus dem Begriff ableite(t), was wirklich sein müsse, und deshalb die Beziehung von Wirklichkeit und Erfahrung einsparen könne. Hans Blumenberg stellte diesen Illusionisten die Realisten gegenüber: «Realist ist, wer eingesteht und zugesteht, was ihm unmöglich passen kann und obwohl es ihm verquer liegt. Realität ist, was das Konzept durchbricht, auch und gerade das einer Ideologie.»

Jedenfalls sollte man nicht zu viele Gewissheiten hinter den Begriffen vermuten.

Lese ich das Interview mit Joseph Vogl (Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität) in „Soziopolis“ zu einer  neuen „kapitalistischen Ontologie“, finde ich zunächst die von ihm gestellten Fragen, etwa zu den Begriffen Basis und Überbau, richtig und spannend. Die Gegenüberstellung von Basis und Überbau scheint

zwar eine klare Sortierung ökonomischer und sozialer Faktoren zu bieten – etwa zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen oder zwischen materiellen Voraussetzungen und irgendwie geistigen Manifestationen. Allerdings wird diese Dualität bei genauem Hinsehen recht unklar und verliert ihre begriffliche Schärfe: Gehört die doppelte Buchführung zur Basis oder zum Überbau? Wohin sortiert man pädagogische Praktiken oder die Disziplinarmächte? Die Thermodynamik und den physikalischen Arbeitsbegriff? Oder die gegenwärtige Informationstheorie? Auf welcher Seite operieren Zentralbanken?

Aus solchen Grauzonen der Zuordnung von realen Prozessen zu konzeptionellen bzw. theoretischen Begriffen leitet Vogl ab,

dass bestimmte Affektlagen – wie eben das Ressentiment – nicht nur Effekte und Produkte, sondern womöglich auch Ressourcen und Produktivkräfte im Wirtschaftssystem darstellen.

Richtig ist sicher, dass man, je nach Zuneigung oder Ablehnung einer Gesellschaftsdeutung, andere Zuordnungen treffen wird. Und zwar solche, die vermutlich produktiv wirken können oder eben kontraproduktiv erscheinen. Oder sowohl als auch? Vorurteile und Ressentiments spielen immer eine Rolle im Weltbild und daher in der Analyse der Realität. Generell sind solche „Unschärferelationen“ nicht wegzudenken, in Demokratien eine der Grundlagen sowie Gründe für politische Auseinandersetzungen.

Ich bin mir nicht sicher, ob mit der Entstehung des Kapitalismus (neben Rationalisierungsprozessen und dem Aufstieg der kaufmännisch rechnenden Vernunft) wirklich

christliche Todsünden oder Hauptlaster wie Geiz, Neid und Verschwendung … nun produktiv gewendet und von der Feststellung begleitet (wurden), dass sich weniger die Tugenden denn vielmehr ungehemmte Passionen und Begierden als besonders erfinderisch, listig und schöpferisch erweisen.

Sicher ist richtig, dass man Gefühle und Leidenschaften nicht bloß als innerpsychische Regungen begreifen darf. Sie sind in jeder Gesellschaft konstituierend für soziale Beziehungsgefüge, „als eine Art Basis für die Zirkulation sozialer Energie“. Das ist nun wirklich nicht typisch für „den Kapitalismus“. Auch wenn laut Vogl bereits Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle meinte, die bürgerliche Gesellschaft würde

nicht nur durch einen Kreislauf von Sympathien zusammengehalten. Die Marktgesellschaft wird auch durch diabolische Affekte angetrieben, durch resentment oder ‚Vergeltungsgefühle‘, sofern es in dieser Ökonomie zwangsläufig ums Verdienen, ums Belohnen und Bestrafen geht. Ohne die Mobilisierung von Affekten gibt es keinen einträglichen Geschäftsverkehr, Affekte wären hier also so etwas wie eine produktive Selbsterregung des Systems.

In welcher Gesellschaft war das wirklich anders. Vielleicht im real existierenden Sozialismus, der keine produktive Selbsterregung des Systems hervorbrachte? Jedenfalls denke ich, es waren eher die von Max Weber genannten Rationalisierungstendenzen, der Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus (die ja auch eine Zähmung der Begierden erfordern) bestimmend. Das macht den Unterschied, auch wenn menschliche Begierden immer wieder durchbrechen …

Das unheimliche Tempo des Elon Musks

piqer:
Sven Prange

Elon Musk inszeniert sich nicht nur als Unternehmer, der die Mobilität neu erfindet. Er gibt sich derzeit auch als Unternehmer, der deutsche Behörden und das internationale Arbeitstempo im Jahr 2021 einander näherbringt. Das Ergebnis lässt sich derzeit etwas außerhalb von Berlin, in der Brandenburger Gemeinde Grünheide, beobachten. Dort baut Musk für seine Elektroautomarke Tesla derzeit nicht nur die größte Fabrik Europas. Er versucht sich dort auch an der schnellsten Verwirklichung eines Großprojekts, an das sich Europa erinnern kann. Innerhalb eines Jahres will er die Fabrik aufgezogen haben. Ein Jahr – in einer Region, in der gerade erst der Bau eines Flughafens nach 18 Jahren immer noch nicht fertiggestellt wurde? Wie macht er das? Nun: Mit Tempo, Druck, Agilität – und hier und da wohl auch mit etwas weniger schönen Mitteln.

Die Dimensionen klingen natürlich, wie oft bei Elon Musk, erstmal nach Aufbruch in eine neue Epoche. 5,8 Milliarden Euro hat der Konzern bisher investiert, 1000 Menschen arbeiten bereits heute am Standort. Im Juli soll es losgehen. Und das, obwohl bis heute nicht mal eine Genehmigung für den Giga-Bau vorliegt. Womit wir bei der Kehrseite der vielen Superlativen wären. Auf die deutet schon der lange Anhang unter dem Film in der ZDF-Mediathek hin. Von Wasser über Artenschutz bis hin zu Gewerkschaften und Genehmigungsverfahren sind dort alle Reizworte aufgeführt, die Musks Vorhaben nicht nur zu einem der größten, sondern auch zu einem der umstrittensten Industrievorhaben Europas machen; und eine Frage stellt, die sich mit Blick auf faszinierende neue Technologie noch öfter stellen wird: Rechtfertigt der Verweis auf Wohlstand durch Fortschritt eigentlich den Bruch mit nahezu allen etablierten Regeln?

Der Film umschifft diese Frage in seiner Euphorie für das Projekt immer wieder. Deswegen lohnt es sich, die redaktionelle Begleitung der Doku in der Mediathek mitzulesen. Man bekommt dort übrigens auch ein gutes Gefühl dafür, nach welchem Muster Musk selbst tickt. Nach linearer Erstausstrahlung des Films lieferte sich Musk eine kleine Twitter-Schlacht mit den ZDF-Macher:innen. Er fühlte sich in einem Interview zu den Auswirkungen des Baus auf Brandenburgs Wasserversorgung verkürzt zitiert. Antwort des ZDF: Es gäbe für Musks Ankündigung, sämtliches Verbrauchswasser des Werks zu recyceln, keine belegbaren Beweise. Deswegen habe man es abgeschnitten. Mythos und Marketing sind bei Musk eben auch im Fall dieses Projektes oft nur durch einen Wimpernschlag getrennt.

Bewusstes Einkaufen ist gut für dich, aber für den Planeten macht es kaum einen Unterschied

piqer:
Rico Grimm

Wenn du jemand bist, der die Herstellungsbedingungen von Klamotten studiert, Duschgele auf ihren Mikroplastikgehalt hin vergleicht und den CO2-Abdruck seiner Nahrung ausrechnest, ist dieser Text für dich sehr wichtig. Nicht leicht zu verdauen, aber wichtig. Denn wer mit etwas Distanz auf diese Sache schaut, muss leider feststellen: Was in unseren Einkaufswagen liegt, ist wichtig für unsere Gesundheit und unser Gewissen, aber die Welt können wir damit nicht verändern. Mehr noch: Wir können noch nicht einmal Produktionsbedingungen wirklich damit verändern. Zum Beispiel: Die Situation der Hühner in den Ställen hatte sich erst wirklich verbessert, als die EU Legebatterien kurzerhand verboten hat, auf politischen Druck hin – nicht weil plötzlich eine Mehrheit der Konsumenten solche Eier nicht mehr gekauft hätte.

„Wohlstand für alle“ – Ein toller wirtschaftspolitischer Podcast

piqer:
Michael Hirsch

Der Podcast „Wohlstand für alle“ ist ein wunderbares Stück gelungener Aufklärung. Die beiden jungen Journalisten Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt betreiben den Podcast seit einiger Zeit. Sie haben zusammen gerade bei Suhrkamp das Buch „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“ veröffentlicht. Schmitt betreibt seit Jahren den sehr ambitionierten und wunderbar erhellenden YouTube-Kanal „Die Filmanalyse“. Ein Mal pro Woche stellt „Wohlstand für alle“ eine rund 25-minütige Folge ins Netz. Die beiden Betreiber unterhalten sich über alle möglichen aktuellen wirtschaftspolitischen Themen (in jüngerer Zeit zum Beispiel Schuldenbremse, Armutsbericht und Mindestlohn, Bitcoin, Börsenhype, Influencer oder den FDP-Vorschlag einer Aktien-Volksrente). Auf der Seite stehen zu den jeweiligen Themen immer auch Links mit einschlägigen Literaturtipps.

Nymoen und Schmitt betreiben damit eine neuartige Form der Audio-Volkshochschule. Schon der Titel ist Programm und Kommunikations-Coup zugleich: Nymoen und Schmitt kapern den vom Vater des deutschen Wirtschaftswunders Ludwig Erhard stammenden Begriff und wenden ihn nach links. Was sie in den einzelnen Folgen machen, ist im besten Sinne linksprogressive Aufklärung. Sie liefern, im lockeren Plauderton eines angenehm zu hörenden Dialogs, diejenige Form der Hintergrundanalyse, die in der Berichterstattung der meisten Medien meist fehlt.

So geht es in der letzten Folge vom 17.3. um die Auseinandersetzung um die Neuausrichtung der sogenannten Wirtschaftsweisen, des „Rats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“. Dabei zitieren sie auch ausführlich aus dem entsprechenden Bundesgesetz, aus dem klar wird, dass die Besetzung eines solchen Rats immer eine politische Entscheidung ist. Ihnen gelingt es ganz lässig zu zeigen, dass die eigentliche Kontroverse immer darüber stattfindet, was als politisch gilt und was als sachlich oder wissenschaftlich. Der aus dem Amt geschiedene Lars Feld steht dabei prototypisch für eine arbeitgebernahe wirtschaftspolitische Rechte (mit einer auch personellen Nähe zum CDU-Wirtschaftsrat), die lange mit Erfolg versucht hat, ihre eigene Position als sachlich und neutral darzustellen und die ihrer Gegner, des Gewerkschaftslagers oder anderer Positionen, als ideologisch.

Man wünscht diesem Podcast viele neue Hörerinnen und Hörer. Hier entsteht eine neue, zugleich sehr seriöse und unterhaltsame Form von Journalismus – zugleich bemüht um sachliche Aufklärung, und um die Schärfung der Frage nach dem eigenen politischen Standpunkt und Erkenntnisinteresse.

Was müsste guter Journalismus kosten – und wie kommen wir da hin?

piqer:
Antje Schrupp

Inzwischen ist es Jahrzehnte her, dass das traditionelle Finanzierungssystem für journalistische Texte – nämlich ihre Quersubventionierung durch Anzeigenverkäufe – durch die Digitalisierung zusammengebrochen ist. Aber ein neues ist immer noch nicht in Sicht. Stattdessen bauen alle darauf, dass journalistische Texte sich irgendwie von selbst schreiben oder jedenfalls immer kostengünstiger. Da die Arbeit daran nicht mehr gut bezahlt wird, werden sie in der Folge schlechter, was wiederum dazu führt, dass man erst recht nicht mehr gerne dafür bezahlt.

Dieser Text zeigt noch einmal den soziohistorischen Hintergrund des Dilemmas auf: Es gibt kein Gespür für den Wert geistiger Arbeit. Denn es ist ja leicht, sich über schlampig recherchierte Texte aufzuregen, wenn gleichzeitig die Autorin objektiv nicht genügend Zeit hatte, sie sorgfältig zu recherchieren. Tatsächlich ist es notwendig, das Thema als eines von gesellschaftlicher Tragweite zu verstehen und nicht als individuelles Problem einzelner Journalist:innen und Verlagshäuser.

Zusätzlich zu den im Text genannten Aspekten gibt es zwei weitere, die ich in dem Zusammenhang wichtig finde.

Das erste ist der Hinweis darauf, dass diese Aufgabe, über den Wert dieser Arbeit nachzudenken, sich nicht nur dem Publikum stellt, sondern auch den Schreibenden selbst: Viele Journalist:innen bringen so viel intrinsische Motivation mit, dass sie oft bereit sind, praktisch für Aufwandsentschädigungen zu schreiben. Das erhebende Gefühl, den eigenen Artikel in guter Umgebung publiziert zu sehen, lässt sie betriebswirtschaftliche Kalkulationen hinten anstellen. Das führt leider auch zu einer Sozialauswahl bei den Schreibenden selbst: Man muss sich die vielen unbezahlten Praktika und Witz-Honorare erst einmal leisten können. Wer aber wirklich Geld verdienen muss, wird sich gezwungenermaßen einen anderen Job suchen – und ist aus dem Journalismus damit raus.

Der zweite Punkt ist die Weigerung der Verlagshäuser, sich praktikable und datenarme Finanzierungsmodelle zu überlegen. Denn viele Leser:innen würden schon 50 Cent für einen Artikel bezahlen, aber nicht, wenn sie vorher alle möglichen Daten in massenweise Felder eintippen und alle möglichen Informationen über sich selbst dalassen müssen.