Fremde Federn

Populismus-Definitionen, anarchische Liberale, Klimapreis-Gutachten

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wo sich die Vorschläge der Expertengruppen zum CO2-Preis unterscheiden, warum wir nicht alles als populistisch bezeichnen sollten und wie die Brexiteers mit der Klimawandel-Leugnung verflochten sind.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Acht Gutachten zur Emissionsabgabe: ein Überblick

piqer:
Dominique Lenné

Das Klimaschutzgesetz ist in Arbeit. Acht Expertengruppen haben Konzepte dazu vorgelegt und durchgerechnet: Das Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft, die Böckler-Stiftung, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, der Verein CO2-Abgabe, der Beirat des BmWi, der Sachverständigenrat des Kanzleramtes, Otmar Edenhofer (PIK – MCC) und die Arbeitsgruppe der Leopoldina.

Der Autor hat diese nach verschiedenen Parametern tabelliert, wie etwa Modell (Steuer, Cap-and-Trade), Startpreis, Steigerungsrate, Zielpreis, Art des sozialen Ausgleichs, Klimadividende, erwartete Emissionsminderung und weitere.

Im Text diskutiert er dann noch einige der Unterschiede und Begründungen. So wird etwa die Kritik, die viele an Cap-and-Trade haben, wiedergegeben (zu langwierige und schwierige Einführung, zu komplex). Eine Erhöhung der Steuern soll in einigen der Modellen nach oben angepasst werden, wenn der gewünschte Effekt nicht erreicht wird. So ein Verfahren existiert bereits in der Schweiz. Damit wäre dann das Erreichen des Ziels beinahe ebenso gut sichergestellt wie mit Cap-and-Trade.

Auch der Zertifikatemindestpreis, die Verwendung der Mittel, die Wirkung auf das Verhalten und anderes werden, teils anhand von Zitaten von Gutachtern und Anderen, behandelt.

Klimaschutz und Freiheit: Die traurige Verfasstheit des Liberalismus

piqer:
Alexander Sängerlaub

Was waren das noch für Zeiten, als die FDP auch noch der Ort der großen Denker war, der Dahrensdorfs und wie sie alle hießen. Heute ist die FDP gerade noch ein dünnes Süppchen, das sich irgendwo zwischen Steuersenkungspredigten, Klimaprotestler beleidigen und Nicht-Regieren (statt Schlecht-Regieren) konzeptionell verloren hat. Oder wie es Christian Stöcker formuliert:

Die Klimakrise bringt diverse Sekundärkrisen mit sich. Eine davon betrifft den Liberalismus: Die Vertreter der Freiheitsliebe sind orientierungslos. Das erklärt auch das ständige Gerede über „Verbote“.

Manche nennen es Verbote, ein besseres Wort ist vielleicht Gesetz. Wer glaubt, dass die Klimakrise ganz ohne Gesetze zu lösen ist, könnte auch gleich glauben, dass sie ohne Politik zu lösen sei.

Den irrigen Diskussionen um den Sinn oder Unsinn von „Verboten“ gibt Stöcker Argumente an die Hand:

Das ist konzeptioneller Unsinn, denn gut gemachte Gesetze, die eben auch Dinge untersagen, sind die Basis jeder freiheitlichen Gesellschaft. FCKW-freie Kühlschränke und bleifreies Benzin haben uns keinen Deut unfreier gemacht, im Gegenteil. Wachsende Hautkrebsgefahr und kaputte Wälder hätten die Freiheit dagegen sehr eingeschränkt.

Es gibt eben keinen simplen Widerspruch zwischen der Idee des Liberalismus und dem Konzept des Verbots. Es gibt keinen Automatismus im liberalen Denken, der Regulierung für grundsätzlich falsch erklärt. Das wäre eher die Position eines Anarchisten.

Und sie ist nicht die einzige politische Denkschule in einer systemischen Krise (oder mit der Unfähigkeit ihrer politischen Verwandten in der Parteienlandschaft, diese in Inhalte zu gießen). Die Klimakrise macht deutlich, dass wir es mit einer globalen Herausforderung zu tun haben, die sich herzlich wenig um nationale Grenzen und Befindlichkeiten kümmert. Die Klimakrise könnte dabei eigentlich eine Uraufgabe des Liberalismus sein, weil er sich auch die Frage stellt, wie die Freiheit zukünftiger Generationen aussieht, wenn Wassermangel oder extreme Hitze diese Freiheiten ebenfalls in Frage stellen.

Neben dem Liberalismus trifft es andere genauso. Was bedeutet es für die globale Wirtschaftsordnung, wenn die Antwort auf die Klimakrise an vielen Stellen auch der Verzicht ist? Von der Ausbeutung planetarer Ressourcen bis zum Verzicht auf bestimmte klimaschädliche Handlungen, sei es bei der Mobilität oder der Ernährung. Die Geschichte vom ewigen Wachstum scheint zumindest das erste Mal wirklich bewusst auserzählt, jetzt wo wir merken, dass die Ressourcen unserer Erde endlich sind und unser Handeln wirklich verheerende Auswirkungen auf unseren Lebensraum hat. Was das in der Konsequenz bedeutet, damit stehen wir noch ganz am Anfang. In allen Denkschulen.

Populismus? Plädoyer für bessere Definitionen

piqer:
Keno Verseck

Populismus hat als Schlagwort und Konzept Weltkarriere gemacht. Schon seit Jahren werden Parteien von AfD über die Partij voor de Vrijheid und PiS bis zum Front National und Fidesz, und Politiker von Orbán über Kaczyński, Wilders, Le Pen bis hin zu Trump und Bolsonaro als populistisch bezeichnet. Es ist bequem, antidemokratische und antihumanistische Projekte und Politiker unter diesem Sammelbegriff einzuordnen. Aber auch problematisch, weil dieser Begriff (mit-)beinhaltet, dass Populisten dem Volk oder zumindest der großen Mehrheit eine Stimme geben und seinen/ihren Willen vertreten.

Nicht nur ist das im Falle der genannten Parteien und Politiker nahezu durchgehend falsch. Wer den Begriff des Populismus benutzt, gerät implizit auch leicht in den Verdacht des Elitarismus. Auch wenn ich den Begriff in meinen Artikeln bisweilen benutze, so habe ich große Zweifel an seiner Gültigkeit, da er meines Erachtens zu schwammig ist. So ist beispielsweise Orbán m. E. kein Populist, sondern in seiner Rhetorik ein rechtsextremer Ethno-Nationalist, der mit seiner – oft widersprüchlichen, eklektizistischen – Ideologie sein korruptes, autoritäres System zu legitimieren sucht.

Exakte Einordnungen sind jedoch notwendig, um abschätzen zu können, was genau Populisten verfolgen. Dafür plädiert in einem englischsprachigen analytischen Debattenbeitrag für das IPG-Journal auch der ungarische Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige EU-Kommissar László Ándor. Er beleuchtet dabei die Ursprünge des Populismus und die vielfältige Geschichte vermeintlich populistischer Politik. Er schreibt:

Wenn wir alles einfach als „populistisch“ verrühren, können wir die Schwere der Bedrohungen für Demokratie und Menschenrechte nicht besser verstehen. Anti-Populisten wollen oft alarmieren, aber indem sie den Euphemismus anstelle der wirklichen Namen verwenden, erreichen sie den gegenteiligen Effekt, indem sie nämlich die zeitgenössischen rechtsextremen Tendenzen von ihren Wurzeln trennen.

Die Kombination von Wettbewerb und technologischer Entwicklung ist für die Menschheit gefährlich

piqer:
Ole Wintermann

Eine der Hauptannahmen über die Arbeitswelt, die für uns täglich handlungsweisend sind, ist die, dass es um Wettbewerb geht. Wir alle stehen im Wettbewerb zueinander, um eine entsprechende “Karriere” zu erreichen.

Der Arbeit-Vordenker Esko Kilpi fragt in seinem aktuellen Beitrag, wie dieser Grundgedanke eigentlich vereinbar ist mit der Tatsache, dass Arbeit auch immer eine soziale Interaktion darstellt, die Kooperation voraussetzt? Ersteres steht aber für ein Null-Summen-Spiel, während letzteres eine Win-Win-Situation ergibt. Dasselbe kann auch festgestellt werden für die gesellschaftliche Ebene. Während aber auf der betrieblichen Ebene die Beschäftigten und die Wettbewerber die Verlierer sind, auf deren Kosten der Vorstand sein Einkommen maximieren kann, ist es auf der globalen Ebene die Umwelt, derer wir uns bedienen, um kurzfristig mit technologischer Unterstützung einen maximalen Gewinn zu erzielen. Dabei verlieren wir aber den Ausgang des weltweiten Spiels aus dem Blick:

“Following Darwinian rhetoric, the unit of survival is the species in its interdependent environment. Who wins and who loses is of minor importance compared to the decay of the game itself as a result of the competition.”

Die “Fähigkeit”, die Gesellschaft durch technologisch basierte Ausbeutung zu spalten und die Umwelt zu vernichten, basiert auf der Tatsache, dass sich die Technik schneller entwickelt hat als die Zivilisation (sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich). Wir benötigen Nachhilfe im intellektuellen und sozialen Umgang mit der Technik; wir dürfen uns in der Wirtschaft und der Umwelt nicht weiter von ökonomischen Maximen leiten lassen, denn:

„Our values are codified in economic equations, where many living things are worth something when they are dead, but not something when they are alive.“

Egal, ob es sich um unsere tägliche Arbeit oder globale Probleme handelt: Wir müssen begreifen, dass das ökonomische Wettbewerbsparadigma für uns auf Dauer tödlich ist.

Stark verflochten: Brexit und Klimawandelleugnung

piqer:
Daniela Becker

DeSmog UK ist ein britischer Mediendienst, der sich nach eigenen Angaben der Aufgabe widmet, „den Spin zu durchbrechen, der die Debatte über Energie und Umwelt in Großbritannien trübt“.

In diesem Beitrag hat DeSmog UK akribisch das Netzwerk von Entscheidungsträgern und Unternehmen kartiert, das – weil es von der Untätigkeit beim Klimaschutz wirtschaftlich profitiert – mit Klimawandelleugnern kooperiert. Dabei gibt es frappierende Überlappungen zwischen Brexit-Befürwortern, der Fossil-Lobby und Rechtspopulisten.

Dass Rechtspopulisten sich gegen Klimaschutzmaßnahmen wenden, ist nicht neu. Aber das Ausmaß der Verflechtung lässt mich doch immer wieder staunen.

Die Recherche von DeSmog UK zeigt über 2.000 Verbindungen zwischen Akteuren auf den höchsten Ebenen des politischen und unternehmerischen Lebens in Großbritannien, den USA und Europa.

Mittendrin natürlich auch die AfD, die sich hier in Deutschland gerne mit den Klimawandelleugnern von EIKE zusammentut. (Hier ein piq dazu).

Germany’s far-right party Alternative für Deutschland (AfD) denies human-induced climate change. In its election manifesto it claims that rising levels of carbon dioxide in the atmosphere has meant “world food harvests have increased significantly”.

(Die Behauptung, dass der steigende Kohlendioxidausstoß dazu führt, dass die Ernten ertragreicher werden, stimmt natürlich nicht, was der jüngste IPCC-Bericht noch einmal deutlich gemacht hat. Was die Klimakrise für Landwirtschaft bedeutet, lässt sich hier kompakt nachlesen.)

Selbstverwirklichung in Kapitalismus und Patriarchat. Ein elektrisierender Essay von Jia Tolentino

piqer:
Daniel Schreiber

Ich bin immer noch total elektrisiert von diesem Essay von Jia Tolentino.  Seit Langem habe ich nichts so Gutes mehr gelesen. Tolentino beschreibt ein Weiblichkeitsideal, das sich unter jungen professionellen Frauen immer mehr durchsetzt und dekliniert daran durch, was Selbstverwirklichung in Kapitalismus und Patriarchat wirklich bedeutet.

Anhand der in den USA gerade so angesagten Salat-Restaurantkette Sweetgreens, dem Erfolgsfitnesstrend des Barre-Trainings und der ubiquitären, sowohl sport- als auch alltagstauglichen Athleisure-Kleidung beschreibt sie die instagramtauglichen Ansprüche von körperlicher Perfektion, die dazu dienen, nach außen hin sorgenfrei und glücklich auszusehen und zugleich 12-stündige Arbeitstage absolvieren zu können. Es ist ein Ideal, das sich häufig als „selbstbewusst“ oder „empowered“ verkauft, aber letztlich nur dazu dient, den eigenen Marktwert zu optimieren – während Dinge wie Gehälter, Kinderbetreuung oder politischer Einfluss nicht optimiert werden.

Zugleich verliert Tolentino niemals aus den Augen, warum so viele Leute diesem Ideal fast automatisch hinterherlaufen (sie eingeschlossen), warum es sich so anfühlen kann, als hätten sie keine Wahl: „Wenn man in Kapitalismus und Patriarchat erfolgreich ist, wird das belohnt“, schreibt sie. „An der Oberfläche gibt es dafür zunächst einmal nichts als Belohnungen. Die Falle, in die man geht, sieht schön aus, sie ist gut ausgeleuchtet. Sie heißt dich willkommen.“ Unbedingt lesen!

Geschichte mitdenken, Gesellschaft verstehen: Martina Weyrauch über politische Bildungsarbeit

piqer:
Michaela Maria Müller

30 Jahre nach der Wende und kurz vor den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern wird viel über Identität, Mentalitäten, Verletzungen – und Unterschiede zwischen Ost und West gesprochen. Die Leiterin der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Martina Weyrauch hat der taz ein lesenswertes Interview und einen Einblick in ihre Arbeit gegeben. Weyrauch legt Wert darauf, Geschichte und Erfahrungen unbedingt mitzudenken.

Zivilgesellschaft ist zunächst das, was unter Diktaturen geknebelt wird. Für viele ist diese Knebelei aber auch gemütlich. Zumindest für die Masse der Bevölkerung. Es ist immer nur ein kleiner Teil, der Bücher schreiben will, seine Meinung frei äußern will. Die Masse ist eigentlich froh, dass sie sagen kann: Der Staat ist schuld, dass es mir so schlecht geht. Ich kann ja gar nichts machen. Das ist das schlimmste Ergebnis einer Diktatur, weil es verheerende Konsequenzen für die Zivilgesellschaft hat.

Zugleich gibt es inzwischen viele Menschen, die sich in Brandenburg politisch engagieren, aber heillos überlastet sind:

Wir haben in Brandenburg andere Konzepte gehabt als in Sachsen und früh das „Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg“ entwickelt. Das zielt darauf, die Menschen, die die Demokratie bejahen, zu stärken. Denn die Aktiven arbeiten in einer Art und Weise, wie man es sich im Westen vielleicht gar nicht vorstellen kann. Wir haben dünn besiedelte Regionen, einen ländlichen Raum, wo jeder, der sich engagiert, fünf, sechs, sieben, acht Funktionen hat. Die Leute, die aktiv sind, fallen fast um. Da sind viele in meinem Alter, das ist die Transformationsgeneration. Dann kommt ein riesiger Schnitt. Das hat damit zu tun, dass ganz viele junge Leute weggegangen sind, vor allem junge Frauen.

Wer ist der Chefstratege in Boris Johnsons Brexit-Team?

piqer:
Silke Jäger

Zum Brexit ließe sich derzeit viel sagen – und das wird ja auch ausgiebig getan. Psychogramme über Boris Johnson und besorgniserregende Zukunftsszenarien überwiegen. Das ist mehr als verständlich. Aber sie schaffen nicht viel Klarheit, dafür umso mehr Ängste.

Dabei ist sehr spannend zu sehen, wie sich die Narrative unterscheiden. Hier trauen alle BoJo das zu, was man keinem anderen Politiker zutraut: maximale Selbstschädigung. Aber in UK liefert „sein“ No-Deal-Brexit den lang ersehnten Befreiungsschlag. Nach drei verplemperten Jahren soll BoJo endlich das vollbringen, was schon 2016 versprochen wurde. Dazu muss der Backstop weg, sonst verhandelt man gar nicht erst (die Financial Times fasst hier alles Wichtige zum Stand der Gespräche sehr gut zusammen).

Das No-Deal-Szenario wird dabei zum Default-Modus. Und dieses Narrativ wurde durch das feste Austrittsdatum in den EU-Statuten von Anfang an auch gefördert. Ein Mechanismus, der sowohl UK als auch der EU „hilft“, Extrempositionen zu festigen.

Der 31. Oktober ist der Tag, an dem sich nicht nur die Zukunft UKs entscheidet, sondern auch die der Tory-Partei. Und wie dieser erhellende Twitter-Thread zeigt, der einen kostenpflichtigen Telegraph-Artikel zusammenfasst, ist Boris‘ Team vor allem dazu da, die Zukunft seiner Partei zu sichern. Schlüsselfigur dabei ist der als kongeniale Stratege geltende Dominic Cummings – seinerzeit Kopf der Vote-Leave-Kampagne.

Cummings ist heimlicher Herrscher des Mini-Kabinetts, das sich zweimal wöchentlich trifft, um die Number-10-Komm-Strategie zu besprechen. Deshalb sollte man ihn kennen. Er steuert die Botschaften, die mit einem Rekord-Online-Werbe-Budget gezielt an Frau und Mann gebracht werden. Cummings kennt die Finessen des Mikrotargetings (Video eines Vortrags) und ist wortgewandt. Diese Kombi war 2016 schon einmal erfolgreich (hier verfilmt mit Benedict Cumberbatch).

In diesem Podcast stellt der Regisseur des Films Cummings und seine Arbeit vor. Ergänzend hier ein Porträt in der Zeit