In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Warum wird Wohnen immer teurer?
piqer:
Sven Prange
Ganz Berlin ist ja gerade aufgebracht, weil auf dem Wohnungsmarkt der Sozialismus drohe. So bezeichnet jedenfalls der konservative Teil der Stadt die Versuche des rot-rot-grünen Senats, über eine wirklich wirksame Mietpreisbremse das sozialpolitisch wohl grassierendste Problem der Hauptstadt zu lösen: die immer weiter steigenden Mietkosten.
Und weil diese Entwicklung in Berlin zwar von der Politik bekämpft wird, sich in fast allen deutschen Städten aber mittlerweile so wiederfindet, schmückt sich Deutschland derzeit mit einem zweifelhaften Titel: In Sachen Vermögen leben wir in einer der ungleichsten und ungerechtesten Gesellschaften Europas. Und das zeigt sich derzeit fast nirgendwo so eklatant wie an der Wohnfrage.
Woran das liegt? Das ist nicht eindimensional zu erklären, vor allem nicht die Frage, was Ursache, was Symptom ist. Aber einer der Gründe für teures Wohnen ist sicherlich: teures Bauland. Die Landpreise in einigen Teilen der Republik haben in den vergangenen Jahren eklatante Höhen erreicht, wie dieser Film nachzeichnet. Etwa das Beispiel Tübingen: In der eher beschaulichen Universitätsstadt kostete ein Quadratmeter Land noch im Jahr 2010 305 Euro. Heute sind es an gleicher Stelle 1050 Euro. Woran das liegt? Die Nachfrage nach Wohnraum steigt, Boden ist aber nur begrenzt vorhanden. Also das ganz normale Gesetz des Marktes.
Nun ja. Nicht nur.
Denn auch Bauland, das theoretisch da ist, bleibt praktisch Brachland. Weil Besitzer nicht bauen, auf bessere Preise hoffen. Warum auch immer.
„Es hat sich in Deutschland die Auffassung durchgesetzt, das Eigentum zu nichts verpflichtet.“
Das sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in diesem Film. Er hat deswegen 240 Eigentümer von Bauland, das sie nicht bebauen, angeschrieben. Und damit eine Debatte darüber angezettelt, welche Schritte gegen die Baulandpreisexplosion in einer freien Gesellschaft möglich sind. Es sind diese Beispielfälle, die der Film fleißig zusammenträgt.
Volk und Geld – Wer hat die monetäre Souveränität?
piqer:
Thomas Wahl
Soziopolis bietet hier den Einstieg in eine dreiteilige Reihe zu Geldpolitik, Geldschöpfung und monetärer Souveränität. Umfangreiche Texte, aber gut und verständlich formuliert. Der erste Teil „Geld in privaten Händen“ beginnt mit einem Tweet von Bundesfinanzminister Olaf Scholz anlässlich der Absicht von Facebook, sein eigenes digitales Geld, (genannt Libra) herauszugeben:
Die Herausgabe einer Währung gehört nicht in die Hände eines Privatunternehmens, denn sie ist ein Kernelement staatlicher Souveränität.
Die Warnung ist verständlich, entstünde doch damit u. U. eine große zusätzliche und global verfügbare digitale Geldmenge. Die Artikel allerdings diskutieren nicht das Projekt Libra selbst, sondern die Vorstellungen über Geldsysteme, die in den Auseinandersetzungen darüber aufeinander prallen – insbesondere über die Rollen staatlicher und privater Akteure. Scholz behauptet, die Geldschöpfung läge in staatlichen Händen und das Monopol dürfe auch nicht verändert werden. Sonst wäre staatliche Souveränität in Gefahr. Der Klärung dieser Frage widmet sich der erste Aufsatz.
Der zweite Teil „Staatliche Zahlungsunfähigkeit“ handelt von den Strukturen des europäischen Finanzsystems und der monetären Souveränität Europas, wie sie die Autoren sehen.
Mit der Ausweitung des westfälischen Modells, das heißt einer politischen Ordnung, die auf dem Grundgedanken einer (friedlichen) Koexistenz souveräner Nationalstaaten basiert, gewinnt das Prinzip „One Nation/One Money“ zunehmend an Bedeutung. [2] Souveräne Nationalstaaten beanspruchen das Recht, ihr Hoheitsgebiet ohne Einflussnahme durch andere Akteure mit Zahlungsmitteln zu versorgen, wozu das Vermögen gehört, das Verhältnis der eigenen Währung zu den Zahlungsmitteln fremder Staaten zu kontrollieren. [3] Dementsprechend muss uns angesichts des Streits um eine Währung wie die Libra interessieren, wie es in einer Welt mit unterschiedlichen, hoheitlich geschützten Währungen eigentlich um die Versorgung mit (neuen) Zahlungsmitteln steht.
Dabei wird deutlich, dass die private Geldschöpfung nicht nur ein Baustein des Euro, sondern des globalen Geldsystems ist. Man kann es mit Joseph Schumpeter „als Grundpfeiler moderner Ökonomien“ sehen. Und so wie das europäische System mit der EZB konstruiert ist, sind die Staaten strukturell „monetär abhängig von der Bereitschaft privater Bieter, ihm Zahlungsfähigkeit zur Verfügung zu stellen.“ Auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt schränkt durch seine Grenzen für die Budgets und Gesamtschulden der Staaten die Spielräume zur autonomen Steuerung staatlicher Zahlungsfähigkeit ein. Daraus erklärt sich u. a. die Politik der EZB unter Mario Draghi nach der Finanzkrise.
Im dritten Teil geht es um „Geldschöpfungspolitik“, also die Frage, wie Zahlungsfähigkeit geschaffen wird.
Dass wir alle einen nicht unerheblichen Teil unserer begrenzten Zeit dafür aufwenden, Geld einzunehmen, um es später wieder auszugeben, ist bekannt. Auch Organisationen und sogar Staaten investieren beachtliche Mühen und Zeitkontingente darauf, ihre Zahlungsfähigkeit aufzubauen, zu verwalten und zu erneuern. Kein Wunder, schließlich sind Individuen ebenso wie Organisationen oder Kollektive darauf angewiesen, von anderen Ressourcen zu bekommen – seien es Rohstoffe, Arbeitskraft, Wohnraum oder Smartphones. Will man dabei nicht auf die Gutherzigkeit dieser anderen angewiesen sein oder den Vorbesitzern ihre Ressourcen durch Zwang abnehmen, wird man für die Güter zahlen müssen. Das funktioniert, weil die Anbieter der Ressourcen selbst wieder zahlungsfähig werden möchten.
Diesen Kreislauf gilt es, möglichst stabil wachsend aufrecht zu erhalten. Und dabei stellt sich heraus, dass Geld nicht nur verteilt und umverteilt wird, sondern auch neu entsteht, (oft übersehen) produziert wird. Andere, wie etwa die Vertreter von Vollgeldsystemen, wollen diese Geldvermehrung stoppen. Was natürlich das Gegenteil der Modern Monetary Theorie ist oder auch der Praxis der EZB, massenhaft Geld zu schöpfen. Dazu kommen digitale Kryptowährungen und nun auch das Digitalgeld „Libra“. Insgesamt wohl eine neue Unübersichtlichkeit der Geldpolitik. Jedenfalls wächst die Geldmenge stärker als die Produktion. Was letztendlich zu einer Vermögenspreisinflation führt.
Abschließend werden offene Fragen diskutiert, die sich gerade aus Sicht der Sozialforschung ergeben. Naturgemäß ohne abschließende Antworten …
Georg Seeßlens Essay „Ein weiterer Schritt zur politischen Unkultur“
piqer:
Tino Hanekamp
Großartiger, wichtiger, noch den letzten Nixmerker aufrüttelnder Essay von Georg Seeßlen über den Niedergang der deutschen Demokratie. Hier nur der erste Absatz, man will da nichts rausreißen, man muss ihn ganz lesen. Und dann noch mal.
Das Politische ereignet sich auf drei Ebenen, die mal mehr und mal weniger miteinander korrespondieren: Die erste Ebene ist die Struktur von Macht, Regierung, Wirtschaftssystem, Gesetz und deren Praxis. Die zweite Ebene ist die politische, diskursive, ästhetische und moralische Kultur, mit der sich Menschen in einem Land verständigen. Medien, Bildung und Kultur gehören ebenso dazu wie Sprache und Umgangsform. Die dritte Ebene ist das alltägliche, nachbarschaftliche, familiäre und biografische Leben: meine Bedürfnisse, Interessen und Kenntnisse, die in Zusammenhang stehen mit jenen des Nachbarn, ebenso mit dem, was Gesellschaft und Staat von mir verlangen und was ich von ihnen verlange. Demokratie funktioniert auf allen diesen drei Ebenen, und ihre Selbstheilungskraft besteht darin, dass eine Krise auf der einen Ebene durch Kritik, Korrektur und Reparatur von den anderen überwunden wird.
Wirtschaftlich betrachtet sind 2 Grad Erderhitzung das Optimum
piqer:
Daniela Becker
Klimawissenschaftler Andreas Levermann hat ein Klimamodell vorgestellt, das sich mit dem Zusammenhang von Klimakrise und Wirtschaftswachstum beschäftigt. Die Computersimulation seines Teams sucht nach dem optimalen Pfad, der der Gesellschaft den größten ökonomischen Wohlstand ermöglicht.
Dazu wurden zwei existierende Modelle miteinander verbunden. Zum einen das des Ökonomen William Nordhaus, der vor vielen Jahren Klimaschutz ebenso wie die Klimaschäden in ein klassisches Wachstumsmodell eingebaut hat.
Zum anderen das der amerikanischen Forscher um Marshall Burke, die in einem Paper in „Nature“ zeigten, dass der Klimawandel nicht nur Schäden etwa in der Infrastruktur oder Landwirtschaft verursacht, sondern auch das Wirtschaftswachstum selbst beeinflusst. Dieser Effekt ist sogar viel stärker, weil diese Einbrüche im Wirtschaftswachstum in die Folgejahre mitgeschleppt werden.
Die zentrale Frage, so Levermann, sei:
Macht der Klimawandel nur Dinge kaputt, die man einfach wieder aufbaut, oder wirkt er auf das Wirtschaftswachstum – und wie nachhaltig wird das Wirtschaftswachstum beeinträchtigt? Das sich langsam abzeichnende Feuerwerk der Wetterextreme – von den Schneekatastrophen in den Vereinigten Staaten über die europäischen Rekordsommer bis hin zu den Waldbränden in Australien – deutet an, dass da vielleicht eine nachhaltige Beeinträchtigung am Werk sein könnte.
Im Ergebnis komme die Simulation zum dem Ergebnis, dass die wirtschaftlich optimale Grenze der Erwärmung zwei Grad sei.
Ganz einfach, weil wir schon bei 1,2 Grad sind und es nicht viel schneller gehen wird mit der Emissionsreduktion zur Temperaturbegrenzung als eben zwei Grad.
Die größte Unsicherheit des Modells, so der Wissenschaftler, ist die Anpassungsfähigkeit des Wirtschaftssystems.
Die ist sicher hoch, aber wir reden bei den Schäden auch nicht von herkömmlichen graduellen Verschiebungen, wir reden von starken, unvorhersehbaren Schlägen, die das Wetter auf uns einpeitscht. Eine Studie hat gezeigt, dass es infolge von häufiger auftretenden Veränderungen des Jetstreams zu Dürren simultan in mehreren der großen Getreideanbaugebiete kommen kann, von Nordamerika bis Russland. Und auch ein reiches Land wie die Vereinigten Staaten könnte an Grenzen kommen, wenn dort in einem Jahr erst im Sommer eine Hitzewelle rollt wie in 2019, dann eine Serie Hurrikans Verwüstungen auslöst wie 2017 und danach im Winter an der Ostküste sich die Kältewelle mit dramatischen Schneefällen wiederholt wie in den letzten drei Jahren. Die Wahrscheinlichkeit für so was wird mit zunehmender Erwärmung einfach größer.
Verkehr im Europäischen Emissionshandel – eine wirkungslose Strategie mit hohem Risiko
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Tiemo Wölken
Es ist eines der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zum Klimapaket: In Deutschland soll ab 2026 ein (oben und unten gedeckelter) Emissionshandel für Verkehr und Gebäude eingeführt werden. Die SPD war dagegen und für einen festen Preis auf Treibhausgase. Nun wird genau diese Debatte auf die europäische Ebene gehoben: Die neue Kommission möchte Verkehrs- und Gebäudeemissionen handelbar machen.
Der Autor dieses Gastbeitrags (Direktor des Verbandes Transport & Environment) legt hier kompakt dar, warum eine Ausweitung des Emissionshandels auf den Straßenverkehr eine schlechte Idee ist, und für Flug- und Schiffsverkehr eine gute. Die wichtigsten Argumente: Ein Emissionshandel würde nur geringe Wirkung haben und die nationalen Verkehrsministerien aus ihrer Verantwortung entlassen.
Jung und Alt vereint in der Gig-Industrie. Der Arbeitsmarkt wird immer flexibler.
piqer:
Anja C. Wagner
Eine neue Studie analysierte den US-amerikanischen Arbeitsmarkt mit Blick auf den wachsenden Anteil an Gig-Arbeiter*innen. In der Zwischenzeit soll jede*r sechste Arbeitnehmer*in Unternehmen der Gig-Industrie zugehörig sein. Dabei differenzieren die Firmen vertraglich zwischen zwei verschiedenen Formen:
Das ADP-Forschungsinstitut identifizierte zwei Welten von Gig-Arbeitern in Organisationen. Die erste besteht aus 1099-M-Vertragspartnern, die unabhängige Auftragnehmer sind, die häufig aufgrund ihrer Fähigkeiten auf Projektbasis eingestellt werden. Diese qualifizierten, fest angestellten Arbeitnehmer sind in der Regel älter, hoch qualifiziert und arbeiten mit dem, was ihnen Spaß macht. Tatsächlich sind 30% der 1099-M-Gig-Arbeiter 55 Jahre oder älter. Für einige von ihnen ist ihre Gig-Arbeit ein zusätzliches Einkommen zu ihren Rentenersparnissen. Die zweite Gruppe umfasst W-2-Kurzzeitbeschäftigte, die jünger und weniger gebildet sind, ein geringeres Einkommen haben und in der Regel auf Saison- oder Bereitschaftsdienstbasis arbeiten.
W-2 bedeutet in den USA, die Personen sind steuerlich angestellt, wenn auch nur befristet und prekär, meist auch ohne Krankenversicherung. Dagegen bedeutet 1099-M, dass die Personen als Selbstständige selbst ihre Steuern entrichten müssen.
Nach Steve Boyd einigt diese Gig-Gruppen ihr Wunsch, nicht Vollzeit langfristig für einen Arbeitgeber arbeiten zu wollen. (Sofern sie denn noch einen Job angeboten bekommen mit 50+, ergänze ich an dieser Stelle.) Er war etwas verwundert, dass auch Jüngere lieber freelancen – trotz aller Unsicherheiten. Er erklärt es sich so, dass sie so selbstbestimmter leben können und sich nicht abhängig machen von illoyalen Unternehmen.
Das meinte auch letzthin ein gut gebildeter Millenial zu mir: Wenn er Geld braucht, klingelt er etwas rum, und dann arbeitet er solange, bis die Einnahmen seinen Wünschen entsprechen. Dusselige Jobs gibt’s in der Großstadt mehr als genug. Und wer keine Angestellten-Karriere anstrebt, der kann sich heutzutage vielfältig austoben und nebenbei selbstständig ausprobieren. Schon interessant, wie junge, akademische Milieus in ihrer Hyperkultur heute agieren …
Die Frage ist nur, welche Optionen ihnen später offenstehen, wenn sich das Alter etwas setzt. Wird es für sie einfacher sein als für uns Generation X-Menschen? Wird das politische und soziale System ihren Wunsch nach Unabhängigkeit unterstützen? Oder wird der alte Machtapparat der alten Industriegesellschaft auch weiterhin versuchen, alle in ihre eingefahrenen Bahnen zu lenken? Der Kulturwandel hat sich längst vollzogen. Wann wird die Politik darauf reagieren?
„Technologiekonzerne übernehmen das Wertesystem“ – Interview mit einem Ex-Berater von Facebook
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Jörn Klare
„Letztlich haben die Internetplattformen – und da spreche ich von Facebook, Google, Amazon und Microsoft – eine Größe erreicht, die es selbst für ganze Länder unmöglich macht, sie unter Kontrolle zu bringen.“
Roger McNamee war ein Angel Investor und Berater von Mark Zuckerberg. 2016 wandte er sich wegen des Einflusses von Facebook auf die US-Wahlen von dem Konzern ab. Monika Ermert führte mit McNamee ein thesenfreudiges Interview für heise.de.
Diese Konzerne haben letztlich einen neuen organisatorischen Rahmen für die Menschheit kreiert, einen neuen Unternehmens-Nationalismus. Sie haben ihr eigenes Staatsgebiet, in dem ihre Regeln gelten.
Es geht um die Monopolmacht der großen Konzerne, die Bedrohung unseres demokratischen Systems …
Haben wir das Recht auf Selbstbestimmung einmal verloren, die Demokratie einmal aufgegeben, bekommen wir beides nur schwer wieder zurück.
… ein Menschenrecht auf persönliche Daten, Unterschiede zwischen den USA und Europa, die Forderung, sogenannte Amplifizierungs-Algorithmen, die Botschaften und Themen verstärken, zu verbieten …
Wer digitales Gift verbreitet, sollte ökonomisch genauso zur Verantwortung gezogen werden, wie derjenige, der chemische Gifte in Umlauf bringt.
… und zum Schluss werden auch noch die AfD und der Klimawandel erwähnt. Überraschend ist dabei der Optimismus, mit dem McNamee auf die Zukunft Europas schaut.
Europa muss sich keine Sorgen machen. Es kann meiner Meinung nach seine Chance im Technologiesektor dadurch wahrnehmen, indem es der Technologie europäische Werte beibringt.
Lesenswert.
Was blieb von der Globalisierungskritik? Donald Trump
piqer:
Frank Lübberding
Im Fazit-Blog beschreibt Patrick Bernau die Wirkung von Informationskaskaden. Einer habe „eine Meinung, der zweite weiß es nicht genau und richtet sich mal grob nach dem ersten, der dritte hätte zwar schon eine fundierte andere Meinung, aber will er sich wirklich gegen die zwei anderen stellen – zumal wenn er sich dadurch womöglich unbeliebt macht?“
So entsteht ein Zeitgeist, dessen Ursprünge zumeist schnell vergessen werden. Es rennen halt alle in eine Richtung. Nun lässt sich das auf viele Phänome anwenden, so auch auf diesen Artikel von Henrik Müller. Dort geht es gleich um zwei Phänomene des Zeitgeistes: Globalisierungskritik und Donald Trump. Dieser hatte in den vergangenen Jahrzehnten eine einzige politische Grundüberzeugung, nämlich die Ablehnung des Freihandels. Nun müssten viele Globalisierungskritiker den protektionistischen Rückbau in der Weltwirtschaft eigentlich als Souveränitätsgewinn der Politik begrüßen.
Davon ist aber heute nichts mehr zu hören, vielmehr ist die Globalisierungskritik aus der Mode gekommen. Stattdessen hat dieser frühere Zeitgeist neuerdings sein „Herz für den WTO-moderierten Freihandel entdeckt“, so Müller, und plötzlich erschiene den Globalisierungskritikern „das multilaterale System geradezu als Verheißung“. Ansonsten müssten sie dem amerikanischen Präsidenten zustimmen, das können sich Zeitgeist-Akrobaten aber nicht leisten. Schlimmer noch: Sie können es nicht einmal mehr denken. So vergisst der heutige Zeitgeist den von gestern.
Macron in Warschau: Das große Schweigen zwischen West und Ost
piqer:
Ulrich Krökel
Polen und Frankreich im Zentrum eines langen analytischen Europa-Textes der NZZ: Das gab es schon lange nicht mehr. Der wichtigste Grund dafür ist simpel. Die Präsidenten und Regierungen beider Länder habend sich in den vergangenen Jahren kaum über den Weg getraut und lieber ihr eigenes Ding in Europa gemacht. Hier Emmanuel Macron, der proeuropäische Antreiber, der von Paris aus eine Initiative zur Erneuerung der EU nach der nächsten startet. Dort die rechtskonservative PiS-Regierung, die auf die nationale Karte setzt und nur deshalb nicht auf Polexit-Kurs steuert, weil die meisten Menschen in Polen davon nichts wissen wollen.
Nun aber hat Macron Warschau besucht und eine programmatische Rede in Krakau gehalten. NZZ-Autor Ivo Mijnissen fasst das Geschehen und die Konfliktpunkte klug zusammen, womit er auch mehr als genug zu tun hat – so lang ist die Liste der Streitthemen, die beim Macron-Besuch allerdings weitgehend ausgeklammert wurden, während beide Seiten „etwas angestrengt“ nach Gemeinsamkeiten suchten, wobei das abwesende Deutschland als Elefant im Raum stand:
Polen wird nach dem Austritt Grossbritanniens zum fünftgrössten Land in Europa, Frankreich ist das zweitgrösste. Zusammen mit Deutschland bilden die beiden das sogenannte Weimarer Dreieck, das nun nach einem Jahrzehnt der Vernachlässigung wieder aktiviert werden soll. […] Die Positionen der drei Staaten unterscheiden sich [allerdings] in zahlreichen Punkten, und dort, wo zwei miteinander übereinstimmen, schert der dritte aus. So setzen sich Polen und Frankreich für ein unverändert hohes EU-Budget in der Landwirtschaft trotz Brexit ein und sehen die Förderung der Atomkraft als ein Mittel, um die im Green Deal der EU-Kommission verankerten Umweltziele zu erreichen. Beidem steht Berlin zurückhaltend bis ablehnend gegenüber.
Weitere zentrale Streitthemen sind die Migration, der von Macron diagnostizierte „Hirntod“ der Nato, deren größte Fans in Polen sitzen, und die Russland-Politik. Ach ja, und dann ist da noch das Riesenthema Rechtsstaatlichkeit, mit der es die PiS nicht so genau nimmt (zurückhaltend formuliert). Vor diesem Hintergrund sei es beim Macron-Besuch in Polen eher um atmosphärische Aufbauarbeit als um inhaltliche Quantensprünge gegangen, resümiert Mijnissen. Das aber wirft ein Schlaglicht auf die Lage der EU, in der sich zwei der wichtigsten Länder nicht viel zu sagen haben.
Solidarity City: Wie solidarische Städte eine Stadt für alle sein wollen
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Bayern 2 Zündfunk
München ist seit Anfang Dezember 2019 „Solidarity City“. Nach einem Stadtratsbeschluss gehört die bayerische Landeshauptstadt zum europaweiten Netzwerk der Städte und Kommunen, die sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzen.
Es gibt seit dem Sommer 2015 mehrere derartige Netzwerke, die auch auf aktivistischen Schultern ruhen. Dass eine Stadt sich von den nationalen Verteilungsregularien für Geflüchtete emanzipiert, fußt auf der Idee der „Sanctuary Cities“, die es seit den Achtzigern in Nordamerika gibt. Die Städte verstehen sich als sichere Häfen für Flüchtlinge und gewähren allen Stadtbewohnern ein kommunales Bleiberecht und Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und medizinische Versorgung. Die Solidarity City will dieses Konzept auf Deutschland übertragen. Es geht der Solidarity City darum, Strukturen einer „Stadt für Alle“ zu entwickeln – für ein Miteinander, bei dem Menschen unabhängig von Status und finanziellen Kapazitäten wohnen, arbeiten und leben können. Barbara Streidl erzählt in diesem Zündfunk Generator die Entwicklung der Solidarity City Bewegung und zeigt: Wir brauchen dringend neue Konzepte für unsere Städte.