Fremde Federn

Pharmaplan, Greenshushing, Habsburg 2.0

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Gefährliche Zeiten auf Planet Erde, die Öl-Industrie versucht sich in der Opfer-Rolle und woher die Phantasiepreise für Medikamente kommen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Woher die Phantasiepreise für Medikamente kommen

piqer:
Antje Schrupp

Wer bestimmt eigentlich, wie teuer Medikamente sind? Dieser Frage geht diese detailreiche Recherche am Beispiel der Schweiz nach. Die Schweiz spielt eine Schlüsselrolle, weil sich die Verhandlungen zwischen dem Pharmakonzern, der ein neues Medikament verkaufen will, und den Krankenkassen eines Landes, die die Kosten dafür übernehmen sollen, unter anderem an den Preisen orientieren, die anderswo bezahlt werden. Als kleines, aber reiches Land ist die Schweiz dabei wichtig.

Denn: Die offiziellen Listenpreise stehen in aller Regel nur im „Schaufenster“, wo sie der Preistreiberei dienen. In Wirklichkeit werden meist erhebliche Rabatte ausgehandelt, die allerdings geheim gehalten werden. Das heißt: Wie viel genau ein Medikament kostet, weiß niemand außer denen, die sie ausgehandelt haben. Der entscheidende Mechanismus dabei ist letzten Endes ganz schlicht Erpressung: Wenn die Staaten beziehungsweise Krankenkassen sich auf den Deal nicht einlassen, bedeutet das nämlich, dass ihre Versicherten das Medikament nicht bekommen oder privat selbst bezahlen müssen.

Das Thema ist komplex, und gerade Deutschland strebt derzeit an, sich von den Knebelverträgen etwas unabhängiger zu machen. Wer mal einen Durchblick bekommen will, wie das alles läuft, und verstehen möchte, warum die Ausgaben für Medikamente kontinuierlich steigen – und die Staaten offenbar völlig machtlos sind, um da gegenzusteuern – ist nach der Lektüre deutlich klüger.

Greenwashing: Öl-Industrie versucht sich in der Opfer-Rolle

piqer:
Ole Wintermann

Fast könnte einem die fossile Energieindustrie etwas leid tun, wird doch der Spielraum für deren Greenwashing und Profiterzielung zu Lasten unserer aller Lebensgrundlagen immer kleiner.

Auf der vor kurzem in Kanada durchgeführten Konferenz zur CCS-Thematik beklagte sich die kanadische Öl-Industrie über die neue kanadische Gesetzgebung zum Greenwashing unter dem Titel „Bill C-52“, die seit Juni dieses Jahres in Kraft getreten ist. C-52 verbietet Greenwashing der Öl-Industrie und ermöglicht Strafzahlungen von 3% des globalen Umsatzes von Öl-Unternehmen, wenn diese mit nicht nachprüfbaren und nicht eindeutig bewiesenen Umweltschutz- und Emissionsreduzierungsmaßnahmen werben.

Die VerursacherInnen der CO2-Emissionen sind vorab einbezogen worden, klagen jetzt aber darüber, dass das Gesetz sie zu „Greenshushing“ oder sogar dem kompletten Einstellen von Maßnahmen der CO2-Minderung zwingen würden, um nicht Gefahr zu laufen, die Strafen zahlen zu müssen. Übertragen auf den Straßenverkehr würde dies bedeuten, dass Autofahrende das Autofahren komplett einstellen, weil sie sich beklagen, im Falle einer Geschwindigkeitsübertretung Strafen zahlen zu müssen.

Welch ein Blödsinn inzwischen von den VertreterInnen der Öl-Industrie von sich gegeben wird (im Text finden sich zahlreiche Beispiele), um sich als Opfer zu gerieren, ist wirklich bemerkenswert. Aber vielleicht sind es einfach die letzten Widerstände einer sterbenden Industrie, die bemerkt, dass sie die Grundlage der eigenen Wirtschaftlichkeit vernichtet. Ich frage mich dabei ja immer wieder, wie man selbst für solche Unternehmen arbeiten kann, wenn man Kinder hat.

Klimareport 2024: Gefährliche Zeiten auf Planet Erde

piqer:
René Walter

Eine Reihe bekannter Klimaforscher (u.a. Johan Rockström, Michael E Mann und Stefan Rahmstorf) haben im Fachmagazin BioScience den „2024 state of the climate report“ veröffentlicht, in dem sie 35 „planetary vital signs“, also „planetare Lebenszeichen“ untersuchten. 25 davon hätten auch im vergangenen Jahr neue Rekordwerte verzeichnet und der Planet befinde sich auf dem Weg zu einer Erwärmung von 2,7°C bis Jahrhundertende: „Perilous times on planet Earth“ – „Gefährliche Zeiten auf Planet Erde“.

Der neue Report ist eine Auflistung vieler Konsequenzen eines Klimawandels, der heute bereits Spuren der Verwüstung hinterlässt, und gleichzeitig eine bittere Erinnerung daran, wie viel von Entscheidern in Politik und Wirtschaft trotz rund einem halben Jahrhundert gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse erreicht wurde, um diese schleichende globale Katastrophe abzuwenden: Nichts. In den Worten des Berichts: „Tragischerweise versagen wir dabei, ernsthafte Auswirkungen zu verhindern, und wir können nur darauf hoffen, die Tragweite der Schäden einzudämmen.“

Weiter heißt es:

Wir werden Zeuge, wie sich vergangene Vorhersagen in harsche Realitäten verwandeln, während die Auswirkungen des Klimas eskalieren und uns Szenen beispielloser Katastrophen rund um den Globus bescheren, genauso wie menschliches und nicht-menschliches Leid. Wir finden uns inmitten eines abrupten Klima-Chaos, eine gefährliche Situation wie es sie vorher noch nie in der menschlichen Geschichte gab. Wir haben den Planeten in klimatische Konditionen versetzt, die noch nie von unserer Gattung oder unseren prähistorischen Vorfahren des Genus Homo angetroffen wurden.

Ein Bruchteil der modernen Nachfahren unserer Gattung erlebt dieses neu konfigurierte Klima-Chaos gerade am eigenen Leib: Vor zwei Wochen wurde Florida von Hurrikan Helene heimgesucht, es folgte Hurrikan Milton in einem Wirbelsturm-Double Whammy für den traditionell konservativen Bundesstaat im Süden der USA. Ein „double punch of hurricanes„, der emblematisch für die Instabilität des Klimas ist und der den Katastrophenschutz in den Sturmgebieten ans Limit führt. Die Reaktionen auf diesen stürmischen Fingerzeig, vor allem aus dem konservativen Lager der Politik: Lügen, Desinformation und absurdeste Verschwörungstheorien. Alles wie immer also.

Die Autoren des Berichts wollen trotz der enorm grimmigen Tonalität des Papers die Hoffnung nicht aufgeben und schreiben auch davon, dass die Lösungen auf der Hand lägen. Auch diese sind seit Jahrzehnten bekannt: rascher Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, globale Kohlenstoffpreise, „Unbegrenztes Wachstum mit begrenzten Ressourcen ist eine gefährliche Illusion“, eine „drastische Senkung des exzessiven Konsums“, vor allem bei Vermögenden, Umstieg von Fleisch auf pflanzenbasierte Ernährung, und so weiter. Die Zukunft der Menschheit hänge „von unserer Kreativität, Moral und Beharrlichkeit“ ab. Ich bleibe angesichts dieser Zeilen dann doch Pessimist.

Ein russophiler Staatenblock mitten in Europa – Habsburg 2.0?

piqer:
Thomas Wahl

Claus Leggewie widmet sich in der FR den Entwicklungen in Europa um die Visegrád-Gruppe. Er schöpft dabei auch aus seinem gemeinsam mit Ireneusz Paweł Karolewski geschriebenen Buch „Die Visegrád-Connection“.

Die als informeller „Zusammenschluss“ agierenden mitteleuropäischen Visegrád-Staaten (V4), sind Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Diese Gruppe

besitzt keine formale oder institutionale Struktur, sondern erscheint als „halboffizielles Binnenbündnis“  in der Europäischen Union (EU) und bemüht sich um den Austausch von Informationen sowie um die Koordination politischer Positionen.

Diese Länder sind 1991 mit ihren heute etwa 65 Millionen Menschen voller Hoffnungen gemeinsam in das sich neu formierende Europa gestartet. Die Frage, die auch Leggewie umtreibt: Was ist daraus geworden? Was kann noch kommen? Nach ihrem Selbstverständnis auf der offiziellen Internetpräsenz der Gruppe spiegelt sie die

Bemühungen der Länder der mitteleuropäischen Region wider, in einer Reihe von Bereichen von gemeinsamem Interesse im Rahmen der gesamteuropäischen Integration zusammenzuarbeiten. Die Tschechische Republik, Ungarn, Polen und die Slowakei waren schon immer Teil einer gemeinsamen Zivilisation, die kulturelle und intellektuelle Werte und gemeinsame Wurzeln in verschiedenen religiösen Traditionen teilt, die sie bewahren und weiter stärken wollen. Alle V4-Länder strebten eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union an und betrachteten ihre Integration in die EU als einen weiteren Schritt zur Überwindung künstlicher Trennlinien in Europa durch gegenseitige Unterstützung. Sie erreichten dieses Ziel 2004 (1. Mai), als sie alle Mitglieder der EU wurden.

Das explizit formulierte Ziel der Visegrad-Gruppe war es damals auch, zum Aufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur beizutragen, die auf einer wirksamen Zusammenarbeit und Koordinierung innerhalb der europäischen und transatlantischen Institutionen beruht. Auch sollten historische Rivalitäten begraben werden. Gemeinsam hatten diese osteuropäischen Staaten sicher auch ihr grundsätzliches Verständnis über die Zukunft der EU. Wie die SZ schrieb:

Während Deutschland und Frankreich mit ihren aktuellen Regierungschefs auf mehr Integration der EU-Länder drängen, ist in den Visegrád-Ländern die Idee einer EU als nur lockerem Staatenbund deutlich beliebter – in allen politischen Lagern.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist nun dieses Bündnis, welches nie völlig harmonisch agierte, stark erodiert. Während die Polen und Tschechen ihre autoritären Führungen abwählten und sich gegen Russland stellten, fahren Ungarn und die Slowakei einen russlandfreundlichen Kurs. Es bleiben zwar einige Gemeinsamkeiten in verschiedenen Feldern, so die FAZ vor einiger Zeit (aber m.E. immer noch gültig):

Jüngste Verlautbarungen des Bündnisses offenbaren eigene ostmitteleuropäische Akzente wie das Eintreten für geschlossene EU-Außengrenzen und für Atomkraft. Gerade in der Energie- und Klimapolitik haben die Ostmitteleuropäer Potential, im Westen Allianzpartner zu finden, was ihr legitimes Recht ist.

Davon zu trennen ist allerdings, was Ungarns Premierminister Viktor Orbán aktiv versucht. Er

formt eine offen russlandfreundliche und ausdrücklich illiberale Allianz gegen die supranationale Europäische Union. Kurz vor der Übernahme der ungarischen Ratspräsidentschaft, die unter dem Vorzeichen dieser souveränistischen Opposition steht, reiste Orbán Ende Juni nach Wien, um die Gründung der „Patrioten für Europa“ zu vereinbaren.

Und das ist die völlig berechtigte Angst Leggewies:

Mitten in Europa ist mit dem Erfolgen der FPÖ ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der auch gegen Trump nichts einzuwenden hat.

Interessant scheint mir dabei seine Beobachtung, dass wir es hier mit einer „tektonischen Verschiebung“ auf dem Gebiet des ehemaligen Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn zu tun haben.

Dazu gehörten nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dem Scheitern „großdeutscher“ Nationsbildung bis 1918 Territorien im (damals staatlich inexistenten) Polen (Galizien), in der Ukraine (Bukowina) und im heutigen Rumänien (Siebenbürgen), Serbien (Wojwodina), Kroatien, Slowenien und Italien.

Zwar seien die Nationen froh, dem „Völkergefängnis“ kuk-Reich entkommen zu sein. Doch eine gewisse weltanschauliche Konvergenz sei erhalten geblieben, die auch in Serbien und dem serbischen Teil Bosniens auf Resonanz stößt.

Dabei wirken gegensätzliche Kräfte: Für Polen ist die von Wladimir Putin ausgehende Gefahr offenbar weit existenzieller als für Ungarn und die Slowakei, auch erweist sich die polnische, auf einer langen Freiheitstradition beruhende Demokratie resilienter.

Letzteres erscheint mir nicht wirklich gut belegt. Auch der ungarische Aufstand endete 1956 mit einer Invasion der Roten Armee, genau wie 1968 der Prager Frühling in der Tschechoslowakei. Solche historischen Betrachtungen sind sicher interessant, aber man sollte sie nicht überbewerten. Mag sein, dass im einstigen Herrschaftsgebiet der Habsburger,

das kulturellen Hochleistungen genau wie reaktionären Stumpfsinn kannte, beides fort (wirkt): die Sehnsucht nach größtmöglicher national-kultureller Unabhängigkeit und die Unterwerfung ethnischer Gemeinschaften unter ein Imperium. Damit könnte sich „Visegrad“ in eine Art „Habsburg 2.0“ verwandeln.

Diese abschließende Vermutung empfinde ich dann doch als eher unwahrscheinlich …

„Reicher Mann und armer Mann standen da und sah`n sich an.“

piqer:
Achim Engelberg

Vor vier Jahren erschien „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron, der von einer Jugend ganz unten in der alten Bundesrepublik erzählt. In Kaiserslautern wuchs er heran – mit prügelndem Vater und einer depressiven Mutter. Das Buch erzählt von Klassenverhältnissen, die als überwunden galten. Der sozialstaatliche Ausgleich allerdings war nicht flächendeckend, wie er heute zu oft falsch erinnert wird. Etliche fielen durch das bergende Netz.

In marktextremistischen Zeiten traf das Werk auf einen Nerv. Es avancierte zum Bestseller, ein Hörbuch kam bald dazu, das Buch wurde für die Bretter, die manchmal die Welt bedeuten, in Szene gesetzt, zum Theatertreffen eingeladen und nun verfilmt. Es ist in der ARD-Mediathek bis zum 03.10.2025 zu sehen.

Während Politiker „diskutieren“, ob das Bürgergeld wieder abgeschafft werden soll, verdienen Superreiche wie Susanne Klatten über eine Million in der Stunde. Ohne eine kräftige Besteuerung dieser Kaste ist ein Weg ins Offene nicht möglich. (Die Information fand ich zwar beim linken Jan Aken, aber die Quelle könnte reiner nicht sein: Das Manager-Magazin. Das Vermögen von Klatten und Quandt ist im Jahr 2023 um 7,2 Mrd. gewachsen, ihre Hälfte wären 3,6 Mrd. im Jahr. Selbst bei 60 Stunden/Woche ohne Urlaub macht das 3,6 Mrd. / (60×52) = 1,15 Mio. Euro. Jeder kann das mit dem Bürgergeld vergleichen (hier die offiziellen Sätze der Bundesregierung, nach dem alleinstehende Erwachsene 563 Euro im Monat erhalten).

Hier kann man nicht mehr mit Fleiß und Ideenreichtum die einen loben und die anderen wegen Faulheit und Neid tadeln. Hier gilt, was Brecht schrieb:

Reicher Mann und armer Mann standen da und sah`n sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Diese Haltung Brechts, die sich auch in seinem bis heute viel gespielten Werk zeigt, schien in Zeiten des sozialstaatlichen Ausgleichs veraltet, die leider auch Zeiten des Kalten Krieges, mit Mauern und unter der atomaren Bedrohung waren. Gleichzeitig zum Film gibt es eine Dokumentation über den Autor, die bis zum 27.09.2026 zu sehen ist.

Jahrelang war Christian Baron Journalist beim ND. Die linke Tageszeitung konnte deshalb Buch und Verfilmung mit viel Hintergrundwissen besprechen. Dabei sieht sie auch eine Verbesserung gegenüber dem Buch:

Beim Blick auf den Vater, die »Taz«-Redakteurin Doris Akrap hat es in ihrer Besprechung schon beschrieben, hat das Buch seine Schwächen. Die Vaterfigur ist sakrosankt, trotz all ihrer Fehler. Schuld ist allein das System, das ihn so zugerichtet und allein gelassen hat. Nachvollziehbar ist diese Sicht von innen, von außen eben nicht.

Der Film umgeht diese gefärbte Wahrnehmung des Sohnes und geht behutsam gnadenloser mit dem Vater ins Gericht, weil er szenisch zuspitzen kann.

Viel Freude und Erkenntnis beim Lesen und Sehen. Aber, nach Brecht: Glotzt nicht so romantisch.