Fremde Federn

Parteitag in China, Leere in der Lehre, Integrationspolitik für Deutsche

Diese Woche gibt es in den „Fremden Federn“ unter anderem eine Nahaufnahme von Arbeiterkindern an der Uni, Hintergrundinformationen zum Parteitag der chinesischen KP und ein Kapitalismus-KI-Spiel mit hohem Suchtfaktor.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Vor dem großen Parteitag

piqer:
Georg Wallwitz

Seit die USA und die EU sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigen, ist China die Führungsrolle in der Weltwirtschaft zugefallen, die ihm auf Grund seiner Größe ohnehin zusteht. Es lohnt also, im Auge zu behalten, was sich dort tut.

Alle fünf Jahre hält die Kommunistische Partei ihren Parteitag ab, auf dem über Personal und Politik entschieden wird. So auch wieder ab heute.

Präsident Xi hat seine Position in beeindruckender Weise konsolidiert, er ist der wohl mächtigste Führer Chinas seit Deng. Beispielsweise wird erwartet, dass er seinen Namen (neben dem von Mao und Deng) in die Verfassung der Partei schreibt.

Wirtschaftlich ist er kein Liberaler. Er hat einige Reformen zurückgedreht und insbesondere die Herrschaft der Partei in den großen Unternehmen gestärkt.

„it is likely Xi believes he has now structured the economy he wants: one in which market forces are given enough leeway to generate moderately rapid growth, but in which the state still holds all the levers of economic – and therefore political – control. If so, further liberalisation would appear not just unnecessary, but dangerously destabilising. Under Xi, economic reform has reached the end of its road.“

Ob das der richtige Weg ist, China in die Riege der reichen Länder (auf pro-Kopf-Basis) zu führen, sei dahingestellt. Aber was hier passiert, ist die wahrscheinlich wirkungsmächtigste wirtschaftspolitische Entwicklung in der Welt, die es derzeit gibt – Brexit hin, Gerechtigkeitsdebatte her.

Es gibt viel zu viel Geld, und es wird immer mehr

piqer:
Antje Schrupp

Die Geldsummen, die heute weltweit zirkulieren, liegen um 35 Prozent höher als im Jahr vor der Lehman-Pleite, schreibt Aaron Sahr vom Hamburger Institut für Sozialforschung in diesem lesenswerten Text. Über Kreditvergabe schaffen die Banken Geld ohne Ende. Sahr zitiert den Monatsbericht April 2017 der Deutschen Bundesbank, in dem steht:  „Die Fähigkeit der Banken, Kredite zu vergeben und Geld zu schaffen, hängt nicht davon ab, ob sie bereits über freie Zentralbankguthaben oder Einlagen verfügen.“ Dass Banken Geld quasi aus dem Nichts schaffen können, wird also inzwischen auch ganz offiziell so verstanden.

In der klassischen Kapitalismustheorie, zum Beispiel auch bei Marx, wird hingegen davon ausgegangen, dass Profite durch das eingesetzte Kapital erwirtschaftet würden. Diese Regel ist inzwischen aber nicht mehr gültig. Denn Banken können eben Profite erwirtschaften, ganz ohne vorher irgend etwas investiert zu haben. Das Problem dabei ist die Ungleichheit, die dadurch verursacht wird: Arbeitskräfte werden – von der Geldlogik her gesehen – immer überflüssiger, die Löhne sinken.

Dennoch setzt gewerkschaftliche, sozialdemokratische Politik noch immer auf Erwerbsarbeit und Bildung. Damit kämpft sie aber, so Sahr, auf verlorenem Posten:

All das sind die alten, klassischen Lösungsvorschläge, die keinesfalls ausreichen, um die enorme Vermögenskonzentration in globalem Maßstab ernsthaft zu bekämpfen. Sie verkennen die Verteilungseffekte des Key­stroke-­Kapitalismus und damit den Motor der Vermögenskonzentration. Eine gesellschaftliche Debatte, die der Realität ins Auge sieht, kann sich nicht auf Arbeitsmarktpolitiken und Umverteilungsmaßnahmen beschränken. Sie muss die private Geldschöpfung zur Disposition stellen.

Betriebswirtschaftsleere – Sinnkrise der BWL

piqer:
Ali Aslan Gümüsay

Man soll sich nicht mit fremden Federn schmücken: Die Begriffskreation Betriebswirtschaftsleere ist nicht von mir, sondern stammt von Axel Gloger’s gleichnamigen Buch. Die BWL ist in einer Sinnkrise, schreibt nun die Wirtschaftswoche:

„Sie bereitet Unternehmer nicht aufs Gründen vor, Manager nicht aufs Führen und Fachkräfte nicht auf die Expertenlaufbahn. Will das Fach relevant bleiben, braucht es Reformen.“

Eine gute Analyse. Wir müssen die Inhalte (Fakten) und Formate (90-minütige Monologe) überdenken. Ohnehin kann man sich BWL-Grundlagenwissen auch später aneignen. Und vielleicht gibt es bis dahin schon Maschinen, die dieses Wissen schneller und besser abrufen.

Leider ist die Analyse einseitig und unvollständig. Denn die Kur und Kür ist nicht bzw. nicht nur, praxisrelevanter wie die IT oder das Ingenieurwesen zu werden, sondern eben auch realitätsnaher wie die Sozialwissenschaft und tiefgründiger wie die Geisteswissenschaft zu sein – um das mal ganz plakativ zu umschreiben.

Auch liegt die Krux an der Sache im Bewertungsmaßstab, den wir an die BWL anlegen. Statt sie instrumentell als Vorbereitung auf einen Job zu verstehen, sollte sie als Vorbereitung auf die Gesellschaft dienen. Dann blicken wir weiter, u.a. auf soziale Unternehmen, Familienunternehmen und neuartige Unternehmensformen: hin zu einer Fusion aus Beruf und Berufung, die Arbeit, Familie, Leben und die Symbiose neu denkt.

Dann hat die BWL nicht nur einen neuen engeren instrumentellen Nutzen, sondern auch tiefgründigen gesellschaftlichen Sinn.

Was hilft gegen AfD-Wähler? Integrationspolitik für Deutsche.

piqer:
Christian Huberts

Wilhelm Heitmeyer, der ehemalige Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, sagt in diesem Interview nichts, was er nicht schon diverse Male gesagt hätte. Das ist auch ein wenig die Tragik seiner Person. Mit der Langzeitstudie Deutsche Zustände konnte er von 2002 bis 2012 immer wieder aufzeigen, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung verbreiteter ist, als allgemein angenommen. Und ebenso, dass es vor allem wirtschaftliche Krisen, wachsende Zukunftsängste und die daraus resultierende soziale Desintegration sind, die den Hass auf Fremde oder als nutzlos geltende Menschen über die Jahre hat ansteigen lassen. Heitmeyer selbst spricht von einem »entsicherten Jahrzehnt«.

Nach der vergangenen Bundestagswahl und dem Erfolg der AfD, merkt man Heitmeyer seinen Pessimismus deutlich an. Dabei wäre wahrscheinlich spätestens jetzt der richtige Zeitpunkt, um die Ergebnisse seiner Arbeit ernster zu nehmen. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass gegen die Effekte sozialer Desintegration nur eine Politik der Reintegration hilft. Damit etwa »nutzlose« Langzeitarbeitslose oder die »besorgte« Mittelschicht ihre Anerkennung nicht im autoritären Nationalradikalismus suchen, muss das Stigma der ökonomischen Nutzlosigkeit und die Angst vor dem Jobverlust effektiv gelindert werden:

Integriert sein bedeutet, dass Menschen Zugang zu den Institutionen der Gesellschaft wie dem Arbeitsmarkt, dem kulturellen und politischen Leben haben, und auch – das ist sehr wichtig – dass sie sich als anerkannt wahrnehmen. Das Wahrgenommenwerden und die Anerkennung sind für viele aber nicht gewährleistet. Das gilt nicht nur für Zugewanderte und Flüchtlinge, sondern auch für Einheimische, vor allem für viele Menschen im Osten. […] Ganz entscheidend wird es sein, eine Politik zu machen, die die Desintegration beendet, also eine Integrationspolitik auch für alle Deutschen, die das Gefühl haben, ausgeschlossen zu sein.

13 FAQs zur Krise um Katalonien

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Eric Bonse

Das erste Ultimatum der spanischen Regierung an die Katalanen ist verstrichen, am Donnerstag folgt das zweite und wohl auch letzte. Danach könnte Premier Mariano Rajoy Artikel 155 der spanischen Verfassung auslösen und die abtrünnige Region an die Kandare nehmen. Geschieht ihnen recht, denken viele, die Separatisten haben einfach überzogen.

Das kann man so sehen. Man kann aber auch anders argumentieren – wie der Schriftsteller und Politologe Raul Zelik. Auf seinem Blog hat er 13 Fragen und Antworten zum Konflikt um Katalonien zusammengestellt, die manches Klischee gerade rücken und viele Fragen für die Zukunft Spaniens und Kataloniens aufwerfen. Selbst die Verfassung kommt dabei nicht gut weg…

Arbeitsmigration zwischen Ost und West: Ein Transferhandel wie im Fußball

piqer:
Ulrich Krökel

Die Arbeitsmigration nach der EU-Osterweiterung hat in einigen Ländern Westeuropas zu teils extremen Abwehrreaktionen geführt. In Großbritannien galt die Einwanderung billiger Arbeitskräfte aus dem Osten als einer der entscheidenden Gründe für das Ergebnis des Brexit-Referendums. In Frankreich wurde der polnische Handwerker (plombier polonais) zum Symbol für eine Bedrohung der Grande Nation von außen. In den Niederlanden bediente sich der Rechtspopulist Geert Wilders anti-slawischer Ressentiments, um 2014 vor dem Referendum über die EU-Ukraine-Assoziierung  nationalistische und antieuropäische Stimmungen zu schüren. Auch in Deutschland sind Abwehrreflexe dieser Art nur zu gut bekannt.

Was bei alldem immer wieder vergessen wird, ist, dass die EU-Staaten im Osten Europas im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit oft ihre bestausgebildeten jungen Menschen gen Westen ziehen lassen mussten. Dieser sogenannte Braindrain hat vor allem im Baltikum teils dramatische Auswirkungen gehabt. Das ist, grob skizziert, der Hintergrund, vor dem Carsten Dierig über die andauernden Versuche deutscher Unternehmen berichtet, in Polen Fachkräfte anzuwerben – in einer Weise, die an den dubiosen Transferhandel westeuropäischer Fußballvereine erinnert:

Doch der Konkurrenzkampf um die Talente wird härter. Denn neben den deutschen und anderen internationalen Unternehmen buhlen natürlich auch die Polen selbst um ihre gut ausgebildeten Fachkräfte.

Themen wie diese werden allzu oft vergessen, wenn über grassierenden polnischen (osteuropäischen) Nationalismus und Populismus debattiert wird. Die Erfolge der rechtskonservativen polnischen PiS-Partei bei den Wahlen 2015 sind – das sollte man sich immer wieder vor Augen führen – nicht im luftleeren Raum entstanden.

Ein kleines Spiel zeigt, wie Kapitalismus und KIs die Welt unterwerfen könnten

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Rico Grimm

Dieses Spiel habe ich vor einer Stunde entdeckt und es kam mit einer Warnung: Kann süchtig machen. Nun wird das ja über viele Spiele gesagt. Aber in der letzten Stunde habe ich tatsächlich nicht viel anderes gemacht als eine einzige Zahl im Auge zu behalten: wie viele Büroklammern ich schon produziert habe.

Als fiktiver „Manager“ sollst du so viele Büroklammern wie möglich produzieren – dazu kannst du den Preis einstellen, Nachschub kaufen und die Zahl der eingesetzten Maschinen bestimmten. Immer mal wieder kannst du deine Produktionsprozesse aber mit Spezial-Add-Ons verfeinern. Zum Beispiel kannst du durch Marketing die Nachfrage steigern und so mehr Geld für deine Büroklammern verlangen oder mit besseren Produktionsmethoden den Output steigern.

Der Clou: Mit jedem Add-On gibt es weniger zu managen, irgendwann läuft das ganze Ding von alleine und produziert immer mehr Büroklammern und lässt sich immer neue Sachen einfallen, um noch mehr davon verkaufen zu können. Das Spiel simuliert eine künstliche Intelligenz und geht auf ein Gedankenspiel des KI-Theoretikers Nick Bostrom zurück: Eine KI bekommt eine Aufgabe, in diesem Fall Büroklammern produzieren, und wird alles tun, um immer mehr Büroklammern zu produzieren, im schlimmsten Fall sogar die Menschheit unterwerfen. Das ist der Schlüssel: Die KI müsste uns gar nicht feindlich gesinnt sein, um eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit darzustellen … Wer das Spiel lange genug spielt, wird genau das merken.

Warum der Ausstieg aus der Braunkohle ganz einfach ist

piqer:
Nick Reimer

Die „Stromlücke“ ist ein Kampfbegriff, den die fossile Energiewirtschaft einst erfand, um ihre Atomkraftwerke länger am Netz zu halten: Werden die – wie im Jahr 2000 von Rot-Grün beschlossen – wie geplant abgeschaltet, dann geht in Deutschland das Licht aus.

Heute wissen wir, dass die Behauptung glatt gelogen war: Neun Atomkraftwerke sind seitdem vom Netz gegangen und noch immer brennen alle Lichter in diesem Land. Die „Stromlücke“ aber ist immer noch lebendig – hier zum Beispiel, hier und hier. Man könne nicht gleichzeitig aus der Atomkraft UND der Braunkohle aussteigen, wird argumentiert.

Nun sind die Bündnisgrünen angetreten, im Falle einer Regierungsbeteiligung die 20 ältesten Kohlekraftwerke still zu legen. Deutschland ist mit Abstand der größte Förderer und Verbrenner von Braunkohle, Braunkohle ist der mit Abstand klimaschädlichste Energieträger den es gibt. Über die Chancen, das Klimaziel der Bundesrepublik noch irgendwie zu schaffen, hat meine Kollegin Daniela Becker hier gerade gepiqd.

Dankenswerterweise hat nun Michael Bauchmüller von der Süddeutschen einmal nachgerechnet: Nie werden bundesdeutsche Kraftwerke so viel Strom ins Ausland exportieren wie in diesem Jahr. Der Überschuss entspricht in etwa der Stromproduktion von – tata! – 20 Kohle-Kraftwerksblöcken. Zitiert wird Felix Matthes, Energieexperte beim Öko-Institut in Berlin: „Dieser Export kostet sechs Prozentpunkte des deutschen Klimaziels“.

Es gibt also keine Stromlücke, das ist eine reine Stromlüge!

Dummerweise hat sich das noch nicht bis in die Gewerkschaft IGBCE herum gesprochen. Die tagte kürzlich in Hannover auf ihrem 6. Ordentlichen Gewerkschaftskongress. Dort behauptete der alte und neue IGBCE-Chef Michael Vassiliadis: „In Deutschland jedoch geht mehr und mehr sichere Kraftwerksleistung verloren.“ Und: „In der kommenden Legislaturperiode wird sich die Politik aber auch mit dem Thema Versorgungssicherheit befassen müssen.“ Sie wissen schon: Wegen der Stromlücke!

Arbeiterkinder an der Uni: Wenig Geld und noch weniger Beistand

piqer:
Christian Huberts

Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben, gehen 21 an eine Hochschule, schaffen 15 einen Bachelor, machen acht den Master, und nur einer promoviert. […] Zum Vergleich: Von 100 Kindern mit mindestens einem studierten Elternteil gehen 74 an eine Hochschule, schaffen 63 einen Bachelor, machen 45 den Master und promovieren zehn.

Diese Ausgangslage ist hinlänglich bekannt und etwa durch den Hochschul-Bildungs-Report oder den Chancenspiegel gut dokumentiert. Der Artikel von Madlen Ottenschläger bei ZEIT Campus wirft jedoch ebenso einen spannenden Blick hinter die Statistiken und befragt Studierende aus Arbeiterfamilien nach ihren konkreten Erfahrungen. Dabei wird zwar deutlich, dass Geld – trotz BAföG und nicht mehr vorhandener Studiengebühren – ein großes Problem ist, noch viel mehr aber immaterielle Faktoren das erfolgreiche Studium gefährden. Oft fehlt es in den Nicht-Akademiker-Familien an Verständnis für den akademischen Bildungsweg und seine Vorteile.

Es kann außerdem kein Erfahrungswissen über die Abläufe und Strukturen an der Uni vermittelt werden. Jedes Arbeiterkind startet bei Null und distanziert sich mit der gelungenen Assimilation an den Studienalltag stetig von der eigenen Familie. Das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, hört ebenso nie ganz auf. An den Instituten fehlt es derweil an spezialisierten Beratungsangeboten sowie an Lehrpersonal, das entsprechend geschult ist. Denn hier wirken der Mangel an Geld und der Mangel an Verständnis dann oft sehr unglücklich zusammen: Die Studentin Jasmin König beschreibt, wie eine Abschlussprüfung so gelegt wurde, dass bis zum Termin ihr BAföG bereits abgelaufen wäre. Die Bitte an den Dozenten, den Prüfungstermin um wenige Tage zu verschieben, so dass er keine existenzielle Bedrohung mehr darstellt, wurde wie folgt beantwortet:

Das ist kein triftiger Grund.