Fremde Federn

Orbáns Bilanz, Exportschlager Diesel, Londoner Bierflut

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein konkreter Vorschlag zur Reform der Eurozone, wie Emmanuel Macron Frankreich und Europa auf die Digitalisierungswelle vorbereiten will und was die Schweizer UBS-Bank mit der Abholzung von Regenwäldern zu tun haben könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Vorschläge für eine politische Reform des Euro-Raums

piqer:
Jürgen Klute

Dass die EU oder zumindest der Euro-Raum einer Reform bedürfen, ist offensichtlich. Denn dass eine Währungsunion ohne eine entsprechende politische Union nicht funktioniert, hat die EU-Krise seit 2008 hinreichend empirisch belegt. Die Frage ist nur, wie genau eine Reform aussehen soll. Darüber gibt es seit der Wahl von Macron viele Kommentare.

Nun hat ein interessanter Autorinnen-Kreis (Namen siehe unten) aus EU-PolitikerInnen, PolitikerInnen aus mehreren EU-Mitgliedsstaaten und WirtschaftswissenschaftlerInnen einen Vorschlag veröffentlicht, der deutlich konkreter als die meisten bisherigen Debattenbeiträge wird.

Der Charme dieses Vorschlags liegt genau in dieser Zusammensetzung des AutorInnenkreises und darin, dass er bewusst nicht auf der ökonomischen Seite ansetzt, sondern auf der politischen und institutionellen.

Das macht diesen Vorschlag lesens- und diskussionswürdig.

Ein offener Punkt ist allerdings, dass das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität in einer reformierten EU in diesem Vorschlag nicht thematisiert ist. Denn gerade der Katalonien-Konflikt in Spanien zeigt stellvertretend für ähnliche Konflikte in andern Mitgliedsländern der EU, dass eine EU als machtvoll-zentralistischer Staat nach französischem Vorbild nicht funktionieren wird. Aber der Vorschlag dieses Autorinnenkreises ist ja offen für weitere Komponenten. Entscheidend ist nur, dass es nicht beim Diskutieren bleibt und das dieser Vorschlag zur Überwindung der Berliner Aussitzeritis in der EU-Politik beiträgt. Das Potential dazu hat dieser Vorschlag.

Ungarn: Orbáns Bilanz in Zahlen und Worten

piqer:
Ulrich Krökel

Mit wachsender Irritation habe ich zuletzt auf die Berichterstattung über den Wahlkampf in Ungarn geblickt. In den meisten Texten wurde vor allem die Frage diskutiert, ob es für den quasi-autoriär regierenden Premier Viktor Orbán am 8. April ein böses Erwachen geben könnte (z. B. hier). Zumindest die Zweidrittelmehrheit scheint in Gefahr zu sein, womöglich sogar die einfache Mehrheit.

Zugegeben: Das hat Nachrichtenwert.

Und dennoch: Was mir lange fehlte, war das klassische Korrespondentenstück, das mitten aus dem Wahlkampf heraus erklärt, warum die Ungarn so ticken, wie sie ticken, und wie es aktuell bestellt ist um das Land der Magyaren. Nun habe ich endlich etwas Lesenswertes zum Thema entdeckt. „Klassisch“ kann man die Zusammenstellung von Matthias Kolb auf sueddeutsche.de zwar auch nicht unbedingt nennen. Dafür ist der Versuch, Orbáns Bilanz in neun Grafiken zu präsentieren, umso gelungener.

Da gibt es nicht nur einen Blick auf die Wahlumfragen sowie demoskopische Angaben zur umstrittenen Migrationspolitik, sondern auch die einschlägigen Zahlen von Freedom House, Transparency International, EU-Kommission und Eurostat (zur wirtschaftlichen Lage) und anderes mehr. Kolb erklärt dann den Rest, den die Zahlen nicht sofort hergeben, z. B. beim Vergleich mit dem ähnlich rechtsnational regierten Polen:

In einer Hinsicht sind sich Warschau und Budapest jedoch uneins: Die Polen sehen Wladimir Putin als Bedrohung, während Orbán engste Kontakte zum Kreml-Chef pflegt. Manche Kritiker sprechen schon davon, dass Russland den ungarischen Staat mit Wirtschaftsdeals gekapert habe. Seit der nationalkonservative Premier dort regiert, hat Putin Ungarn sieben Mal besucht.

Alles in allem also ein absolut rundes Info-Stück!

Was die Schweizer UBS-Bank mit der Abholzung von Regenwäldern zu tun haben könnte

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Daniela Becker

Tropische Regenwälder sind immens wichtig im Kampf gegen den Klimawandel. CO2 wird hier ohne technischen Megaaufwand aus der Luft geholt, weil es auf natürlichem Wege durch Photosynthese abgespalten und langfristig im Holz gespeichert wird. Wenn es gelänge, die noch bestehenden Wälder zu vergrößern, könnte die Erderwärmung verlangsamt werden, so die wissenschaftliche Meinung. Leider schreitet ihre Vernichtung unvermindert schnell voran. Mit illegal geschlagenem Holz lässt sich enorm viel Geld verdienen.

Das Schweizer Magazin Republik hat sich in eine dieser Geschichten vertieft. Ein hoher Politiker in Malaysia steht unter Verdacht, aus der Abholzung des Regenwaldes Millionen veruntreut zu haben. Der Reporter hat anhand von mehr als tausend Seiten Bankbelegen, Gerichtsprotokollen und Gesprächen mit involvierten Personen in Europa und Asien die Machenschaften nachgezeichnet. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Rolle der UBS, die größte und mächtigste Bank der Schweiz. Es ist alles dabei: Korruption, ein toter Staatsanwalt, eine furchtlose Journalistin, Geldwäscherei.

Leider bislang eine Geschichte mit ungewissem Ausgang. Die Behörden ermitteln inzwischen seit sechs Jahren gegen die UBS.

Ein dritter Grund für die lange Dauer der Ermittlungen liegt in der juristischen Feuerkraft der Bank. Ihre Anwälte wissen die Verfahrensrechte der UBS durchzusetzen. Allein die Frage der Entsiegelung des Finma-Memorandums beschäftigte die Parteien fast zwei Jahre. Gemäß Informationen der Republik schrieb die oberste Konzernleitung der UBS im Frühjahr 2017 sogar einen Brief an Bundesanwalt Michael Lauber und intervenierte im Fall. «Das zeigt ein sonderbares Verständnis von der Bank für die Schweizer Rechtsstaatlichkeit und wirkt reichlich unsouverän», sagt eine informierte Quelle.

Es ist ein Verdienst der Republik, die wenig kooperative Verhaltensweise der UBS anzuprangern. Und vielleicht ein Anlass für den ein oder anderen Leser, zu einer transparent arbeitenden Bank zu wechseln.

Der „mündige Arbeitnehmer” ausgerechnet aus chinesischer Sicht: Radikaler als vermutet

piqer:
Ole Wintermann

Den einzelnen Arbeitnehmer mit Hinweis auf die US-Verfassung („All men are created equal”) ernst zu nehmen, ist in westlichen Unternehmen eher die Ausnahme, im Konzept von „RenDanHeYi“ der chinesischen Firma Haier die Maxime. Dabei ist es mehr als ungewöhnlich, dass der CEO von Haier genau diesen Hinweis auf die US-Verfassung ausgerechnet vor Beschäftigten einer aufgekauften Sparte des US-Unternehmens GE vorträgt, beinhaltet dies doch nicht wenig Ironie, bedenkt man den autoritären Führungsstil des langjährigen CEOs der Firma GE, John Welch.

Hinter der Idee des mündigen Arbeitnehmers steckt die Feststellung, dass es häufig nur eine Handvoll Leute in Machtpositionen in westlichen Unternehmen sind, die im eigenen (Macht-)Interesse Veränderungen der Organisationsstruktur und des Geschäftsmodells verhindern und damit viele Arbeitsplätze aus Eigennutz in Gefahr bringen.

Zhang Ruimin, der CEO von Haier, setzt diesem Modell „veralteter Verhaltensweisen” die Idee der Stadt als Organisationsprinzip moderner Unternehmen entgegen. Dezentralität und der Bürger (sprich: Kunde) als wahrer Entscheider prägen dieses Denken und die Prozesse in dieser Organisation. Damit wird aber jeder Arbeitnehmer – mit allen Rechten und Verpflichtungen – zu seinem eigenen Boss, er wird zum mündigen Arbeitnehmer. Kann er nicht deutlich machen, dass seine Aktivität dem Kunden einen Mehrnutzen bringt, trennt man sich von ihm.

Diese Sichtweise mag radikal sein. Vielleicht ist sie aber einfach nur für die „People in Charge” herausfordernd.

Für eine handvoll Euro: Wie die Bundesregierung versucht, Flüchtlingen ihren Asylanspruch abzukaufen

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Fabian Goldmann

Wessen Flucht vor Armut, Terror oder Krieg dieser Tage auf dem Flur einer deutschen Ausländerbehörde ein zeitweiliges Ende fand, muss sein Glück kaum fassen können: Auf bunten Flyern informiert dort das Bundesinnenministerium über sein Programm „StarthilfePlus“. 1.200 Euro winken jedem Schutzsuchenden, der bereit ist auf sein Asylrecht zu verzichten und schon vor der Bearbeitung seines Asylantrags wieder in das Land zurückzukehren, aus dem er gerade erst geflohen war. Das ist noch nicht alles: Noch einmal 600 Euro Prämie spendiert das Ministerium für jedes Kind, das man „freiwillig“ in die unsichere Heimat mitnimmt. Für kinderreiche Asylbewerber gibt es sogar noch einmal 500 Euro Familienbonus oben drauf. Da klingt die Vorstellung von einem Leben als Bittsteller auf den Straßen Kabuls, als Sexklavin des IS oder als Folteropfer in einem eritreischen Militärknast doch nur noch halb so schlimm.

Malene Gürgen hat für die taz versucht, die Maßnahmen der Bundesregierung zur „freiwilligen Rückkehr“ in etwas weniger zynische Worte zu fassen. Es ist ihr glücklicherweise nicht ganz gelungen.

Deutscher Schrott für Osteuropa: Exportschlager Diesel

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Keno Verseck

Deutsche und westliche Schrott- und Müllexporte nach Osteuropa haben eine lange Tradition. Eines der häufigsten Zielländer ist dabei Rumänien. Verschoben wurde dorthin in den letzten drei Jahrzehnten schon vieles, angefangen von alten Bussen und Straßenbahnen, die als humanitäre Hilfe geliefert wurden, bis hin zu Giftmüll, der in siebenbürgischen Dörfern landete. Auch die massenhafte Einfuhr von Gebrauchtwagen aus westlichen Ländern nach Rumänien begann fast sofort nach dem Sturz der Ceaușescu-Diktatur im Dezember 1989.

Und sie hält bis heute an. Wiederum ist dabei Deutschland eines der bevorzugten Herkunftsländer – denn Deutschland hat den größten Gebrauchtwagenmarkt Europas und liegt vergleichsweise dicht an Südosteuropa. Der rumänische Staat hat die Gebrauchtwageneinfuhr immer wieder zu reglementieren und einzuschränken versucht, teils aus Umweltschutzgründen, teils zum Schutz der einheimischen Autoindustrie. Die Maßnahmen reichten von speziellen Einfuhrzöllen bis zum „Programm `Schrottmühle´“, bei dem man sein altes Auto gegen ein neues zum staatlich subventionierten Vorzugspreis eintauschen konnte. Dauerhaft erfolgreich war Rumänien mit all diesen Maßnahmen nicht (bzw. mangelte es an politischem Willen zur Konsequenz). Legale Tricks, Korruption und Lobbyinteressen verhindern die Einschränkung der Gebrauchtwageneinfuhr bis heute.

Seitdem Dieselautos in Deutschland immer mehr in der Kritik stehen und Fahrverbote drohen, boomt der Verkauf der Wagen nach Rumänien. Die Wirtschaftswoche hat dazu eine spannende und stellenweise erschreckende Reportage veröffentlicht, die beleuchtet, mit welchen Methoden rumänische Gebrauchtwagenhändler auf dem deutschen Markt einkaufen und unter welchen Bedingungen Fahrer die Wagen nach Rumänien schaffen.

Die Reportage kann auf Blendle kostenpflichtig gelesen werden.

Emmanuel Macron zur digitalen Zukunft der Arbeit – Wir müssen Teil der digitalen Disruption werden

piqer:
Ole Wintermann

Vor einigen Tagen gab der französische Staatspräsident Emmanuel Macron der US-Wired ein umfangreiches Interview (komplett in Englisch, wie die Autoren betonen) über die gesellschaftliche, politische, strategische und wirtschaftliche Bedeutung der Künstlichen Intelligenz (KI), speziell aus französischer Sicht.

Macron geht auf die Auswirkungen der KI auf das Militär (Ablehnung automatisierten Tötens), demokratische Entscheidungsfindungen (am Ende muss der Mensch entscheiden), Verkehrspolitik (bin tief beeindruckt), den Gesundheitsbereich (Chance für bessere Gesundheit), den Schutz der Privatsphäre (Europa sieht es anders als die USA) und natürlich zuvorderst auch auf unsere Arbeitsplätze ein.

Bezüglich der Auswirkungen auf unsere Arbeit bevorzugt er im Gegensatz zu vielen seiner deutschen politischen Kolleginnen ganz klar die offensive Herangehensweise: “I think artificial intelligence will disrupt all the different business models and it’s the next disruption to come. So I want to be part of it.” Er betont, dass gerade in der digitalen Logik des Arbeitens gilt: “the winner takes it all”. Also werde man in Frankreich, so Macron, massiv in Bildung, Fortbildung, Forschung, Start-ups und die Reform der Risikofinanzierung investieren, um alle Systeme der Dynamik der digitalen Akzeleration anzupassen und damit deren Adaptionsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen zu erhöhen. Disruption wird zwar Arbeitsplätze kosten; KI kann aber auch, so Macron, helfen, Menschen auf neue Jobs vorbereiten.

Es ist beeindruckend, wie Macron im Laufe des Interviews weitere Meta-Themen wie die Wiege der Demokratie, Menschenrechte oder kulturelle Unterschiede zwischen den USA und Europa ohne Probleme unterbringt und in einen digitalen Kontext einordnet. Er führt die Vereinbarkeit französischer Interessen mit einer europäischen Agenda vor Augen und zeigt en passant, wie eine europäische digitale Agenda aussehen könnte. Mehr davon!

Spuren der Armut: Die Londoner Bierflut von 1814

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Moritz Hoffmann

Die Geschichte des Kapitalismus ist nicht arm an katastrophalen Unfällen, an Episoden von Tragik und Gier, von menschlichem Versagen und Sabotage. Zu den aufsehenerregendsten dieser Katastrophen gehören solche, bei denen große Tanks brechen und sich ihr Inhalt in Flutwellen in die Umgebung ergießt. Der wohl bekannteste dieser Unfälle ist die Bostoner Melasse-Flut von 1919, in der 21 Menschen starben.

Doch über ein Jahrhundert vorher kam es zu einer ähnlichen, aber ganz anderen Katastrophe, die im Zeichen ihrer Zeit steht: Mitten in London, ganz in der Nähe des heutigen British Museum, explodierte in einer Brauerei ein Fass mit über 600.000 Litern gärendem Bier. In einer Kettenreaktion platzten weitere Fässer, bis sich 1,5 Millionen Liter durch die Straßen ergossen und mindestens acht Menschen töteten.

Dass diese Flut exemplarisch für ihre Zeit steht, zeigen die von Christopher Klein sehr einfühlsam (und mit zarten Ausflügen ins Fiktionale) gezeichneten Charaktere der Opfer sowie der Umgang mit der Katastrophe.