Fremde Federn

Ökonomie-Lehrbücher, Netzstabilität, 15-Stunden-Woche

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wieso der Kapitalismus nur noch 15 Jahre hat, warum hinter der Forderung, Familien zu entlasten, nicht viel steckt und wie viel Profit man erwirtschaften muss, um als „Wirtschaft“ zu gelten.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Familien zahlen weniger Steuern als oft behauptet wird

piqer:
Rico Grimm

Dass Familien steuerlich entlastet werden sollen im Vergleich zu Alleinstehenden ist selbstverständlich. Wohl auch deswegen wird es so oft von Politikern gefordert. Aber was steckt wirklich hinter dieser Forderung? Nach diesem Text von Mark Schieritz weiß ich: Dahinter steckt nicht viel.

Denn:

Der durchschnittliche Einkommenssteuersatz von ledigen Deutschen: 39,9 Prozent.

Dieser Satz bei einem Ehepaar mit zwei Kindern und einem Verdiener: 21,7 Prozent.

Das eigentliche Problem beim deutschen Einkommenssteuerrecht: Auch einige Unternehmen müssen die ziemlich hohen Einkommenssteuersätze zahlen, davon betroffen sind vor allem die kleineren Betriebe, die oft als Personengesellschaften firmieren. Wie sich das ändern ließe, beschreibt Schieritz auch.

Für die 15-Stunden-Woche – Rutger Bregman im Interview

piqer:
Cornelia Daheim

Rutger Bregmann, niederländischer Historiker und Autor, ist eine der spannendsten Persönlichkeiten im Diskurs um die Zukunft von Arbeit und Gesellschaft, der hier seine Position im Interview mit dem Spiegel ausführt. Seine Sicht: Eine 15-Stunden-Woche, wie sie sich schon der Ökonom J.M. Keynes 1930 vorstellte, ist machbar.

Auf die Frage, warum diese Vision bisher nicht eingetreten sei, antwortet er: Wegen des Konsums.

„Die Wirtschaft hat es geschafft, aus Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten, Konsumenten zu machen. Das Ergebnis ist, dass wir massenhaft Zeug kaufen, das wir nicht brauchen.“

Laut Bregman geht es also um einen – langfristigen – Umbau der Gesellschaft, bei dem auch ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung denkbar, gar wünschbar werden könnte, mit einer Ausrichtung an Lebensqualität und Sinn (und ja, er ist auch pro Grundeinkommen). Vieles an interessanten Perspektiven wird dabei angesprochen, von Phänomen der sinnentleerten Arbeit bis zur Frage, ob nicht viele heute eine geringere Arbeitszeit einem höheren Gehalt vorziehen würden, bis zur abnehmenden Produktivität bei langen Arbeitszeiten.

Tiefe zum Konzept kann das Interview in seiner Kürze natürlich nicht liefern, aber dafür macht es neugierig auf mehr; Bregmann hat inzwischen einiges publiziert, wo man vertiefen kann (zum Beispiel hier und hier). In jedem Fall ist das ein ungewöhnlicher Blick auf Fragen rund um die Zukunft der Arbeit für alle, die weiter denken wollen, als es meist üblich ist. Leider liegt das Ganze hinter einer Paywall – hier alternativ zum Link zum Spiegel noch der zu eben diesem Interview bei Blendle.

Welches ideologische Fundament Ökonomie-Lehrbücher haben

piqer:
Rico Grimm

Okay. Es wird wohl keinen überraschen, was Helge Peukert von der Universität Siegen herausgefunden hat: die meisten Wirtschaftslehrbücher sind neo-klassisch, marktkonform. Aber „das widerspricht dem Bildungsgebot eines fairen Überblicks der Theorielandschaft“, wie Peukert sagt. Anschließend benennt er theoretische Alternativen, die fehlen. Richtig wertvoll wird das Interview aber durch zwei Dinge: Zum einen skizziert Peukert den Mechanismus, durch den die Lehrbücher so aussehen wie sie aussehen. Und zum anderen empfiehlt er am Ende selbst zwei Lehrbücher, die besser geeignet sein könnten, um jungen Menschen das ganze Angebot der VWL zu vermitteln. Habe direkt beide auf meine Leseliste getan!

Wenn für die Netzstabilität Industrieanlagen abgeschaltet werden müssen

piqer:
Daniela Becker

Dieser Text wird gerade von vielen Vertretern der Schwerindustrie geteilt. Thema ist, dass aufgrund schwankender Ökostromproduktion immer wieder große Verbraucher abgeschaltet werden müssen, um das Netz stabil zu halten.

Kurz nach 12.00 Uhr jedenfalls ist die „Minutenreserve“ der Pumpspeicherkraftwerke verbraucht, aus dem Ausland lässt sich auch nicht mehr Strom ziehen. Jetzt werden Großverbraucher wie Aluminiumhütten, Walzwerke und Gießereien abgeschaltet. Und zwar deutschlandweit – alle, die verfügbar sind. „In der Summe haben Aluminium und andere Industrieunternehmen 1025 Megawatt Leistung auf Anforderung der Netzbetreiber aus der Produktion genommen“, heißt es später bei Hydro Aluminium in Neuss. So bleibt das Netz doch noch stabil, in den Haushalten und Büros merkt niemand etwas. Nach knapp drei Stunden, gegen 15.00 Uhr, kehrt wieder Ruhe ein.

Derartige Lastabwürfe können insbesondere für die Metallindustrie problematisch werden.

Oliver Hommel, Leiter des weltweit größten Aluminiumwalzwerks Alunorf bei Neuss, warnt, schon Schwankungen der Netzfrequenz im Millisekundenbereich führten zu Schäden an den hochempfindlichen Geräten. Bei Stromausfällen von mehr als zwei Stunden könnten Anlagen „unwiederbringlich“ verloren gehen. „Deshalb beobachten wir den stetigen Anstieg an Stresssituationen im Netz mit großer Sorge.“

Die Situation ist faktisch richtig und muss gelöst werden. Leider schließt der Text mit dem Satz, dass die Beratungen über den Kohleausstieg „den Stresspegel bei den Managern weiter steigen lässt“.

Die Antwort auf die lange bekannte Volatilität der Windkraft und Photovoltaik kann nicht lauten, dass man den aus Klimaschutzgründen dringend notwendigen schnellen Kohleausstieg in Frage stellt. Die Lösungen sind bekannt: bessere Prognosetools, Smart Grids, mehr Speicher, Power-to-X-Lösungen und Netzausbau. Dass sich Deutschland bislang weitestgehend auf den Aufbau von Erzeugungsanlagen konzentriert hat, ist ein schwerwiegendes Versäumnis der Politik.

Der Kapitalismus hat noch 15 Jahre (bis zum Sturz?)

piqer:
Eric Bonse

Der schottische Politikwissenschaftler Mark Blyth ist vor allem als Kritiker der Austeritätspolitik bekannt geworden. Sein Buch „Austerity. The History of a Dangerous Idea“ lässt sich als Erklärung für den Brexit lesen, der auch eine Folge des Sparkurses in Großbritannien ist. Es bietet zudem eine profunde Kritik an der sogenannten Sparpolitik, wie sie während der Eurokrise durchexerziert wurde.

Nun meldet sich Blyth wieder zu Wort – mit einer Warnung vor der kommenden großen Krise des Kapitalismus. Wobei er den Begriff „Krise“ nicht mag – denn der werde inflationär verwendet und laufe deshalb Gefahr, bedeutungslos zu werden. Außerdem habe sich der Kapitalismus bisher als erstaunlich widerstands- und anpassungsfähig erwiesen. Dennoch könnte es bald ernst werden.

Denn in den nächsten fünfzehn Jahren müssen gleich zwei existenzbedrohende Probleme gelöst werden: die wachsende Ungleichheit und die Umweltfrage:

We have 15 years to solve and really make a dent in a joint crisis. That joint crisis is one of the environment and one of inequality. And the two of them are linked. If we do that then we could be in a much better place. If we don’t do that, this is the [most] serious challenge that capitalism as a model has faced since its inception.

Doch wie könnte die Lösung aussehen? Lässt sich der ganz große Knall überhaupt noch verhindern? Hier gibt sich Blyth desillusioniert. Nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das politische System sei an seine Grenzen gekommen. Die Politik muss sich völlig neu erfinden, wenn sie den nächsten Crash noch verhindern will.

Wie viel Profit muss man erwirtschaften wollen, um als „Wirtschaft“ zu gelten?

piqer:
Antje Schrupp

Zwischen Finanzämtern und Wohnungseigentümern, die mit ihren Mietforderungen zu sehr unter der ortsüblichen Vergleichsmiete bleiben, entspinnen sich immer öfter Auseinandersetzungen über die Frage, wie viel Profit man erwirtschaften wollen muss, um als Vermieter gelten zu können. Wenn die Miete zu niedrig ist, geht das Finanzamt von „Liebhaberei“ aus, weil die Profitabsicht nicht im Vordergrund stehe. Das ist für die betroffenen Hauseigentümer problematisch, weil sie dann Betriebsausgaben nicht mehr von der Steuer absetzen können – und sich in Folge das ganze Unternehmen möglicherweise nicht mehr leisten können.

Im Fall von Mietwohnungen ist diese Logik besonders absurd, weil in Großstädten wie München oder Berlin die Mietpreise durch Immobilienspekulation rasant steigen, was die ortsübliche Vergleichsmiete künstlich in die Höhe treibt. Das ist eine Dynamik, die dem Allgemeinwohl zuwiderläuft, man kann froh über jeden Vermieter sein, der da nicht mitmacht und einfach weiterhin „normale“ Mietpreise nimmt. Aber das Problem stellt sich grundsätzlich auch in anderen Branchen. Mit dem Vorwurf der „Liebhaberei“ haben etwa auch kleine Verlage zu kämpfen, die mehr wegen dem inhaltlichen Programm betrieben werden, als um damit reich zu werden, oder Ladengeschäfte, die die Nachbarschaft beleben, aber kaum Gewinn abwerfen.

Hinter der offensichtlich absurden Dynamik erzwungener Mieterhöhungen steht eine fragwürdige Definition von „Ökonomie“: Denn aufgrund ideologischer Wirtschaftstheorien wird davon ausgegangen, der einzige und hauptsächliche Grund, ökonomisch tätig zu werden, sei der Profit. Zum Glück ist das falsch. Wär nur schön, wenn die Finanzämter das auch einsehen würden.

Wird die Welt immer besser oder schlechter? – Spoiler Alert: besser!

piqer:
Tino Hanekamp

Die allgemeine Wahrnehmung ist ja die: alles geht den Bach runter, die Menschheit schafft sich selber ab, das Ende ist nah. Stimmt aber nicht, zumindest wenn man mal einen Schritt zurück geht und sich „the big picture“ anguckt.

Dieser 18minütige TED-Talk des Psychologen, Linguisten und Wissenschaftsautoren Steven Pinker ist da sehr hilfreich. Pinker schüttet einen Sack voll Fakten aus, die man sich immer mal wieder vor Augen führen sollte: Es gibt weniger Hunger, Armut, Kriege und Analphabetismus denn je, wir leben sicherer, länger, glücklicher, arbeiten weniger (zumindest in der westlichen Welt), und es gab noch nie so viele Demokratien. Fortschritt, so Pinker, ist keine Frage von Optimismus, sondern ein glasklarer Fakt.

Nur, warum nehmen wir ihn nicht wahr? Das hat was mit unserer neuronalen Programmierung zu tun – und den Marktzwängen der Medien. Niemand schreibt über Länder, in den Frieden herrscht, oder über Dinge, die nicht passiert sind, weil sich das nicht verkauft. Unsere „kognitive Verzerrung“ kombiniert mit der „nature of news“ – und Apokalypse ist immer. Natürlich wird nichts besser, wenn alle denken, dass alles gut ist, aber es wird auf jeden Fall alles schlechter, wenn wir glauben, dass alles nur schlechter wird. Dieses Endzeitdenken höhlt Demokratien aus und lässt Probleme nicht wie lösbare Probleme erscheinen, sondern wie Vorboten der Apokalypse. Die Folge: Zynismus und Zerstörung. Guter Vortrag. Macht Mut und Hoffnung und klärt den Blick.

Extra: Der italienische Künstler Mauro Gatti war der schlechten Nachrichten überdrüssig und hat die guten News des vergangenen Jahres in seinem The Happy Broadcast grafisch dargestellt.