Fremde Federn

Nordstream II, Sklaverei, Immerschlimmerismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie der Klimawandel die globale Lebensmittelproduktion auf den Kopf stellt, was die Sklaverei zum amerikanischen Kapitalismus beigetragen hat und warum der Populismus nicht Schuld an Europas Problemen ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Begründete Angst vor der Ungleichheit oder „Immerschlimmerismus“?

piqer:
Christian Huberts

Die Empfehlung für diesen Beitrag von Ingeborg Breuer im Deutschlandfunk stammt von einem Mitglied aus der Facebook-Gruppe piqd: mind the gap. Wie viele andere, neige ich dazu, den Stand der Ungleichheit in Deutschland eher negativ einzuschätzen. Breuer war gleich auf zwei soziologischen Tagungen (in Duisburg und München) unterwegs, um dieser Einschätzung auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis der Gespräche mit Wissenschaftler*innen ist ernüchternd, erlaubt jedoch auch nicht, das Thema völlig vom Tisch zu wischen. Unbestreitbare Tatsache scheint zu sein, dass es den Deutschen gesamtgesellschaftlich sehr gut geht. Gerade die Mittelschicht unterschätzt dennoch die Situation ihrer Mitmenschen und überschätzt die eigene, wie der Soziologe Josef Brüderl feststellt:

[W]enn man die Leute fragt, dann kommt raus, dass in Deutschland die meisten Leute denken, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland in der Unterschicht angesiedelt ist. Wenn man Daten zu Hilfe nimmt, dann haben wir eher eine Mittelstandsgesellschaft, eine Zwiebelform. Und wo sie sich selbst verorten – dann ordnen sich die meisten in der oberen Mitte ein was dann im Endeffekt wieder überzeichnet ist. So gut geht’s auch nicht.

Gerade die relative Armut befindet sich jedoch weiterhin im Aufwärtstrend. Dass es „insgesamt“ gut läuft, dürfte die Betroffenen dabei kaum trösten. Auch wenn also wissenschaftlich betrachtet nicht alles immer schlimmer wird und viele Ängste unbegründet scheinen, herrscht Handlungsbedarf. Die Frage danach, wie mit der Ungleichheit und ihren Folgen umzugehen ist, lässt sich rein statistisch nicht abschließend klären, sondern muss normativ entschieden werden, wie der Soziologe Prof. Olaf Groh-Samberg anmerkt:

Es ist letztlich die Frage, wie wollen wir leben, in welcher Gesellschaft wollen wir leben. Die Wissenschaft hilft uns an manchen Punkten weiter, aber die Entscheidung wie viel Ungleichheit wollen wir, wird immer eine normative, demokratisch zu entscheidende Frage bleiben.

Philippe Van Parijs über Wege zum Bedingungslosen Grundeinkommen

piqer:
Antje Schrupp

Philippe Van Parijs gehört zu den Ökonomen, die schon sehr früh die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) vertreten haben. In diesem Interview macht er Vorschläge dazu, mit welchen konkreten Schritten man es einführen könnte.

Einige davon werden auch bei Grundeinkommens-Befürworter_innen auf Kritik stoßen. Und zwar vor allem der Vorschlag, zunächst mit einem kleinen, nicht existenzsichernden BGE anzufangen. Sein Argument dafür ist nachvollziehbar: Eine bedingungslos an alle Menschen ausgezahlte Summe in Höhe von 300 oder 400 Euro im Monat ist natürlich eher durch Bürokratie-Abbau und Umwidmung bestehender Sozialleistungen finanzierbar, als ein BGE von 1.000 oder gar 1.500 Euro. Es wäre daher kein so großes volkswirtschaftliches Experiment.

Linke Kritiker_innen des Grundeinkommens hingegen sehen darin eine Gefahr: Das Grundeinkommen wäre dann möglicherweise bloß ein Vorwand, um bestehende und von der Arbeiterbewegung hart erkämpfte Sozialleistungen abzubauen, ohne eine vernünftige Alternative zu bieten. Da die Linke an der Frage des Grundeinkommens tief gespalten ist – manche befürworten die Idee, andere lehnen sie vehement ab – wird in diesen Diskussionen häufig betont, dass nur ein „emanzipatorisches“ Grundeinkommen in Frage komme, das nicht in diese „neoliberale Falle“ tappt. Und eine wesentliche Vorbedingung sei eben, dass es von Anfang an in existenzsichernder Höhe ausgezahlt wird. Auch, damit die Idee nicht verbrannt wird: Ein schlecht eingeführtes BGE, das noch mehr Menschen in Armut stürzt, wird natürlich dessen Akzeptanz untergraben.

Andererseits sind auch die Argumente von Van Parijs bedenkenswert. Da müssen wir wohl weiter drüber nachdenken und diskutieren.

Alles über Nordstream II – leider etwas weichgespült

piqer:
Ulrich Krökel

Vor acht Jahren, im April 2010, glitten die ersten Röhren der Ostseepipeline Nordstream auf den Meeresgrund – von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt, denn die Betreiber informierten anfangs nicht über den Start der Bauarbeiten. Zu heftig war damals der politische Streit um das Projekt. Im April 2018 stehen die Nordstream-Mannschaften wieder bereit, um einen (zweiten) doppelten Röhrenstrang zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Nordwestrussland zu verlegen. Wann genau es losgehen soll, ist bislang unbekannt. Es kann also gut sein, dass die Nachrichtenagenturen eines Aprilmorgens Vollzug melden.

Unter diesen Vorzeichen hat der DLF einen hörenswerten Hintergrund zu Nordstream II gesendet. Das Stück, das alle wesentlichen Informationen liefert und schon deshalb zu empfehlen ist, ist äußerst ausgewogen und zurückhaltend in seinen Bewertungen. Alle Seiten kommen zu Wort. Der Autor Jan-Uwe Stahr macht sich mit nichts und niemandem gemein.

Bravo, würde man gern ausrufen, wenn das Bemühen um Objektivität nicht zu oft in ein krampfhaftes Bemühen ausarten würde, z. B.:

Vor allem die östlichen EU-Mitgliedsstaaten haben nicht nur gute Erfahrungen mit dem Erdgas-Lieferanten Russland gemacht.

An solchen Stellen kann man ruhig einmal Tacheles reden, denke ich, denn die meisten östlichen EU-Staaten stehen in Fundamentalopposition zu dem Projekt Nordstream II. Um das zu zeigen, reicht es nicht, diffuse Zitate nicht namentlich genannter EU-Abgeordneter aus Polen anzufügen („Dieses Projekt zerstört die europäische Solidarität“).

Zugegeben: Es handelt sich um ein Hintergrundstück. Unter dem Strich gelingt es Jan-Uwe Stahr für meinen Geschmack aber zu selten und zu abgeschwächt, die Schärfe des Konflikts um das Thema herauszuarbeiten. Andererseits betone ich gern nochmals: Wer sich über Nordstream II informieren will, sollte sich die 20 Minuten zum Hören unbedingt nehmen. Oder den Text lesen.

Mehr Hummer, weniger Getreide: Was der Klimawandel für die Produktion von Lebensmitteln bedeutet

piqer:
Ralph Diermann

In Großbritannien kommt der Kabeljau für Fish’n’Chips heute nicht mehr aus heimischen Gewässern, sondern aus Island – rund um die britischen Inseln ist es dem Fisch mittlerweile zu warm. Stattdessen tummeln sich dort jetzt Sardinen und Tintenfische. Was zur Folge hat, dass ein britischer Tourist an der Costa Brava seine Paella womöglich mit Calamari bekommt, die vor Yorkshire gefangen wurden.

Der Klimawandel stellt auch die globale Erzeugung von Lebensmitteln auf den Kopf, wie Bloomberg jetzt in einem fakten- und facettenreichen, mit Karten und Grafiken unterfütterten Stück deutlich macht.

There are rich-world problems (less cod, more lobster) and poor (drought and pestilence). There are threats to the quality of the world’s basic staples including wheat and corn, as well as such nation-defining luxuries as Bordeaux wine and Java coffee. And whether through dearth or deluge, supply shocks can shake up prices.

Manche Regionen werden gewinnen – im Norden der USA oder in Osteuropa zum Beispiel werden die Getreideerträge deutlich steigen. Doch noch viel mehr werden unter dem Klimawandel leiden: Schädlinge finden bessere Lebensbedingungen, Starkregen schwemmt Böden davon, der Nährstoffgehalt von Feldfrüchten sinkt. Schlechte Ernten lassen die Preise für Grundnahrungsmittel explodieren, was die politische und soziale Stabilität vor allem in importabhängigen Staaten gefährden kann.

Sozialstaat: Angst statt Absicherung

piqer:
Christian Huberts

Ganz davon abgesehen, ob es Deutschland heute tatsächlich wirtschaftlich gut geht oder nicht und ob eine Kausalität oder doch eher Koinzidenz zwischen der Agenda 2010 und dem brummenden Arbeitsmarkt besteht, lässt sich eines kaum bezweifeln: Viele Bürger haben Angst. Die so genannten Heitmeyer-Studien haben das ein Jahrzehnt lang stets aufs Neue attestiert und auch aktuellere Befragungen zeugen regelmäßig von der wachsenden Sorge um den sozialen Abstieg. Die Ursachen und Folgen dieser Angst untersuchen die Sozialwissenschaftler Sigrid Betzelt und Ingo Bode – in einem im letzten Jahr erschienenen Paper und an dieser Stelle in einem Interview mit dem Freitag:

Es gab wohl schon länger das Gefühl, dass die Reformen der 2000er-Jahre nicht nur die Ordnung der Wirtschaft, sondern auch etwas in den Köpfen der Menschen verändert haben. Die Befassung mit dem Thema Angst schlägt hier eine Brücke zwischen ansonsten sehr verschiedenen sozialen Gruppen: einerseits Leute am unteren Rand der Gesellschaft, die tagtäglich sehen müssen, wie sie klarkommen […]. Andererseits sind da Menschen, die mitten im Leben stehen und aktuell fest beschäftigt sind, aber mit Blick auf ihre Berufsbiographie oder ihre Familiensituation ahnen, dass es in 20 Jahren nicht mehr so rosig aussehen könnte […].

Betzelt und Bode attestieren dem deutschen Sozialstaat, dass er nicht mehr ein Gefühl der Absicherung zur Aufgabe hat, sondern gezielte Entsicherung. Angst senkt Ansprüche an den Arbeitsplatz und drängt zur privaten Rentenvorsorge. Gut für die Wirtschaft, aber verhängnisvoll für das soziale Gefüge:

Zum Teil passen sich die Menschen an diese Mechanismen – mitunter lethargisch – an. Der große Widerstand, die große Revolte, das ist bekanntlich ausgeblieben. Eine weitere Reaktion ist, wie bereits erwähnt, die Abgrenzung gegen andere. Dadurch schwindet der soziale Zusammenhalt. Es wird immer eine neue, schwächere Gruppe gesucht, die man für erlebte und gefühlte soziale Unsicherheit verantwortlich machen kann.

Das leere Versprechen der Blockchain

piqer:
Georg Wallwitz

Das am meisten überbewertete Thema in den Seiten der Wirtschaftspresse ist wohl die Blockchain (dicht gefolgt vom unbedingten Grundeinkommen). Hier findet sich im frei zugänglichen Teil der FT ein hübscher Artikel, warum das so ist.

Dass Bitcoin als Währung nicht funktioniert, hat mittlerweile fast jeder verstanden, der in den letzten Monaten versucht hat, seine Ersparnisse in einer Kryptowährung aufzubewahren. Ein Spekulationsobjekt taugt einfach nicht zur Wertaufbewahrung.

Aber, so kommt dann meist der Einwand, die Blockchain-Technologie wird bleiben, unabhängig davon, welche Kryptowährung sich am Ende durchsetzt. Auch daran sind aber erhebliche Zweifel angebracht.

Erstens hat die Blockchain keine Fehlertoleranz. Das kann sehr mühsam sein, wenn man etwa Verträge mit Hilfe der Blockchain-Technologie fixiert. Wenn sich in einen Vertrag ein kleiner Fehler einschleicht (z.B. die Ortsangabe „Baierbronn“ statt „Baierbrunn“), so wird dieser auf Blockchain verewigt und veröffentlicht, mit allen Konsequenzen. Ohne Blockchain, nun ja, korrigiert man das ganze stillschweigend und es passt. Blockchain taugt am besten in einer fehlerlosen Welt. Aber wo findet sich diese?

Zweitens soll durch Blockchain die Vertrauensinstanz (z.B. der Notar oder die Zentralbank) überflüssig werden. Warum auch das aber eine Illusion ist, zeigt der gepiqte Artikel: Letztlich werde ich das Vertrauens-Thema nicht los, denn im Blockchain-Zeitalter muss ich mich irgendwie auf die Richtigkeit der eingegebenen Information verlassen können – entweder, indem ich sie selbst verifiziere (was mühsam wäre), oder indem ich blind vertraue (was naiv wäre), oder indem ich einer Vertrauensinstanz glaube (womit ich keinen Schritt weiter wäre als ich es heute bin).

Und drittens wird die Eigenschaft der Blockchain, nichts zu vergessen und alles zu veröffentlichen früher oder später mit dem europäischen Datenschutz kollidieren. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

„Umwälzungen finden in Sackgassen statt“

piqer:
Achim Engelberg

… so Brecht und daran dachte ich, als ich dieses Gespräch las. Den europäischen Sonderweg sieht Herfried Münkler gerade in der – im Gegensatz zu China – langsamen Industrialisierung. Es gelang vor allem in Westeuropa Gesellschaften nicht nur

entlang vertikaler Hierarchien sondern auch horizontal, solidarisch zu organisieren. Die meisten Gesellschaften bestehen aus Gruppen, in denen Kapos und Gangleader um die Herrschaft konkurrieren.

Der europäische Sonderweg, der sich auch von denen in der islamischen Welt oder in Afrika unterscheidet, war

nur möglich, weil in Westeuropa Stammes-, Clan- und Familienstrukturen so geschwächt waren, dass sich ganz andere Verbindungen und dann auch politische Kampfbünde herausbilden konnten.

In China gibt es Millionen Arbeiter, auch Revolten, aber keine Arbeiterklasse, die gemeinsam handelt. Dadurch sind die Hoffnungen von Marx grau geworden:

Er betrachtete die Arbeiter Westeuropas und kam zu dem Schluss, dass … sich bei ihnen ein gemeinsames Bewusstsein von gemeinsamen Interessen herausbildete, aus dem auch politische Handlungsfähigkeit erwuchs. Das nannte er die Arbeiterklasse. Daraus eine globale Gesetzlichkeit entwickeln konnte man nur, wenn man die spezifischen westeuropäischen soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung übersah. Marx selbst tat das nicht.

Dadurch drohen wir in eine Sackgasse zu geraten, wenn auch in Europa weiter:

die sozial-moralischen Ressourcen der Bürger, die „Tugenden“ also, verfallen und die Orientierung am Gemeinwohl nachlässt – dann schlägt die Stunde der Despoten.

Bereits antike Autoren wie Polybios sahen darin einen Kreislauf, der mit dem Sturz der Tyrannen neu beginnt:

und es erblühen wieder die Tugenden – sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg – und mit ihnen die „Republik“. Marx bringt diese Idee einer sich zyklisch vollziehenden Selbstdestruktion von Systemen zusammen mit der Idee des Fortschritts.

In diesem Sinn ist Brecht zu verstehen. Ohne eine Erneuerung im republikanischen Geist bleibt es trübe.

Die Sklaverei und die Entstehung des amerikanischen Kapitalismus

piqer:
Antje Schrupp

Die Geschichte der USA und speziell ihr dunkles Kapitel der Sklaverei wird häufig als eine Entwicklung von eher feudalistischen hin zu kapitalistischen ökonomischen Prozessen erzählt: Das System der massenweisen Zwangsarbeit von aus Afrika verschleppten Menschen sei im Zuge der Industrialisierung überholt gewesen und damit an sein Ende gekommen.

Der Charme dieser Erzählung ist, dass das heutige, moderne und kapitalistische Amerika sich nicht als Profiteur und Ergebnis einer Geschichte der Ausbeutung von Sklavinnen und Sklaven verstehen muss. Es kann die Sklaverei als unschöne, aber nicht für die eigene Kultur grundlegende historische Episode verstehen. Zu diesem Geschichtsbild gehört es es auch, das größte Problem der Sklaverei in der Vorenthaltung der bürgerlichen Rechte zu sehen – während in Wirklichkeit das viel größere Problem war, dass die aus Afrika verschleppten Menschen bis zum Tod und zur äußersten Erschöpfung zwangsarbeiten mussten, damit andere – das weiße Amerika – reich und zu einer führenden Ökonomie werden konnte.

Der Historiker Edward Baptist erzählt in seinem 2014 erschienenen Buch „The Half Has Never Been Told. Slavery and the Making of American Capitalism“ die ökonomische Seite der Sklaverei neu. Dieser Text ist ein Auszug daraus, der die zentralen Thesen enthält. Der Einstieg ist leider etwas langatmig, davon sollte man sich nicht vom Lesen abhalten lassen.

Staatliche Kryptowährung in Venezuela: Ist der „Petro“ wirklich so schlecht?

piqer:
Magdalena Taube

Seitdem Venezuela – als Antwort auf die schwere Finanzkrise und die US-Sanktionen – die staatliche Kryptowährung Petro eingeführt hat, hagelt es Kritik. Dezentrale Blockchain-Technologie und staatliche Kontrolle, das passt irgendwie nicht zusammen. Der Lateinamerika-Experte Dario Azzellini zeichnet nach, warum Venezuelas Regierung diesen Schritt gegangen ist und wie der Petro funktioniert. Auf dieser Basis unternimmt Azzellini eine sachliche Kritik an der staatlichen Kryptowährung.

Ist der Populismus schuld an Europas Problemen?

piqer:
Thomas Wahl

Jan Zielonka „ein(en) Schlesier, der in Polen aufgewachsen ist, einen niederländischen Pass hat, in Italien seine Steuern zahlt und in Britannien arbeitet“ sieht das anders. Er lehrte an verschiedenen Universitäten Europas, verkehrt in den politischen Kreisen Warschaus, Roms und Londons, beriet die EU, fiel in Ungnade und war zuletzt wieder ein etwas gefragterer Gast in Brüssel.

Sympathisch seine Ausgangsprämisse: „Die grundlegende Aufgabe der Intellektuellen ist es, alle angenommenen Weisheiten in Zweifel zu ziehen … und jene Fragen zu formulieren, die sich sonst niemand zu stellen wagt.“ Mit diesen Worten Ralf Dahrendorfs beendete Jan Zielonka nicht nur sein jüngstes Buch – er verkörpert dieses Motto selbst. Und er nimmt das Versagen der liberalen Eliten als eine der wesentlichen Ursachen der Krise der liberalen Demokratie aufs Korn.

Auch wenn der Angreifer der „Populismus“ ist, dies sei nur ein Teil des Problems. „Populisten wird vorgeworfen, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben – aber versuchen wir das nicht alle?“ Zur Illustration nennt er Erbschaftsteuer und Mindestlohn, mit denen die etablierten Volksparteien versuchen würden, „komplexe Probleme wie die soziale Ungleichheit mit simplen Rezepten in den Griff zu bekommen“.

Der Angriff richtet sich nicht nur gegen die EU, sondern gegen „unsere gegenwärtige Ordnung: die liberale Demokratie und das neoliberale Wirtschaftsmodell, Migration und die multikulturelle Gesellschaft, historische ,Wahrheiten‘ und politische Korrektheit, moderate Volksparteien und etablierte Medien“. Retten ließe sich diese Ordnung nur, wenn die Eliten ihre Fehler erkennen und korrigieren, um wieder die breite Bevölkerung zu erreichen – die Eliten müssten eigentlich dem eigenen Populismus abschwören.

Mir gefällt besonders sein Verweis auf Karl Popper. Vergessen wir nie dessen Warnung vor dem alles versprechenden Populismus: „ … der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“

Wirtschaft denken – eine Feature-Reihe über Wirtschaftstheorie und -praxis

piqer:
Christian Huberts

Seit Anfang der Woche hat der Deutschlandfunk Kultur eine hörenswerte, 4-teilige Feature-Reihe im Programm, die sich anschaulich der Wirtschaftstheorie und ihrer Anwendung auf die Praxis widmet. Der erste Teil von Caspar Dohmen wirft einen Blick auf die so genannte „neue Seidenstraße“ sowie die griechische Hafenstadt Piräus als deren Drehkreuz. Im zweiten Teil besucht Florian Felix Weyh den Weltmarktführer bei Lüftern und Ventilatoren im schwäbischen Dorf Mulfingen und fragt nach den Bedingungen langfristigen Erfolges. Um das Machen von Geld und die Zukunft von Kryptowährungen geht es im dritten Teil von Christian Blees. Und Barbara Eisenmann ist schließlich im vierten Teil mit Arbeitern aus der Gig Economy unterwegs:

Es sieht ganz so aus, als ob die Arbeitsverhältnisse, die in der Plattformökonomie gerade Gestalt annehmen, sich den in der neoklassischen Volkswirtschaftslehre postulierten reinen, idealen Arbeitsmärkten immer mehr annäherten, da Verzerrungen wie Mindestlöhne, Tarifverträge, soziale Absicherung, gewerkschaftliche Interessenvertretung zunehmend umgangen werden.