Fremde Federn

Neue alte „Unterschicht“, Fünf-Sterne-Bewegung, Ján Kuciak

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was die Deutschen trennt und verbindet, warum die Globalisierung keinen Rückwärtsgang hat und wie sich der technologische Fortschritt auf die Zinsen auswirkt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Zufriedene, Verunsicherte, Enttäuschte – eine wenig beachtete Studie zur Wählerschaft im Jahr 2017

piqer:
Christian Huberts

Im Jahr 2006 sorgte die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung für viele Diskussionen über eine „neue Unterschicht“. Schaut man in die damalige Berichterstattung auf Zeit Online, dürfte einiges an die Gegenwart erinnern:

Zwei Drittel der »neuen Unterschicht« hätten ihren Job bereits verloren, die anderen empfänden den Arbeitsplatz »häufig als nicht sicher«. Die Betroffenen litten unter »größter finanzieller Unsicherheit: sehr niedriges monatliches Haushaltseinkommen, kaum Wohneigentum oder finanzielle Rücklagen, Schulden, wenig familiärer Rückhalt«. Vom Staat fühlen sie sich allein gelassen, so die Studie. Viele glaubten, »Abschottung gegenüber Ausländern« löse die Probleme.

Zwölf Jahre später ist nun bei der Hans-Böckler-Stiftung ein Nachfolger der Studie unter dem Titel „Was verbindet, was trennt die Deutschen?“ erschienen, der leider wenig Aufmerksamkeit findet. Damals wie heute, definieren die Politikforscherin Rita Müller-Hilmer und ihre Co-Autoren gesellschaftliche Typen (etwa „Desillusionierte Arbeitnehmermitte“ oder „Gesellschaftsferne Einzelkämpfer“) und ordnen sie dem Parteienspektrum zu. Das erlaubt einige interessante Beobachtungen zu den Veränderungen in der politischen Landschaft seit 2006. Beispielsweise bedienten die Volksparteien CDU und SPD laut der letzten Studie noch sehr erfolgreich einzelne Milieus. Die aktuelle Studie zeigt jedoch eine klare Entwicklung:

Die Union verzeichnet ihre stärksten Verluste in der Gruppe [»Konservative Besitzstandswahrer«], in der sie ehedem ihren weitaus stärksten Rückhalt hatte. Die SPD-­Wählerschaft verteilt sich heute ziemlich gleichmäßig über alle neun politischen Typen, die aber in einigen politischen Grundkon­flikten sehr unterschiedliche Erwartungen an die Partei richten.

Der OXI Blog arbeitet weitere Erkenntnisse und aufgeworfene Fragen heraus, wenn auch nicht immer besonders anschaulich. Mit rund 40 Seiten und klarem Aufbau, lohnt sich jedoch auch ein direkter Blick in die Studie.

Als die ganze Welt Europa aufnehmen konnte

piqer:
Fabian Goldmann

Dass Europa nicht die ganze Welt aufnehmen kann, dürfte mittlerweile jedem klar sein. Schließlich erlebte die Aussage bar jeden Realitätsbezugs in den letzten Jahren einen beispiellosen Siegeszug: Mutmaßlich erstmals in lallender Form auf einem bierseligen Kameradschaftsabend ausgesprochen, gilt sie heute als unverzichtbar in der Floskelsammlung eines jeden Politikers, der in Migrationsfragen realpolitischen Sachverstand beweisen will. Die gegenteilige Feststellung hingegen, wonach die ganze Welt Europa aufnehmen kann, ist allerdings kaum verbreitet. Und dass – obwohl zwar ebenso unsinnig – sie doch um einiges näher an der Wahrheit liegt.

Die amerikanische Geschichtsprofessorin Tara Zahra hat ein Buch über die 55 Millionen Menschen geschrieben, die zwischen 1846 und 1940 ihre (überwiegend ost-)europäische Heimat verließen, in der Hoffnung, man werde sie irgendwo in der Welt aufnehmen. Statt „Wir können doch nicht ganz Europa aufnehmen“ trägt das Buch zwar nur den wenig kreativen Titel „The Great Departure“, offenbart aber dennoch jede Menge Parallelen zur heutigen Zeit.

Tara Zahra, deren jüdische Vorfahren selbst aus dem Osmanischen Reich in die USA migrierten, rekonstruiert in vielen anekdotenhaften Erzählungen eine Flüchtlingskrise, in der Armut, Verfolgung und Terror ganze Landstriche entvölkerten, Behörden und Öffentlichkeit es aber dennoch vollbrachten, Fluchthelfer zu den eigentlich Schuldigen für den Exodus zu erklären. An eilig geschlossenen Grenzen von Ländern, die ihre Obergrenze erreicht sahen, sammelten sich die Verzweifelten in provisorischen Lagern. Und in den Aufnahmegesellschaften verbreitete sich das Klischee des migrantischen Sozialschmarotzers. Noch mehr Parallelen gibt es im Buch oder im verlinkten National Geographic-Interview. Und wer sich danach immer noch davon überzeugt gibt, dass Europa nicht die ganze Welt… kann auch noch hier, hier, hier, hier, hier oder hier klicken.

Ein kleineres Übel?

piqer:
Eric Bonse

Als Kommissionschef Juncker 2014 sein Amt antrat, versprach er, die Erweiterungspolitik zu überprüfen und vorerst keine neuen Länder in die EU aufzunehmen. Nur vier Jahre später legt Juncker den Rückwärtsgang ein: Nach einer Tour durch den Westbalkan sagte er, alle Länder hätten ihren Platz in der Union. Zwar nicht sofort, aber spätestens 2025 soll es so weit sein.

Damit folgt Juncker einem Herzenswunsch des bulgarischen EU-Vorsitzes – aber auch den Sirenenrufen, die vor dem wachsenden Einfluss Russlands oder Chinas auf dem Balkan warnen. Wenn die EU nicht die Kontrolle über ihre seit den Balkankriegen vorbelastete Südflanke erlangen sollte, drohe Ungemach, warnt der für bulgarische Politologe I. Krastev. Brüssel müsse schnell handeln.

Doch das kann nicht überzeugen. Krastev warnt sonst oft und gern vor dem Ende der EU – und das soll nun ausgerechnet durch eine Flucht nach vorn abgewendet werden? Nein, das macht alles nur noch schlimmer. Das Warten heizt die längst vorhandenen Spannungen an, statt sie zu beruhigen. Und der Beitritt ist nicht das kleinere Übel – es schafft neue, größere Probleme.

Deswegen wäre Brüssel besser beraten, den Westbalkanländern nicht gleich die volle Mitgliedschaft anzubieten, sondern zunächst eine gemeinsame Handelszone oder eine privilegierte Partnerschaft anzustreben – meint Zoran Arbutina. Seine Argumentation ist nachvollziehbar – ein wichtiger Denkanstoß.

Künstliche Intelligenz als Wachstumstreiber

piqer:
Georg Wallwitz

Künstliche Intelligenz (KI) ist das neue große Ding. Irgendwie weiß das fast jeder, aber kaum einer kann sich etwas darunter vorstellen.

Ken Rogoff hat einen guten Artikel über die wirtschaftlichen Konsequenzen der KI-Revolution geschrieben. Im Dienstleistungssektor deutet sich eine erhebliche Automatisierungswelle an. Kassierer, Taxifahrer, Rechtsanwälte etc. müssen sich darauf einstellen, dass ihre Tätigkeit bald von Rechnern geleistet werden kann – jedenfalls der einfachere Teil. Den Verlierern stehen auch Gewinner gegenüber: Ganz oben auf der Liste stehen Unternehmen, welche die Daten ihrer Kunden sammeln und sinnvoll verarbeiten können.

Die Konsequenzen sind enorm – zu lange für einen einzelnen piq. Den Volkswirt Rogoff interessiert in erster Linie natürlich der Zins. Dieser wird mit dem Produktivitätsfortschritt durch KI und dem damit einhergehenden höheren Trendwachstum unweigerlich steigen. Das wiederum wären keine schönen Aussichten für die hoch verschuldeten Staaten dieser Welt.

Mittelfristig gibt es wenige ökonomische Themen, die so bedeutend sind wie dieses.

„Bis auf die 5-Sterne-Bewegung spiegeln die anderen politischen Parteien einen Scheinwandel wider“

piqer:
Dirk Liesemer

Ich bin kein großer Fan von Blogs. Die meisten finde ich zu langatmig, zu trivial oder zu wenig auf den Punkt. Eine Ausnahme macht der Blog der Autorin Petra Reski, der recht lässig daherkommt. Unterhaltsam wird es vor allem, wenn sie über deutsche Italien-Korrespondenten lästert oder über deutsche Politiker, die sich als bessere Italiener geben.

Besonders gerät sie in Rage, wenn es in den deutschen Medien mal wieder um die aus ihrer Sicht völlig verkannte Fünf-Sterne-Bewegung geht, die als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen ist. Sie erklärt das gute Wahlergebnis mit einem Argument, das hierzulande kaum wahrgenommen und auch belächelt wird: „Der Unterschied zwischen den Fünfsternen und den anderen italienischen Parteien besteht darin, dass Korruption oder die Nähe zur Mafia für sie kein Empfehlungsschreiben ist.“ Das möge banal klingen, sei aber revolutionär.

Man sollte vielleicht wissen, dass Petra Reski seit vielen Jahren über die Mafia recherchiert. Im Gegensatz zu allen anderen italienischen Parteien spiegele die Fünf-Sterne-Bewegung keinen Scheinwandel wider. Man darf auf die kommenden Wochen gespannt sein.

Die Empörung über die Essener Tafel. Und der Hunger nach Moral.

piqer:
Marcus Ertle

Moralgewitter sind unangenehm und man fürchtet sich, wenn es aus der Wortwolke heraus blitzt und donnert. Momentan grollt es wegen der Essener Tafel, die entschieden hat, keine Flüchtlinge mehr mit Nahrung zu versorgen.

Angela Merkel kritisierte diese Entscheidung als falsch, andere warfen den Verantwortlichen Rassismus vor, wieder andere drückten ihre Kritik durch NAZI Schriftzüge an den Autos der Essener Tafel aus.

Es gibt aber auch andere Stimmen. Etwa die von Christiane Florin, die im Deutschlandfunk leidenschaftlich die moralische Überheblichkeit der Empörten kritisiert und sich ihrerseits darüber empört, dass immer mehr Menschen in unserem angeblich reichen Land hungrig um Almosen anstehen müssen.

Aufrüttelnde Worte.

Globalisierung hat keinen Rückwärtsgang: Spannendes Interview mit drei ExpertInnen aus aller Welt

piqer:
Tanja Krämer

Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahren eine „Flüchtlingskrise“ erlebt? Über solche Formulierungen kann Elhadj As Sy, Chef des Internationalen Roten Kreuzes, nur den Kopf schütteln.

Die Welt als Ganzes erlebt gerade die größten Migrationsbewegungen seit dem zweiten Weltkrieg. 66 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Das ist die Flüchtlingskrise,

sagt er in einem sehr lesenswerten Interview. Der Journalist Jan-Martin Wiarda hat Sy zusammen mit Rebecca Moeti, der WHO-Direktorin für Afrika und der Regierungsberaterin Ilona Kickbusch zu Flucht und Fluchtgründen befragt. Es ist ein spannender Text, der vieles einmal in die richtigen Zusammenhänge rückt. Zum Beispiel vergessen wir oft, dass die meisten Flüchtlinge im eigenen Land oder den Nachbarländern stranden. Ein Drittel der Einwohner im Libanon stammt inzwischen aus Syrien, beschreibt Sy, in vielen Schulklassen sitzen mehr Flüchtlinge als Einheimische. Manche Flüchtlingslager in Afrika wachsen seit Jahrzehnten. Nur ein winziger Teil dieser Menschen versucht überhaupt, bis nach Europa zu kommen.

Auch die Bundesregierung will nun verstärkt dabei helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen – um potenzielle Flüchtlinge von morgen von einer Reise nach auch nach Deutschland abzuhalten. Beschämend? Vielleicht. Aber womöglich ein Anreiz, der tatsächlich etwas bewirkt. Denn, darin sind sich die drei ExpertInnen einig: Die Gebiete und Länder, aus denen Menschen fliehen, brauchen keine Almosen. Sie brauchen nachhaltige Investitionen, Firmen, die Infrastruktur aufbauen. Und Europäer, die nicht nur einsehen, dass sie durch ihre Konsumgesellschaft noch immer auf Kosten anderer leben. Sondern das auch ändern wollen.

Jan-Martin Wiarda hat sich als Journalist auf Bildungsthemen spezialisiert und ist Teil von RiffReporter – die Genossenschaft für freien Journalismus.

„Das Model, die Mafia und die Mörder“ – die letzte Story von Ján Kuciak

piqer:
Simone Brunner

Die Nachricht über die Ermordung des slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten schockt die Welt, wie auch Kollege Keno Verseck für Spiegel Online beschrieben hat.

Die Hintergründe dieser schrecklichen Tat sind freilich noch nicht aufgeklärt. Dennoch haben das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), das Czech Centre for Investigative Journalism (CCIJ), das Investigative Reporting Project Italy (IRPI) und die slowakische Nachrichtenseite aktuality.sk, mit denen Kuciak zusammen gearbeitet hat, zum Anlass genommen, um jene Recherchen zu veröffentlichen, an denen der Investigativjournalist bis zuletzt gearbeitet hat. Der Stoff hat es in sich: Die Veröffentlichungen legen nahe, dass Kuciak möglicherweise bis zuletzt intensiv daran gearbeitet hat, die Rolle einer umstrittenen Beraterin des slowakischen Premiers Robert Fico sowie mögliche Verbindungen bis hin zur italienischen Drogenmafia aufzudecken. „An investigation that delved into the infiltration into Slovakia of the ‚Ndrangheta mafia, one of the world’s most powerful and fearsome criminal groups“, heißt es da.

Es ist freilich eine unfertige Recherche, aber OCCPR u.a. haben die bisherigen Ergebnisse auch deswegen veröffentlicht, um andere Reporter, die ebenfalls an dieser Geschichte arbeiten, zu schützen.