Eine steigende Arbeitslosigkeit ist mit Sicherheit eine der schwerwiegendsten Folgen von Wirtschaftskrisen. Entsprechend wichtig ist es für große einflussreiche Organisationen, sich eingehend mit den Ursachen von Arbeitsmarktproblemen und möglichen Lösungen zu beschäftigen. So erregten die hohen Arbeitslosenquoten nach der Finanzkrise 2007/08 die Aufmerksamkeit wichtiger wirtschaftspolitischer Institutionen wie der OECD, der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission.
Ein genauerer Blick auf ausgewählte Publikationen dieser Institutionen zeigt, dass vor allem rigide Arbeitsmärkte als Hauptquelle anhaltender Arbeitslosigkeit betrachtet wurden und werden, da sie angeblich notwendige Lohnanpassungen verhindern, die eine Erholung nach makroökonomischen Schocks ermöglichen würden. Dieser Ansatz ist aber theoretisch und empirisch fragwürdig – und dürfte somit angesichts des politischen Einflusses, den diese Institutionen gerade während der Krisenjahre hatten, auch das Leben von Millionen Menschen negativ beeinflusst haben.
Die Politikvorschläge von OECD, EZB und EU-Kommission
Der jährliche OECD Employment Outlook bietet eine reiche Quelle für politische Ratschläge, wobei sich die Perspektive der Industrieländer-Organisation in den letzten zehn Jahren leicht verändert hat. Im Jahr 2006 stellte die OECD fest, dass ein gutes „Politikpaket“ zur Förderung von Beschäftigung eine Kombination aus makroökonomischer Politik, Wettbewerb auf dem Gütermarkt und beschäftigungsfreundlichen Anreizen auf dem Arbeitsmarkt beinhaltet. Vor allem die Struktur des Arbeitsmarktes wird stark betont. In diesem Bereich werden bestimmte Politiken und Institutionen als Grund für anhaltende Arbeitslosigkeit angesehen, da sie unflexible Löhne hervorrufen würden, die verhinderten, dass sich die Wirtschaft schnell von einem negativen Schock erholt. Vor allem die Dauer und das Niveau der Arbeitslosenunterstützung sowie die Arbeitsschutzgesetzgebung werden von der OECD als Ursache für diese Starrheit angesehen.
Die OECD stützt diese Behauptung durch empirische Belege, die darauf hindeuten würden, dass Arbeitsmarktinstitutionen (dazu zählen beispielsweise Arbeitslosenunterstützung, Kündigungsschutz, Kollektiv- und Tarifverträge, Schulungsprogramme etc.) die Auswirkungen makroökonomischer Schocks bestimmen. Die Politikvorschläge der OECD sind auf die Reform des Arbeitsschutzes und die Bereitstellung von Programmen zur Beschäftigungsaktivierung gerichtet.
Die Europäische Zentralbank argumentierte in einer Untersuchung aus dem Jahr 2012 ähnlich. Sie erklärte die hohe, jedoch diversifizierte Arbeitslosigkeit in der Eurozone durch die unterschiedlichen makroökonomischen Schocks in Verbindung mit strukturellen Ungleichgewichten der Volkswirtschaften. Die Art des Schocks, also ob er in erster Linie auf den internationalen Handel oder den Wohnungsmarkt gerichtet ist, führe zu unterschiedlichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die EZB stellte fest, dass ungelernte Arbeitskräfte von der Krise 2008 am stärksten betroffen waren, was das Problem der Qualifikationsungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt noch verschärft habe. Dieses Qualifikationsungleichgewicht zwischen Arbeitslosen und freien Stellen behindere laut EZB die Umverteilung von Ressourcen und erhöhe damit die strukturelle Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus würden unflexible Arbeitsmärkte (in Bezug auf die Lohnentwicklung) die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindern.
Daher betonte die Zentralbank, dass „eine flexible Reaktion der Löhne auf die Arbeitsmarktbedingungen eine Schlüsselpriorität sein sollte“ und dass „fortgesetzte und weitergehende Reformen zur Beseitigung der Rigiditäten“ notwendig seien, um einen dauerhaften Rückgang des Produktionspotenzials und einen Anstieg der NAIRU (dazu später mehr) zu verhindern.
Die Rolle flexibler Märkte wird auch von der Europäischen Kommission hervorgehoben. Im Jahr 2016 drehten sich ihre Politikvorschläge primär um die Flexibilität der Arbeits- und Gütermärkte. Die Kommission bezog sich dabei auf empirische und theoretische Belege, die darauf hindeuten, dass flexible Arbeits- und Gütermärkte die Anpassung der Wirtschaft an makroökonomische Schocks unterstützen und somit die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit verbessern. Sie empfahl jedoch auch einen angemessenen sozialen Schutz von Personen, um mögliche Wohlfahrtsverluste auszugleichen. Mit anderen Worten: eine Verlagerung des Beschäftigungsschutzes hin zum sozialen Schutz.
Dies äußert sich auch in der Politikberatung der Kommission, die flexible Arbeitsverträge, Unterstützung des lebenslangen Lernens, wirksame und aktive Arbeitsmarktpolitik und „moderne“ Sozialprogramme zur Unterstützung von Beschäftigungsübergängen umfasst. Zudem wird eine Neustrukturierung von Steueranreizen vorgeschlagen, um eine übermäßige Verschuldung von privaten Haushalten und Unternehmen zu verhindern.
Ab dem Jahr 2017 erkannte die Kommission jedoch an, dass neben dem institutionellen Rahmen auch die aggregierte Nachfrage eine Rolle bei der Erholung nach einer Krise spielt. Diese Erkenntnis führte dazu, dass sie mittlerweile Reformen vorschlägt, die darauf abzielen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage kurzfristig zu stabilisieren, damit die positiven Auswirkungen der Strukturreformen auf den Arbeits- und Produktmarkt auf lange Sicht voll zum Tragen kommen. So plädiert die Kommission etwa dafür, Maßnahmen zur Stärkung des Wettbewerbs am Gütermarkt – in Erwartung eines Preisrückgangs – der Arbeitsmarktpolitik zeitlich vorzuziehen, um die Realeinkommen zu stabilisieren.
Nicht nur die Europäische Kommission, auch die OECD hat ihre Perspektive in letzter Zeit leicht verändert. So schlägt der Employment Outlook 2017 makroökonomische Maßnahmen in Zeiten des Konjunkturabschwungs vor, um Strukturreformen durch eine Stabilisierung der Gesamtnachfrage zu unterstützen. Da fiskalpolitische Maßnahmen die Auswirkungen von negativen Beschäftigungseinbrüchen jedoch nicht vollständig ausgleichen können würden und der Spielraum für fiskalpolitische Maßnahmen aufgrund der hohen Haushaltsdefizite begrenzt sei, liegt der Schwerpunkt der OECD weiterhin auf der Reform von Arbeitsmarktinstitutionen.
Die offensichtliche Betonung der Flexibilität von Arbeits- und Gütermärkten in den oben genannten Publikationen zeigt die massive Bedeutung niedriger Löhne in der Debatte. Die vorgeschlagenen Reformen zur Erhöhung der Flexibilität gehen mit der Erwartung eines Rückgangs des Lohnwachstums (oder sogar des Lohnniveaus) einher. Dies wird durch die Behauptungen impliziert, dass rigide Löhne eine Erholung nach einem makroökonomischen Schock verhindern, oder dass Lohnflexibilität erforderlich ist, damit sich Unternehmen an Konjunkturabschwünge anpassen können. Es wurde beispielsweise von der OECD ausdrücklich artikuliert, dass „Strukturreformen hauptsächlich durch Lohndruck nach unten makroökonomische Auswirkungen erwarten lassen“. Der institutionelle Rahmen der Arbeitsmärkte wird als Rigidität erachtet, die den Marktmechanismus daran hindert, effizient zu funktionieren.
Der Hintergrund: NAIRU-Story und NAIRU-Theorie
Wenn auch nicht explizit zum Ausdruck gebracht, folgen die genannten Institutionen einer Argumentation, die von Arbeiten zur sogenannten „Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment“ – kurz NAIRU – geprägt ist. Diesem Konzept zufolge gibt es ein langfristiges Arbeitslosigkeitsniveau, das von Arbeitsmarktinstitutionen und der Marktmacht der Unternehmen abhängt, und zu dem die Inflation stabil ist. Kurzfristige Abweichungen von diesem Niveau verursachen deflationären oder inflationären Druck und steuern die tatsächliche Arbeitslosigkeit in Richtung ihrer langfristigen Gleichgewichtsrate. Das kurzfristige Niveau der Arbeitslosigkeit wird zwar – einer keynesianischen Logik folgend – durch die aggregierte Nachfrage bestimmt, aber das langfristige Niveau wird in der Regel nicht von Nachfragebedingungen beeinflusst.
Obwohl die NAIRU-Theorie selbst keine arbeitsmarktorientierten Politikvorschläge erfordert, wird sie von der Mehrheit der (Mainstream-)ÖkonomInnen in diese Richtung interpretiert – man muss also zwischen einer NAIRU-Theorie und einer NAIRU-Story unterscheiden. Die NAIRU-Story lautet einerseits, dass die NAIRU rein von Arbeitsmarktinstitutionen bestimmt wird, und andererseits, dass die NAIRU selbst Veränderungen in der tatsächlichen Arbeitslosigkeit verursacht.
Jene Publikationen, die in diesem Beitrag berücksichtigt werden, spiegeln diese spezifische Interpretation der NAIRU-Theorie deutlich wider. Obwohl sie die Rolle stabilisierender makroökonomischer Politik und wettbewerbsfähiger Gütermärkte zum Teil anerkennen, konzentrieren sie sich in ihren Politikvorschlägen hauptsächlich auf die Arbeitsmarktinstitutionen. Und obwohl sie explizit auf den NAIRU-Rahmen verweisen, in dem die Marktmacht von Unternehmen eine entscheidende Rolle spielt, wird diese Seite bei Vorschlägen für Strukturreformen völlig ausgelassen. Einerseits werden länderspezifische Beispiele für zahlreiche Arbeitsmarktreformen angeführt, etwa die Senkung der Abfindungszahlungen in Portugal und Griechenland oder flexiblere Arbeitsverträge in Spanien, Italien und Irland – wo jedoch der NAIRU-Rahmen zu einer kritischen Bewertung der Marktmacht der Unternehmen führen würde, wie bei der Berücksichtigung der Flexibilität des Gütermarktes, liegt der Fokus der Institutionen wieder auf der Lohnflexibilität. Es wird argumentiert, dass Letztere entscheidend für Preisflexibilität ist.
Zudem werden in den jüngeren Publikationen von EU-Kommission und OECD, in denen die Rolle der aggregierten Nachfrage teilweise anerkannt wird, Ergebnisse ökonometrischer Schätzungen zugunsten der Effektivität von Arbeitsmarktinstitutionen interpretiert: „In der kurzen Frist haben gut funktionierende Arbeits- und Gütermärkte das Potenzial, das BIP-Wachstum rasch dem Wachstumspotenzial anzupassen“, heißt es etwa bei EU-Kommission.
Kritik
Aus diesen Beobachtungen folgt, dass die politischen Empfehlungen eine Mainstream-Interpretation der NAIRU-Theorie vorlegen, wobei aber bestimmte Aspekte der theoretischen Debatte ausgelassen werden. Es gibt allerdings auch fundamentalere Kritikpunkte, die weit über die einseitige Auslegung der NAIRU-Theorie hinausgehen.
Erstens setzt die implizite Behauptung, dass sich Arbeitsmarktinstitutionen stark genug in die behauptete Richtung geändert hätten, um die NAIRU nach oben zu drücken, voraus, dass diese Institutionen tatsächlich zu höheren Löhnen führen. Die meist implizite, manchmal auch explizite Behauptung von OECD, EZB und Kommission lautet, dass Löhne aufgrund von Arbeitsmarktinstitutionen zu stark gestiegen wären. Dies widerspricht aber eindeutig den Entwicklungen in Europa in den letzten Jahrzehnten – tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, während die Lohnquote gesunken ist. Die Lohnerhöhungen sind deutlich hinter die Produktivitätssteigerungen zurückgefallen, so dass die Lohnquote zwischen 1980 und Anfang der 2000er Jahre um zehn Prozentpunkte gesunken ist. Unterdessen hat sich die Arbeitslosenquote nicht verbessert. Anscheinend „können die stilisierten Fakten die NAIRU-Geschichte nicht unterstützen“, wie Engelbert Stockhammer schon vor über zehn Jahren richtigerweise feststellte – was die Institutionen aber nicht davon abhielt, diese Geschichte weiter zu erzählen.
Zweitens kamen bereits mehrere empirische Studien zu dem Schluss, dass Arbeitslosigkeit nicht durch die Veränderung von Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden kann. Und drittens fehlen in den politischen Empfehlungen der Institutionen ernstzunehmende Überlegungen zur effektiven Nachfrage. Eine Berücksichtigung der sogenannten Hysterese im NAIRU-Rahmen, d. h. der Endogenität der NAIRU würde aber wichtige politische Schlussfolgerungen der NAIRU-Story untergraben. Hysterese bezeichnet in der Volkswirtschaftslehre Entwicklungen, die weiterhin anhalten, auch wenn ihre Ursache längst abgeklungen ist.
Im Fall von Hysterese-Effekten auf dem Arbeitsmarkt spielt die effektive Nachfrage eine wichtige Rolle, was die Wirksamkeit makroökonomischer Politikmaßnahmen erhöht: Arbeitslosigkeit in der kurzen Frist wird durch effektive Nachfrage bestimmt und ist zugleich durch Hysterese-Effekte die wichtigste Determinante für Arbeitslosigkeit in der langen Frist. Laurence Ball stellte beispielsweise fest, dass die Geldpolitik eine wichtige Rolle bei der Bestimmung langfristiger Arbeitslosigkeit spielt. Engelbert Stockhammer und Erik Klär zeigten, dass die Investitionen einen stärkeren Einfluss auf die mittelfristige Arbeitslosigkeit haben als Arbeitsmarktinstitutionen. Dies führt zu üblichen postkeynesianischen Forderungen: Stabilisierung der Gesamtnachfrage durch Lohnerhöhungen und Investitionsstimulus.
Weder theoretisch noch empirisch haltbar
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die von wichtigen und mächtigen wirtschaftspolitischen Institutionen wie der OECD, der EZB und der Europäischen Kommission gezogenen Schlüsse weder durch empirische noch durch theoretische Beweise haltbar sind. Ein genauerer Blick auf ausgewählte Publikationen zur Arbeitslosigkeit zeigt einen starken Fokus auf Arbeitsmarktinstitutionen als Bestimmungsfaktoren für anhaltende Arbeitslosigkeit. Dieser Schwerpunkt veranlasst die drei betrachteten Institutionen, eine Wirtschaftspolitik zu empfehlen, die auf eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine zurückhaltende Lohnpolitik abzielt.
Wie in diesem Beitrag gezeigt kommt der offensichtliche Schwerpunkt auf Arbeitsmarktflexibilität durch eine einseitige Interpretation der zugrunde liegenden Wirtschaftstheorie zustande. Die betrachteten Publikationen beziehen sich implizit auf den NAIRU-Rahmen, lassen aber die Möglichkeit einer „endogenen NAIRU“, die durch effektive Nachfrage bestimmt ist, unberücksichtigt.
Die Anerkennung der entscheidenden Rolle der effektiven Nachfrage bei der Bestimmung der Arbeitslosigkeit würde die politischen Empfehlungen erheblich ändern – statt Deregulierung des Arbeitsmarktes wären makroökonomische Maßnahmen wie die Ankurbelung von Investitionen wesentliche Instrumente zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Angesichts der Tatsache, dass Arbeitsmärkte drastisch dereguliert wurden und die Lohnquote gesunken ist, während die Arbeitslosigkeit hoch blieb (oder sogar deswegen noch weiter gestiegen ist), ist diese Anerkennung zusammen mit den damit verbundenen Maßnahmen dringend notwendig, um spätestens im nächsten Abschwung eine Wiederholung katastrophaler Fehlentscheidungen zu vermeiden.
Zur Autorin:
Luise Wimmler ist Masterstudentin in Political Economy an der Kingston University London und Université Paris 13 mit Schwerpunkt Makroökonomie und Finance.