Fremde Federn

Moats, Piketty, Pharma-Industrie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was Firmen unangreifbar macht, wie die Idee eines Grundeinkommens in den USA politische Gräben überwindet und warum Fridays for Future die wahren Liberalen sind.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Was Firmen unangreifbar macht – eine Übersicht

piqer:
Rico Grimm

Etwas trocken geschrieben, aber wahnsinnig hilfreicher Artikel über die sogenannten Moats: die Wettbewerbsvorteile, die eine Firma am Markt haben kann und die ihre Profite schützt. Denn Moats heißt auf Deutsch „Graben“ und wenn Analysten, Investoren und Start-up-Gründer auf Unternehmen schauen, suchen sie nach diesen Gräben.

Dieser Text hilft einem also dabei, besser zu verstehen, wie die Unternehmenswelt tickt, auf eine sehr grundsätzliche Weise, die die Wirtschaftspresse eher voraussetzt als explizit einmal erklärt. Ganz grundsätzlich können die Vorteile aus vier Gründen stammen: staatliche Protektion, Größenvorteile, system-inhärent oder durch spezielles Wissen. Mal konkret angewandt: Warum zum Beispiel ist Facebook so unangreifbar? Weil es sowohl Größenvorteile hat als auch system-inhärente Gräben einziehen konnte. Ein konkurrierendes soziales Netzwerk aufzubauen, scheitert oft daran, dass einfach nicht genug Menschen es nutzen. Nutzen es aber nicht genug Menschen, gibt es keinen Grund, Facebook überhaupt zu wechseln. Und wenn doch einmal ein Konkurrent wie Snapchat zum Beispiel auftaucht, spielt Facebook seine Größenvorteile aus und kopiert wichtige Funktionen einfach.

Der menschliche Fortschritt existiert, aber er bedeutet Streit und Auseinandersetzung (Piketty)

piqer:
Achim Engelberg

Der französische Ökonom Thomas Piketty ist kein Unbekannter auf piqd, zuletzt empfahl Rico Grimm einen Blogeintrag. Nun publizierte der Bestsellerautor (Das Kapital im 21. Jahrhundert) ein noch nicht übersetztes Opus Magnum von 1200 Seiten.

Der Frankreich-Korrespondent Eduardo Febbro stellt das Werk vor, in dem Piketty eine tief zurückreichende Geschichte der gravierenden Ungleichheit erzählt, die aber gewollt ist. Deshalb der Titel Capital et Idéologie (Kapital und Ideologie).

Jede ungleiche Ordnung beruht letztlich auf einer Theorie der Gerechtigkeit. Die Ungleichheiten müssen gerechtfertigt werden und sich auf eine plausible, schlüssige Vision der idealen gesellschaftlichen und politischen Organisation stützen. …Daher bringt jede Epoche eine Reihe widersprüchlicher Diskurse und Ideologien hervor, deren Absicht die Legitimierung der Ungleichheit ist.

Nach Ansicht Pikettys gibt es Zyklen der Ungleichheit. Der stärkste fällt mit dem Ersten Weltkriegs (1914-1918) zusammen und seine Auswirkungen reichen bis heute, ja, ein neuer Kollaps droht.

Was tun?

Nicht eine schnelle Zerstörung des Systems schlägt Piketty vor, sondern er plädiert für eine Neuausrichtung und vor allem die Dekonstruktion der liberalen Rhetorik, da diese Angst erzeugt.

Piketty will das Risiko der Eigentumsumverteilung eingehen, regt zum neuen Nachdenken über Eigentum, Herrschaft und Emanzipation an und hat dazu einige Vorschläge.

Die „eigentumsbasierte“ Ideologie, die keine grundlegenden Alternativen, sondern nur Variationen kennt, erstickt vieles und es besteht – so Piketty – eine fundamentale Gefahr:

Wenn das heutige Wirtschaftssystem nicht grundlegend geändert wird, um es sowohl in den einzelnen Ländern als auch zwischen den Staaten weniger ungleich, gerechter und nachhaltiger zu gestalten, könnten der fremdenfeindliche ,Populismus‘ und seine eventuellen Wahlerfolge sehr bald eine Bewegung zur Zerstörung der hyperkapitalistischen, digitalen Globalisierung der Jahre 1990 – 2020 einleiten.

„Get Brexit done!“ – Wie Netzwerkpolitik Parteien unter Druck setzt

piqer:
Silke Jäger

Als das Oberste Gericht die Zwangspause des Parlaments für unrechtmäßig erklärt hatte, wurde schnell klar, dass Boris Johnson selbst nach dieser „Niederlage“ nicht zurücktreten wird. Und nach seinem Auftritt im Parlament am letzten Mittwoch dürften alle verstanden haben, dass die üblichen Regeln der Parteipolitik nicht mehr gelten.

Johnsons Sprache provoziert Gewalt. Das werfen ihm viele Parlamentarier:innen vor, die Todesdrohungen bekommen haben. Viele dieser Drohungen benutzen Worte aus Johnsons Narrativ, das man so zusammenfassen kann: Das Volk vs das Parlament. (Ein anderes seiner Narrative geht so ähnlich: The free UK vs the oppressive EU.)

Gestern begann die Parteikonferenz der Torys und bereits Sonntagabend schwor Johnson seine Freunde auf einer Party auf die aggressive Linie ein, die so viele geschockt hat (Video dazu bei Twitter).

Matthew d’Ancona arbeitet in diesem recht langen (und zum Teil sehr kleinteiligen) Stück heraus, wie diese „neue“ Linie in die Netzwerklogik der transatlantischen Neuen Rechten passt. Schlüsselfigur ist hier wieder mal Steve Bannon. Doch das ist weniger interessant, als die Überschrift suggeriert. Spannender ist, wie die Methode in UK funktioniert. Dafür führt der Autor viele Beispiele und Belege an.

The old partitions that separated respectable institutions – including mainstream political parties – from fringe opinion are being torn down. Network politics means that all right-wing messaging exists on a continuum. One part of the network can say what another cannot. Which is not to say that the degree of co-ordination is high or even especially significant. What matters is that each part of the network performs its role – governing, campaigning or mobilising street support.

Vieles scheint schon oft besprochen worden zu sein. Aber selten im Zusammenhang mit dem Brexit. Oft erklärt man sich hier die Entwicklung mit der Geschichtsblindheit der Briten und der Austeritätspolitik der letzten Jahre. Stimmt auch. Aber hinter dem Brexit steckt mehr.

Der Brexit als Weltmacht-Nostalgie?

piqer:
Thomas Wahl

Münkler analysiert in diesem Artikel den Brexit als geopolitische Katastrophe für Europa. Die innereuropäischen und wirtschaftlichen Folgen und Ursachen sind breit diskutiert worden. Was es aber bedeutet, wenn ein ehemaliges Empire meint, austreten zu müssen, wurde wenig beleuchtet. Die Glorifizierung der guten alten Zeiten dieser Weltmacht wurde eher als Schrulle betrachtet. Dass ein Austritt Großbritanniens samt Commonwealth die weltpolitischen Stellung Europas völlig verändert, hat man eher übersehen.

Als Churchill in seiner berühmten Zürcher Rede am 19. September 1946 die Bildung eines Vereinigten Europas forderte, ging er ganz selbstverständlich davon aus, dass Großbritannien diesem Europa nicht angehören werde. Für Churchill war das Empire nach wie vor eine Weltmacht; es hatte den Krieg gegen Nazi-Deutschland gewonnen, ihn von den drei Siegermächten am längsten und zeitweilig auf sich allein gestellt geführt, und die Konferenzen von Jalta und Potsdam hatten diesen Weltmachtanspruch bestätigt. ….. Als Gegengewicht zur UdSSR wollte Churchill das Vereinigte Europa. So sollte auf dem Kontinent ein politisch-militärisches Gegengewicht entstehen, das den miteinander eng verbündeten Seemächten USA und Großbritannien zusätzlichen politischen und wirtschaftlichen Spielraum verschaffen würde. Boris Johnson, der Churchill als Vorbild hat, dürfte die Dinge so ähnlich sehen.

Nur ist Britannien eben keine Weltmacht mehr. Die Europäische Union mit England könnte ein Akteur mit Weltmachtgewicht werden. So verwundert es nicht, dass sowohl Trump als auch Putin Interesse an einem politisch und wirtschaftlich zersplitterten Kontinent haben. Mit dem ausgetretenen Vereinigten Königreich (heute dann an der Seite der USA) einerseits und Russland andererseits ergibt sich nun eine Konstellation wie im 19. Jahrhundert, die zur Vorstellung der Einkreisung Europas durch diese Flügelmächte geführt hat. Mit samt der Neigung zu bewaffneten Konflikten – von Napoleon bis Hitler.

Partei ohne Erzählung – die Krise der SPD

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Hauke Friederichs

Einst verstand es die Sozialdemokratie wie keine andere politische Kraft, ihr Tun, ja ihre Existenz und Notwendigkeit, in einen großen Sinnzusammenhang zu stellen. Heute ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands merkwürdig und beunruhigend sprachlos geworden. Die SPD hat das verloren, was ihr einst ein Alleinstellungsmerkmal einbrachte, ihre große Erzählung.

Schon in den 1950er Jahren hielt Hannah Arendt fest, dass eine kollektive Politik ohne Erzählung eigentlich nicht möglich sei. Parteien müssten eine bessere Gesellschaft beschreiben, sie müssen erzählen, wie sie politischen Wandel organisieren werden, ansonsten erhielten sie keine Legitimation mehr.

„Ist das Reden von einer politischen Erzählung heute nicht nur noch bloße Nostalgie aus einer Zeit organisierbarer Kollektive, fest geordneter Milieus, mithin aus der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts, die sich im Zuge der Individualisierung längst in Luft aufgelöst hat?“, fragen Felix Butzlaff und Robert Pausch in Blätter für deutsche und internationale Politik. Eine Suggestivfrage. Sie antworten sich selbst: „Weit gefehlt!“

Ihnen geht es nicht nur um Kommunikation von Inhalten. Erzählungen sind das schöpferische Potential von Politik. Sie sammeln Mehrheiten, denn sie sind sinn- und identitätsstiftend. Menschen und auch Gemeinschaften erzählen sich ihre Geschichte, erklären ihre Gegenwart und entscheiden, was sich verändern und was bleiben muss.

Ein weiteres Merkmal großer Erzählungen ist Vielstimmigkeit und Unschärfe. Sie bieten so eine Vielfalt an Erzählungen, sind flexibel und anpassungsfähig, sowohl über gesellschaftliche Gruppen und Zeit hinweg. Und drittens macht eine große Erzählung einen inneren Zusammenhang deutlich und ein gemeinsames Ziel.

Willy Brandts historisch gewordener Ausspruch von mehr Demokratie wagen ist dafür ein Beispiel. Aber auch Erhard Eppler oder Oskar Lafontaine lieferten Erzählungen – so lang ist das noch gar nicht her. Und wirkt heute doch so historisch.

Die chinesische Pharma-Industrie wird erwachsen

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Hristio Boytchev

Viel ist über die KI-Ambitionen Chinas geschrieben worden. Doch auch in der Pharma-Forschung macht das Land rapide Fortschritte. Noch ist es vor allem als Herstellungsort billigerer Generika (also Arzneimittel mit abgelaufenem Patentschutz) bekannt. Wie in diesem Text jedoch beschrieben wird, entwickelt sich das Land auch hier zu einem globalen Innovator.

Angetrieben wird der Fortschritt von einer Viertelmillion ins Land zurückgekehrter Biomedizin-Forscher*innen, einer Gesetzgebung für Medikamenten-Zulassung auf westlichem Standard, Milliarden-Investitionen und letztlich auch der stetig steigenden Nachfrage eines riesigen Marktes nach besseren Arzneimitteln.

Warum Fridays for Future die wahren Liberalen sind

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Ralph Diermann

In diesem kraftvollen Essay arbeitet Carolin Emcke mit Blick auf Fridays for Future heraus, in welch jämmerlichem Zustand sich die FDP programmatisch-intellektuell derzeit befindet. Der Freiheitsbegriff der Partei beschränke sich auf die technisch-konsumistische Selbstoptimierung der Person, auf die Deregulierung des Marktes. Selbstbestimmung, Mündigkeit, Autonomie – der Wesenskern eines echten Liberalismus – verortet Emcke dagegen bei der Fridays-for-Future-Bewegung, an der sich Christian Lindner und seine Parteifreunde mit den Trigger-Begriffen „Verbot“ und „Verzicht“ so sehr abarbeiten.

Was die FDP als antiliberalen Verzicht abwerte, habe früher einmal „Wahl“ geheißen und sei Grundelement jeder liberalen Erzählung gewesen, schreibt sie.

„Fridays for Future symbolisiert nichts stärker als einen Freiheitswillen, der sich nicht zwingen lassen will in eine Lebensform, die nicht nur ausbeuterisch Ressourcen vernichtet, sondern die schlicht dysfunktional und nicht überlebensfähig ist.

Und:

„Wir können wählen, wie wir leben sollen, wir können mitbestimmen, welche Art der Landwirtschaft, welche Form der Mobilität wir als Gesellschaft wollen. (…) Wir können mitverhandeln, was für uns ein freies, solidarisches und gerechtes Leben bedeutet, im lokalen und globalen Kontext. Und ja, es lässt sich auch autonom entscheiden, etwas nicht zu wollen.“

schreibt Emcke. „Liberalismus bedeutet Vertrauen in den Menschen, seine Mündigkeit und seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen“, zitiert die Autorin Lindner. Genau dieser rationale Gestaltungsoptimismus, der aus den Worten Lindners spricht, präge Fridays for Future – umso erbärmlicher die Angriffe aus der FDP. Emcke schließt:

Vielleicht erklärt das die Paralyse der Liberalen der Gegenwart: dass ihnen in Fridays for Future vorgeführt wird, was ein anspruchsvoller Begriff von Freiheit, von dem man sich selbst schon längst verabschiedet hat, bedeuten könnte.

Erinnerungen an die wilden Zeiten des Silicon Valley

piqer:
Jannis Brühl

Anna Wiener erlebte die Boomjahre des Silicon Valley mit: Als Quereinsteigerin aus der Literaturbranche arbeitete sie unter anderem bei Github (auch wenn sie den Namen im Text nie nennt). Das macht den Text fast schon zu einem historischen Dokument dieser besonderen Zeit an der Westküste.

Dieser Auszug aus ihrem Buch ist eine sehr gut geschriebene Innenansicht der völligen Selbstbesoffenheit der Tech-Szene zu einem Zeitpunkt, als an Selbstkritik nicht zu denken war: die Guru-artigen Chefs, die alle aus guten Familien kommen und mangelnde Ahnung und fehlende Skrupel durch unglaubliches Selbstbewusstsein ersetzen; die Hackordnungen (wer im Kundendienst arbeitet, wird von Programmierern verachtet; Nähe zum Chef ist in informellen Strukturen alles); die miesen Einstiegsgehälter; der Sexismus, der auch nach den Gamergate-Exzessen, die Wiener aus nächster Nähe miterlebt, nicht wirklich eingestanden wird; und App-Features, die ganz offen „Addiction“ genannt wurden, was sich heute aufgrund der „Human Tech“-Debatte vermutlich niemand mehr trauen würde.