Fremde Federn

MMT, Aldi-Effekt, Euro-Kritiker in Athen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Woran die Fusion von Commerzbank und Deutsche Bank krankt, wie VW auf die Vorgaben von Politik und Öffentlichkeit reagiert und warum es die Argumentation der Befürworter der Modern Monetary Theory verdient, ernst genommen zu werden.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Sind Staatsschulden egal?

piqer:
Georg Wallwitz

Die Theorien in der Volkswirtschaft kommen und gehen. Sie gehen nicht, indem ein Gegenbeispiel gefunden wird wie in der Mathematik oder Physik, sondern indem sie immer weniger Anhänger haben in der Zunft – bis sie schließlich nur noch in den Feuilletons weiter existieren, wie heute etwa der Neoliberalismus, der zwar keine lebenden Anhänger mehr hat, der aber die Gemüter der Laien nach wie vor heftig erhitzen kann.

Eine neue Theorie, welche derzeit in linken bzw. sozialistischen Kreisen in den USA (die es anscheinend wieder gibt!) und darüber hinaus lebhaft diskutiert wird, ist die „Modern Monetary Theory“ (MMT). Diese Theorie besagt (grob verkürzt), dass ein Staat, der sich in eigener Währung verschulden kann, nicht auf die Höhe seiner Schulden achten muss, da er sie im Zweifelsfall durch frisch geschöpftes Geld seiner Zentralbank problemlos zurückzahlen kann. Daher sollte der Staat für Zwecke, die er für sinnvoll hält, das Geld ohne große Bedenken reichlich zur Verfügung stellen. Inflation bekämpft man in dieser Theorie am besten, indem man Geld durch Besteuerung wieder abschöpft.

Orthodoxen Ökonomen (was auch immer das ist, es gibt derzeit keine dominante Theorie in der VWL) sehen darin wenig mehr als klassische Umverteilung, die in einer heftigen Inflation enden wird. Hatten nicht Havenstein (Reichsbankpräsident) und Stinnes (einflussreichster Industrieller) Anfang der 1920er-Jahre ebenfalls argumentiert, Staatsschulden würden nicht zu einer Inflation führen? Wie dem auch sei, die Argumentation der Befürworter der MMT verdient es ernst genommen zu werden, und sei es auch nur, um sich der Lehren der Vergangenheit mal wieder zu versichern.

Der Kapitalismus hat mehr Vor- als Nachteile?

piqer:
Thomas Wahl

Vor Kurzem habe ich bereits einen Artikel zu Werner Plumpes Geschichte des Kapitalismus empfohlen. Ging es dort im gewissen Sinne um eine Methodenkritik, bringt jetzt die SZ eine Rezession, die eher eine Inhaltswiedergabe ist. Insofern ergänzen sich die beiden Darstellungen. Interessant auch, wie unterschiedlich die Einschätzungen ausfallen.

Die Rezession der SZ stellt heraus, der Kapitalismus erkauft die Vorteile seiner immer kapitalintensiveren Wirtschaft und den daraus entstehenden preiswerten Waren für „Jedermann/-frau“ mit den Nachteilen der Abhängigkeit der Arbeit.

Das ist kein Widerspruch, der den Kapitalismus irgendwann zwingt, sich selbst aufzuheben, sondern eine unvermeidliche Randbedingung einer Massenproduktion für den Massenkonsum, die ohne massiven Kapitaleinsatz nicht möglich ist. Karl Marx stellte sich vor, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu einer humanen Gesellschaft führt, die ohne dieses Moment der Abhängigkeit auskommt, doch Plumpe argumentiert mit John Maynard Keynes, dass eine kapitalintensive Industrie hohe Investitionsquoten voraussetzt, die wiederum nur möglich sind, wenn dem Produktionsprozess ein Vermögen entnommen wird, das gespart und reinvestiert werden kann.

Soziale Ungleichheit ist diesem Mechanismus generisch eingeschrieben. Die einen arbeiten abhängig und können dadurch auf steigendem Niveau konsumieren. Die anderen lassen arbeiten und investieren (Risiko und Luxuskonsum eingeschlossen). Beide Seiten bedingen sich gegenseitig und benötigen entsprechende Rahmenbedingungen. Das ändert sich auch nicht, wenn das Privateigentum der Produktionsmittel nicht mehr grundsätzlich in den Händen einzelner Eigner liegt, sondern unter einer Menge von Aktionären, Pensionsfonds und Ähnlichem breit gestreut wird.

Die Frage stellt sich, ob man diesen Mechanismus ohne privates Eigentum denken und realisieren könnte, ohne die wirtschaftliche und soziale Dynamik zu verlieren?

Hüpfen für den Absatz

piqer:
Frank Lübberding

Autohersteller sind nicht anders als andere Unternehmen. Sie reagieren auf die Nachfrage der Konsumenten. Ohne die wäre der durchschlagende Erfolg der SUVs unmöglich gewesen. In Verbindung mit sparsamen Dieselmotoren überzeugte dieses Angebot viele Kunden.

Das hat sich scheinbar geändert. Erstmals reagieren Autohersteller nämlich nicht auf Marktsignale, sondern auf die Vorgaben von Politik und Öffentlichkeit. In diesem Artikel wird erläutert, wie sich Volkswagen „an die Spitze der Anbieter elektrischer Fahrzeuge“ setzen will. Aus den Zulassungszahlen für diese Fahrzeuge lassen sich allerdings keine Marktsignale erkennen. Im vergangenen Jahr erreichten Elektroautos einen Marktanteil von einem Prozent. Das kann viele Gründe haben: Unzureichende Reichweite, lange Ladezeiten, fehlende Infrastruktur. Trotzdem will der VW-Vorstandsvorsitzende Herbert Diess bis 2023 „mehr als 30 Milliarden Euro in die Elektrifizierung seiner Flotte investieren.“ Im vergangenen Jahr verkaufte er immerhin schon 6.762 Fahrzeuge.

Nun war der Feind des Guten schon immer das Bessere. Die Konsumenten müssten lediglich von den neuen Elektroautos überzeugt werden. Bis dahin verkauft VW immer noch die Modelle mit den alten Motoren. Kann es also sein, dass es Diess gar nicht um diese Wende zur Elektromobilität geht und er die Gelegenheit nutzen will, die als Ballast empfundenen Konzernstrukturen zu zerschlagen?

Das Argument namens „Dekarbonisierung“ macht ihn unangreifbar. Setzt er doch nur um, was Politik und Öffentlichkeit verlangen. Da müssen Gewerkschaften und Wirtschaftspolitiker die Segel streichen. So kann er tausende Arbeitsplätze streichen und weiteren Abbau ankündigen. Diess handelt damit rational. Sollte der Umbau zur Elektromobilität an der fehlenden Nachfrage scheitern, könnte er sogar noch die entsprechenden Werke in Deutschland schließen. Um das zu verhindern, hier ein Vorschlag für den Konzernvorstand: Wie wäre es mit „Hüpfen für den Absatz“? Unter Umständen überzeugt das den Kunden.

Digitalpakt Schule: Datenschützer in Sorge. Und: Was tun mit den Milliarden?

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MDR

Bessere technische Ausstattung für Schulen und mehr digitale Lernmittel: Nachdem der Bundesrat dem „Digitalpakt Schule“ zugestimmt hat, ist der Weg frei für die Milliardenhilfen des Bundes. Doch die Vorstellungen, was konkret mit dem Geld geschehen soll, gehen bei Lehrern, Eltern und Schülern auseinander. Außerdem äußern sich die Datenschützer besorgt.

Die Väter der deutschen Euro-Kritik (und der AfD) fahren ins Herz der Krise – nach Athen

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Rico Grimm

FAZ-Südosteuropa Korrespondent Michael Martens hat in Athen Hans-Olaf Henkel und Joachim Starbatty getroffen, die in den Hochzeiten der Eurokrise für einen Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone warben und so unzufrieden mit dem Kurs der damaligen Bundesregierung waren, dass sie die AfD mit groß gemacht haben. In dieser Partei sind sie schon lange nicht mehr, aber zur Wirtschaft haben sie immer noch etwas zu sagen. Ich habe den Text ausgewählt, weil der Reporter die beiden Herren durchweg mit ihren eigenen Prognosen von damals konfrontiert. Prognosen übrigens, die in Athen heute niemanden mehr interessieren.

Suche nach dem verlorenen Sinn

piqer:
Frank Lübberding

Im Jahr 1965 hatte die deutsche Politik noch andere Probleme mit der Deutschen Bank. Die Macht der größten deutsche Großbank symbolisierte sich in der Person ihres Vorstandssprechers Hermann-Josef Abs und seinen dreißig Aufsichtsratsmandaten in führenden deutschen Unternehmen.

Mit der „Lex Abs“ wurde diese Zahl auf zehn beschränkt. Am Geschäftsmodell der Deutschen Bank im deutschen Universalbankensystem änderte sich aber nichts. Sie lebte, wie auch ihre kleineren Konkurrenten Dresdner Bank und Commerzbank, von ihren Unternehmensbeteiligungen und dem damit verbundenen Kreditgeschäft. Die Großbanken waren die Schnittstelle im Modell Deutschland. Sie machten praktisch  Industriepolitik und hatten entsprechenden politischen Einfluss.

Seit dem beginnenden Verfall dieses Modells ab den 1980er Jahren suchen diese Banken nach einem neuen Geschäftsmodell. Der viel geschmähte Josef Ackermann hatte immerhin mit einem aggressiven Investmentbanking den Umstieg zu einem angelsächsischen Bankenmodell versucht. An den Folgen leidet die Bank allerdings noch heute.

In dem Artikel von Lukas Zdrzalek über die Fusion von Deutsche Bank und Commerzbank wird das Scheitern dieser Suche nach einem Geschäftsmodell deutlich. Er nennt jene Argumente, die gegen diese Fusion sprechen. Das entspricht zwar dem ökonomischen Mainstream, ist aber trotzdem nicht überzeugend. Mit der Fusion reagiert man nämlich auf einen Veränderungsprozess in der Weltwirtschaft. Dort trifft die Marktlogik der Globalisierung längst auf die Konkurrenz der politischen Logik von Großwirtschaftsräumen. Eine exportabhängige Volkswirtschaft wie Deutschland braucht für seine Unternehmen eine international konkurrenzfähige Großbank mit den entsprechenden Kompetenzen. Das löst noch nicht die Schwierigkeiten im Fusionsprozess. Aber die deutschen Großbanken hatten bisher vor allem ein Problem: Sie wussten eigentlich nicht mehr, wozu sie überhaupt noch da sind. Das zu ändern, wäre immerhin schon einmal ein Fortschritt.

Der Aldi-Effekt – wie der Discounter die britische Shoppingpsyche revolutionierte

piqer:
Dmitrij Kapitelman

1990 eröffnete Aldi seine erste Filiale in Großbritannien. Genauer im wenig weltbekannten Stechford Birmingham. Dann passierte: nichts. Fast nichts. Die Discount-Marke der deutschen Albrecht-Brüder blieb eine Randerscheinung mit geringen Marktanteilen auf der Insel. Von Zulieferern gemieden, von der Konkurrenz als Parasiten verschrien.

Gegenwärtig ist die Konkurrenz noch schlechter auf Aldi zu sprechen. Versorgt der Eindringling doch inzwischen zwei Drittel der Haushalte, weiterhin massiv wachsend. Nun empfehle ich diesen Text ganz sicher nicht, weil ich mich über eine deutsche Export-Erfolgsgeschichte freue. Sondern weil die Ursachen des Erfolgs extrem spannend und hier sehr gut beschrieben sind. Die immensen Vorteile eines nicht börsennotierten und dennoch global operierenden Unternehmens. Die Praxis, die besten Löhne an die Belegschaft zahlen zu können, weil man die geringste benötigt. Und die 1.000 psycho-ökonomischen Kniffe, die der Konsument bei Aldi subkutan mitnimmt.

Apropos Psyche: Sehr unterhaltsam auch der Teil über die Albrecht-Brüder und ihren Geiz. Die selbst das Lösegeld für die eigene Entführung als Betriebsausgabe versteuern wollten.

„Die Irreversibilität der Veränderung ökologischer Systeme ist noch nicht begriffen worden“

piqer:
Daniela Becker

Tilo Jung hat in seinem Format Jung&Naiv die Bundespressekonferenz zum Thema „Scientists for Future – Wissenschaftler zu den Protesten für mehr Klimaschutz“ online gestellt (Gesamtlänge 45 Minuten).

Ich möchte insbesondere auf die kurze Sequenz ab Minute 34 hinweisen. Dort stellt ein Journalist die Frage, die in mannigfaltiger Variation praktisch täglich in den Wirtschaftsrubriken deutscher Tageszeitungen wiedergekäut wird: Sind die ökonomischen und sozialen „Verwerfungen“, die durch die geforderten radikalen Klimaschutzmaßnahmen „drohen“, nicht genauso schlimm oder gar noch schlimmer als die Folgen der Klimakrise?

In dem nachfolgenden 5-minütigen Ausschnitt nehmen Prof. Dr. Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und Prof. Dr. Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW in Berlin, dieses Totschlagargument eloquent auseinander.

Wie Banken Bauern ihr Land klauen – mitten in Europa

piqer:
Christian Gesellmann

Diese Recherche des holländischen Magazins De Correspondent zeigt auf, wie europäische Großbanken rumänische Kleinbauern mit kriminellen Methoden von ihrem eigenen Land vertreiben, um es dann später mit viel Gewinn weiterzuverkaufen an internationale Landwirtschaftsunternehmen. Die Bauern werden erpresst, bedroht und betrogen, manche erfahren erst von ihrem Bürgermeister, dass ihnen ihr Land angeblich gar nicht mehr gehört, sie müssen in irgendwelchen Kellern unter Zwang Verträge unterschreiben, die Banken lassen Subunternehmen die Drecksarbeit erledigen, die sich wiederum gern der lokalen kriminellen Netzwerke und korrupter Politiker bedienen, mit Drückerkolonnen und Schlägertrupps zusammenarbeiten.

Die Bauern landen dann später nicht selten als Lohnarbeiter angestellt bei Deutschen, Holländern, Italienern oder Franzosen wieder auf dem Land, das ihnen einst gehörte, auf dem sie wohnten, Tiere hielten, ökologische und diversifizierte Landwirtschaft betrieben, wo heute industrielle Monokulturen aus der reichen schwarzen Erde graue chemikalienabhängige Steinbrocken machen. Das Phänomen heißt Landraub, und es passiert nicht nur in Rumänien, sondern überall auf der Welt, wo sich die Einwohner nicht gegen die Finanzindustrie wehren können, die die Lebensmittelproduktion längst kontrolliert. In welchem Ausmaß, zu welchen Kosten für die soziale Struktur der betroffenen Regionen, beschreibt Luke Dale-Harris in dieser sowie einer zweiten Reportage eindrücklich und gründlich recherchiert am Beispiel der Rabobank, die das alles natürlich nicht daran hindert, einfach weiter zu machen.

Brief eines Proletarierkindes an den Vater

piqer:
Marcus Ertle

In meinem letzten piq habe ich mich etwas spöttisch über journalistische Texte geäußert, in denen Autoren sich mit ihren Eltern beschäftigen. Ich meinte darin eine nabelschauhafte Selbstumkreisung egozentrischer Bürgerkinder zu erkennen.

Aber auch in einem Genre, das man eher belächelt, findet sich immer wieder eine Ausnahme, die den eigenen Spott zum Schweigen bringt und einen berührt.

Eine solche Ausnahme ist der Text Christian Barons im Freitag. Darin beschäftigt er sich mit seiner Kindheit in prekären Verhältnissen und im Speziellen mit seiner Beziehung zu seinem Vater. Ein einfacher, sehr einfacher Mann, nicht das Ideal des fleißigen, braven kleinen Mannes, sondern ein Trinker, ein Schläger, ein Gelegenheitsarbeiter, aber eben doch der Vater eines Kindes, das ihm all den Schmerz der frühen Jahre auf dem Totenbett verzeiht.

Dass Borin die richtige Sprache findet, um diese Geschichte zu erzählen, ist das wertvolle an diesem Text. Denn die Sprachlosigkeit, das Nicht-miteinander-reden-können, die stille Verzweiflung, die zu Gewalt und Agonie wird, sie ist ja oft das eigentliche Elend derer, die man zur Unterschicht zählt (falls der Begriff noch politisch korrekt ist).

Der Text des Sohnes eines sehr einfachen Mannes also. Was das bedeutet, kann man nur verstehen, wenn man weiß, dass es nichts komplizierteres als einfache Verhältnisse gibt.