In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der Mindestlohn und Arbeitsplätze – eine unendliche Geschichte?
piqer:
Thomas Wahl
Es scheint, als ob sich die Diskussion um Pro und Contra der Mindestlöhne, und da vor allem um höhere, wieder belebt. So versprach Amerikas neuer Präsident eine drastische Erhöhung desselben. Und wie zu erwarten wird das vom Volk begrüßt:
Most Americans share President Joe Biden’s enthusiasm for increasing the federal minimum wage to $15 an hour from $7.25. Two-thirds of them—and more than 40% of Republicans—favour such a rise, according to Pew Research Centre, a polling firm.
Ökonomen sind allerdings bei den Auswirkungen eher gespalten, wenn auch nicht grundsätzlich dagegen:
When a panel of eminent scholars was asked in 2015 whether a $15 minimum would deal a substantial blow to employment, 40% of respondents were undecided, and the rest were split evenly for and against.
Kein Wunder, gibt es doch wenig Erfahrungen mit einer so großen Steigerung. Es könnte Jobs kosten, auch wenn es Beispiele gibt, dass eine vorsichtige Einführung positive Langzeiteffekte haben kann.
In an overview of research conducted for the British government in 2019, Arindrajit Dube of the University of Massachusetts at Amherst concluded that minimum wages of up to 60% of the median wage, or 80% of the median in low-wage regions, have negligible employment effects.
Aber bei hohen Anhebungen und vergleichsweise hohen Absolutwerten wie den genannten 15 $ könnte es anders aussehen:
The scope for firms to adjust is not infinite, though, and in some parts of America a $15 minimum, which is more than what at least 30% of workers nationwide were paid in 2019, could be more than employers can handle.
Der Wirtschaftsblog der FAZ greift die Problematik auf und kommt auf Grund von Metastudien zu interessanten Schlußfolgerungen – durchaus im Widerspruch zu früheren Einzelstudien und auch zu bekannten linkeren Ökonomen wie etwa dem Nobelpreisträger Paul Krugman. Für eine Metastudie zum Forschungsstand bezüglich der Mindestlöhne fanden sich allein 66 Studien, die sich seit 1992 mit dem Mindestlohn in den Vereinigten Staaten befasst hatten. Auf eine Anfrage gaben Autoren von 57 dieser Studien standardisierte Antworten. Diese
fielen unerwartet deutlich aus: 80 Prozent der Studien hatten einen negativen Effekt auf die Beschäftigung gefunden, davon waren 50 Prozentpunkte signifikant. Die Autoren der Übersicht jedenfalls folgern: „Es überwiegen eindeutig die negativen Schätzungen.“
Es stellt sich die Frage, warum so viele prominente Ökonomen in den vergangenen Jahren anderes behauptet haben?
Möglicherweise sind auch Wissenschaftler nur Menschen – und die nehmen Wissen oft eher so wahr, dass es die eigenen Vorlieben bestätigt.
Auch für Deutschland gibt es neue Einschätzungen. Hier hatte der damalige Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn vor der Einführung gemeint, der Mindestlohn könnte 900.000 Arbeitsstellen gefährden. Was viele so interpretierten, das mehr oder weniger direkt 900.000 Menschen arbeitslos würden. Was bekanntlich nicht eintrat, aber auch nicht gemeint war.
Eher meinte er, dass es ohne den Mindestlohn noch 900.000 Arbeitsplätze mehr geben könnte.
Es ist ja so, Mindestlöhne werden meist in wirtschaftlich guten Zeiten eingeführt, wenn die Angst vor Arbeitsplatzverlust gering ist. Negative Effekte fallen dann zunächst nicht weiter auf. Das fand z. B. eine andere Metastudie von Jonathan Meer und Jeremy West, die feststellten, dass viele Studien dieses Problem vernachlässigt hatten.
Sie selbst kamen dann zu dem Ergebnis, dass Mindestlohn-Erhöhungen über mehrere Jahre die Arbeitsplatz-Entwicklung hemmten.
Ähnliches zeigt dann auch ein Blick in den jüngsten Bericht der Mindestlohnkommission:
Nicht nur die Arbeitszeiten gingen zurück. Sondern schon von Beginn des Jahres 2016 an, ein Jahr nach Einführung des Mindestlohns, ging das Stellenwachstum in den stark betroffenen Branchen deutlich zurück. Seit 2018 lag das Stellenwachstum sichtbar unter dem in schwach betroffenen Branchen. Noch ist die Beobachtung wahrscheinlich nicht signifikant, aber der nächste Bericht der Mindestlohnkommission wird spannend.
Wenn dieser im Sommer 2022 erscheint, wird er auch die wirtschaftlich negativen Folgen der Corona-Pandemie und des Lockdowns reflektieren. Wir werden dann sehen, wie es den eher im Mindestlohnbereich beschäftigten Arbeitskräften und ihren Branchen ergeht. Es bleibt interessant …
Visionen braucht das Land – endlich!
piqer:
Anja C. Wagner
Die Pandemie, die offenbar kein Ende nehmen will, hat uns die Grenzen unserer aktuellen gesellschaftlichen Schwerpunktsetzung aufgezeigt. Zentrale öffentliche Sektoren wie das Gesundheits- und Bildungssystem sind hierzulande bis heute (!) nicht imstande, flexibel und zielführend auf die Situation zu reagieren. Das liegt nicht zuletzt am Glauben an die Kraft des privaten Marktes.
Ländern und Staaten, die in die Fähigkeiten ihrer öffentlichen Sektoren investiert haben, ist es dagegen viel besser ergangen. Am augenfälligsten war das in den Entwicklungsländern, wo Vietnam und der indische Bundesstaat Kerala herausragen.
Mariana Mazzucato, Professorin für Innovationsökonomie und eine langjährige Befürworterin des unternehmerischen Staates (hier auf piqd vielfältig angeführt) zeigt im hier verlinkten Artikel auf, wie es auch „bei uns“ besser gehen könnte.
Unternehmertum und Vermögensbildung sei demnach nicht die ausschließliche Domäne der Unternehmen, vielmehr müsse der Staat die Gestaltung der Märkte aktiv übernehmen. Gerade angesichts der Bewältigung der Klimakrise sei es dringend geboten, dass der Staat als Quelle der Wertschöpfung verstanden werde – und in dieser Rolle einen missionsorientierten Ansatz verfolge. Dabei könne man sich an dem Apollo-Programm von John F. Kennedy orientieren, dessen ambitionierte Mondmission letztlich zu diversen innovativen Abfallprodukten und damit zur Entstehung des Silicon Valleys mit seinen technologischen Durchbrüchen geführt habe.
Das Apollo-Programm hat gezeigt, wie ein klar definiertes Ergebnis durch multisektorale öffentlich-private Zusammenarbeit, missionsorientierte Beschaffungsverträge und eine vom Staat angetriebene Innovation und Risikoübernahme organisatorische Veränderungen auf allen Ebenen herbeiführen kann. Zudem bringen solche Unternehmungen tendenziell Nebenprodukte – wie Software, Handykameras oder Babynahrung – hervor, die einen weitreichenden Nutzen bieten.
Der Staat müsse also richtungweisende Erdmissionen für verschiedene Branchen definieren, die nur so sinnvoll zusammenspielen und smarte Gesamtlösungen für die international bekannten Zieldefinitionen generieren.
So sollten wir etwa, um die 17 SDGs umzusetzen, jedes davon in klar abgesteckte Teilmissionen aufspalten, die den Boden für weitere multisektorale Innovationen von unten bereiten würden.
Dabei gelte es, den aufmerksamen Blick nicht nur auf die Technologien, sondern auch auf die sozio-kulturellen Verhaltensfaktoren zu werfen, um öffentliche Institutionen, Zivilgesellschaft und Wirtschaft entlang einer umfassenden gemeinsamen Vision zu führen.
Joe Biden scheint etwas Ähnliches für die USA vorzuschweben. Seine Regierung kann dabei auf gut finanzierte öffentliche Institutionen wie DARPA und National Institutes of Health zurückgreifen. Vielleicht gelingt der EU ja Vergleichbares, auch wenn wir uns in hiesigen Breitengraden eher schwertun mit weitreichenden Visionen für die Zukunft?! Wäre dies nicht ein guter Ansatzpunkt für eine positive, gesamtgesellschaftliche, globale Gamification als Attraktor*in für neue Zukünfte?
Das Große kündigt sich im Unscheinbaren an
piqer:
Jürgen Klute
Auf einer abstrakten Ebene wird schon lange über ökonomische Umbrüche, wie zum Beispiel Energiewende und Verkehrswende, geschrieben. Das sind oft ausführliche und spannende Reportagen über das Morgen. Doch solche Texte haben oft einen Touch von Science-Fiction – sie berichten über etwas, das wohl frühestens übermorgen oder noch später passieren wird.
Der tatsächliche Anbruch technischer Umbrüche trifft auf uns dann eher in Form unscheinbarer medialer Berichterstattung. Drei solcher Berichte sind mir kürzlich aufgefallen, deren Bedeutung sich erst richtig erschließt, wenn sie im Zusammenhang gelesen werden.
Der erste Bericht ist der, den ich hier unmittelbar empfehle: ein Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 16.02.2021 über die Modernisierung des Tankstellennetzes von ARAL. Der Artikel verweist zum einen darauf, dass ARAL in den Aufbau eines umfassenden Ladesäulen-Netzes an seinen Tankstellen investiert und zum anderen darauf, dass die Tankstellen aufgrund des absehbaren Endes der Verbrennungsmotoren zu Umschlagszentren für Endkunden umgebaut werden. Neben den bereits heute existierenden kleinen Supermärkten in Tankstellen sollen dann noch weitere Dienste angeboten werden. Bereits heute werden rund 60% der Umsätze mit anderen Gütern und Dienstleistungen erwirtschaftet als dem Verkauf von Benzin und Diesel.
Das ist alles nicht ganz neu. Aber es wird spannender, wenn man das taz-Interview mit dem Autoexperten, IG-Metaller und Sekretär des europäischen Betriebsrates von Ford, Hans Lawitzke im Hinterkopf hat. Es erschien am 22.01.2021 unter dem Titel „Wir sehen eine enorme Dynamik„. Lawitzke vertritt in dem Interview die These, dass E-Mobilität sich allein schon aus ökonomischen Gründen durchsetzen wird als Alternative zum Verbrennungsmotor, da Elektromotoren einfacher und damit preisgünstiger zu produzieren sind und weil E-Autos wesentlich wartungsärmer sind als Autos mit Verbrennungsmotoren.
Zudem prognostiziert er einen sehr viel schnelleren Umstieg auf E-Mobilität, als viele ihn sich vorstellen können. Er begründet das mit dem zunehmenden Ausbau einer Ladeinfrastruktur für E-Autos. Mittlerweile, so Lawitzke, sei eine sich selbst verstärkende und beschleunigende Dynamik in Gang gekommen, die den Umbruch stark vorantreiben dürfte. Mit den Aktivitäten von ARAL dürfte diese Dynamik einen weiteren Schwung erhalten (unbeachtet der Frage, ob ARAL selbst mit seinen Umbauplänen auf Dauer erfolgreich sein wird).
Weiter komplettiert wird dieses sich entwickelnde Zukunftsbild durch einen ebenfalls am 16.02.2021 erschienen Artikel im Spiegel: „Baukastensysteme für E-Fahrzeuge So könnte Apple ein iCar bauen„. In diesem Artikel geht es eher um Entwicklungen hinter den Kulissen. Zum einen versucht Apple als IT-Unternehmen in den E-Mobilitätsmarkt einzusteigen. Zum anderen haben Zulieferer der klassischen Automobilkonzerne offenbar angefangen, Baukastensysteme für E-Fahrzeuge herzustellen, die die Basis ganz neuer Konkurrenten der klassischen Automobilproduzenten darzustellen scheinen. Mit ihnen könnte sich Apple gut arrangieren. Das würde dann tatsächlich eine Revolution des Automobilsektors auslösen, die keinen der alten Steine auf dem anderen ließe. Auch diese Entwicklungen passen zu dem, was Hans Lawitzke in seinem taz-Interview prognostizierte.
Laufen diese Entwicklungen in dem Tempo weiter, das sich aus den genannten drei Artikel herauslesen lässt, dann könnten wir bereits ab Mitte des laufenden Jahrzehnts mit sehr tief greifenden und heftigen Umbrüchen und Erschütterungen der noch verbliebenen traditionellen Großindustrie in der Bundesrepublik rechnen – also der Automobilindustrie einschließlich der weit nach Osteuropa hinein reichenden Zuliefererketten. Dieser wirtschaftliche Umbruch wird die gesamte Gesellschaft mitreißen. Da stellt sich dann die Frage, wie weit die Politik in der Bundesrepublik auf diese Entwicklungen eingestellt ist und ob sie diese überhaupt wahrnimmt.
Wohnraumpolitik: Ist das Einfamilienhaus das SUV der Baubranche?
piqer:
Frederik Fischer
Ein grüner Hamburger Bezirksamtsleiter Michael Werner-Boelz hat Anfang des Jahres etwas recht Unspektakuläres verkündet: Es werden in Hamburg-Nord keine neuen Baugebiete für Einfamilienhäuser mehr ausgewiesen. Dafür gibt es sehr gute Gründe (u.a. einen durchschnittlichen Hauspreis von 800.000€ in Hamburg und die miserable Klimabilanz herkömmlicher Neubauten). Umgekehrt gibt es kein Recht auf Einfamilienhäuser. Werner-Boelz hat aber weder davon gesprochen, bestehende Einfamilienhäuser zu verbieten noch bereits ausgewiesene Baugenehmigungen einzukassieren (wie auch?). Dementsprechend wenig Resonanz erfuhr der ursprüngliche Artikel in der Welt. Dann allerdings haben sich findige SEO-Texter noch mal an die Überschrift gesetzt, die nun wie folgt lautete: „Beliebt, aber bald verboten? Das Ende des Einfamilienhauses.“
Das bediente bestens das Klischee von den Grünen als Verbotspartei. Dementsprechend schrill war die Resonanz aus dem Lager der Konservativen. Dann ereignete sich aber etwas Unerwartetes: Es kam zu einer echten Debatte. Mit echten Argumenten und Augenmaß. Auch aus den Reihen der CDU wurde vorsichtig angemerkt, dass man die negativen Konsequenzen fortschreitenden Einfamilienhauszersiedelung nicht länger ignorieren darf. Tatsächlich ist der Vergleich im Neuen Deutschland treffend: Einfamilienhäuser sind die SUVs der Baubranche. Die Nachfrage ist unbestreitbar, aber eben auch unbestreitbar nicht im Interesse der Gesellschaft. Die meisten Einfamilienhaussiedlungen führen dazu, dass Ortskerne verwahrlosen, ihr Bau produziert riesige Mengen CO2 und der Flächenfraß passt nicht in einer Zeit des Artensterbens.
Dennoch möchte niemand Einfamilienhäuser verbieten. Im Idealfall führt diese Debatte aber zu einer neuen Wohnungs- und Baulandpolitik. Es mag Orte geben, in denen Einfamilienhaussiedlungen immer noch das Mittel der Wahl sind. Im Idealfall steht die Entscheidung für oder gegen eine solche (Zer)Siedlung aber am Ende eines gründlichen Abwägungsprozesses, in dem auch Alternativen geprüft werden. Diese können in nachverdichteten Ortskernen bestehen, gemeinschaftlichen Wohnmodellen oder Konzeptvergaben, die z.B. ökologisches Bauen vorschreiben. Auch neue Fördermodelle sind dringend notwendig, um z.B. die immer wieder geforderte Umnutzung von Leerstand Wirklichkeit werden zu lassen. Der Grund, warum viele (insbesondere denkmalgeschützte) Gebäude leer stehen, ist nämlich nicht, dass dort niemand wohnen möchte, sondern dass Neubauten meist deutlich günstiger sind.
Hier der Debattenverlauf als Link-Liste:
- Beliebt, aber bald verboten? Das Ende des Einfamilienhauses (Welt)
- Wollen die Grünen Einfamilienhäuser verbieten, Herr Hofreiter? (Spiegel, €)
- Hofreiter stößt mit Aussagen zu Eigenheimen auf scharfe Kritik (Spiegel)
- CDU-Kommunalpolitiker geben Hofreiter recht (Spiegel)
- Die Wohnformen müssen sich ergänzen (Stuttgarter Zeitung)
- Feindbild Einfamilienhaus (Süddeutsche Zeitung, €)
- Die vier Wände in unserem Kopf (Marlowes)
Maja Göpel: Was wir aus Corona für die Klimakrise lernen können
piqer:
Leonie Sontheimer
Vielleicht haben Sie sich für das Wochenende vorgenommen, einen langen Spaziergang in der Sonne zu machen? Wenn Sie dabei optimistisch und dennoch wissenschaftlich fundiert in die Zukunft schauen wollen, empfehle ich Ihnen, diesen Podcast mit Maja Göpel mitzunehmen.
Es ist schwer, die anderthalb Stunden dichtes Gespräch hier im piq zusammenzufassen. Es lohnt sich wirklich, den ganzen Podcast zu hören. Zumal er ganz nebenbei eine persönliche Reflektion der letzten Monate ermöglicht.
Aber zumindest ein paar Lichtblicke zu der Frage, was wir Maja Göpel zufolge aus dem Umgang mit Covid-19 für den Umgang mit der Klimakrise lernen können:
- Wenn der Ernst des Problems erkannt und öffentlich entsprechend kommuniziert wird, ist vieles möglich. Corona ist im letzten Jahr zum ständigen Brennpunkt geworden. Klimathemen brauchen diesen Stellenwert auch. Initiativen wie KlimaVor8 arbeiten darauf hin.
- Auch finanziell war bei Corona einiges möglich. Das muss auch für die Bekämpfung der Klimakrise gelten. Dazu Göpel: „Das Gegeneinandersetzen von Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit ist ohnehin in dem Moment, wo ich anfange, ernsthaft und ehrlich ökonomisch zu rechnen, totaler Humbug.“
- Die Pandemie hat uns gezeigt, dass gemeinsames Handeln und globale Kooperationen möglich sind. (Natürlich zeigt der Impfstoffnationalismus aktuell wieder die Grenzen dieser Kooperationen.) Trotzdem bleibt Hoffnung für den Umgang mit der Klimakrise.
- Außerdem sagt Göpel, der Green Deal mit seiner Kreislaufwirtschaft und Dekarbonisierungsstrategie sei vor allem auch eine Sicherheitsstrategie für Europa. Europa sei jetzt abhängig von Territorien auf anderen Kontinenten. Es sei naiv zu glauben, dass das ewig so weitergehen könne.
Über Gerechtigkeit nachdenken – Volk und Wirtschaft im Rawls-Moment
piqer:
Thomas Wahl
Kann ein Lockdown gerecht sein? Und wie könnte man feststellen, ob er grundsätzlich oder in seiner konkreten Durchführung gerecht ist? Womit wir bei John Rawls und seiner Schrift „A Theory of Justice“ wären. Rawls feierte gerade seinen 100. Geburtstag, das Buch erschien vor 50 Jahren und bot einen radikal neuen Ansatz für die politische Philosophie und Ethik.
Im Zentrum des Werks von Rawls steht die klassische Frage der politischen Philosophie nach einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung. Mit Anleihen unter anderem bei Aristoteles, Locke, Hume, Kant und Isaiah Berlin, sichtlich geprägt zudem von Adam Smith und in grosser Parallelität zu Buchanan und Hayek schwebt Rawls eine «wohlgeordnete Gesellschaft» vor, die als «Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils» gelten kann und von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung gesteuert wird.
Rawls geht es dabei nicht um formale Gleichheit etwa vor dem Gesetz (etwa auf gute soziale Positionen), sondern um faire Chancen – Menschen mit vergleichbaren Fähigkeiten sollten, bei gleicher Motivation, ähnliche Lebenschancen haben.
Nach Rawls können gesellschaftliche Ungleichheiten grundsätzlich gerechtfertigt werden. Aber nur dann, wenn und soweit sie auch dem am schlechtesten gestellten Mitglied der Gesellschaft noch zu einem „absoluten“ Vorteil verhelfen.
Rawls geht davon aus, dass Menschen als soziale Wesen einen natürlichen Gerechtigkeitssinn haben, der sich auch auf ihre Gemeinschaft richtet. Was für die Stabilität und Akzeptanz der Gesellschaft essenziell ist. Aber:
Die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung, die zum Begründungskriterium für die Ausgestaltung der Institutionen wird, fällt weder vom Himmel, noch ist sie das Produkt einer kollektivistischen Ideologie. Rawls leitet sie aus einem individuellen rationalen Vorteilskalkül ab, das freie, autonome und gleiche Bürger für sich anstellen.
Einen möglichen Konsens dieser Vorstellungen denkt sich Rawls als einen Vertrag auf Gegenseitigkeit mit individual- wie ordnungsethischen Komponenten, um Folgendes zu erreichen:
«Jeder erkennt die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze an und weiss, dass das auch die anderen tun», und «die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen [genügen] bekanntermassen diesen Grundsätzen».
Unter Beachtung des Pluralismus unserer modernen Gesellschaften führt das zur liberalen Norm der Toleranz für die unterschiedlichen (und vernünftigen?) Weltanschauungen und Lebensentwürfe. Nicht alle Differenzen lassen sich argumentativ und vernünftig auflösen:
Dafür macht Rawls jene «Bürden der Vernunft» verantwortlich, die auch … rund um die Corona-Pandemie zu beobachten sind: Empirische Befunde sind nicht immer eindeutig und lassen sich vor dem persönlichen Erfahrungshintergrund verschieden gewichten; Begrifflichkeiten sind oft unscharf; nicht alle Argumente lassen sich saldieren, sondern manche machen ratlos.
Um einen solchen Konsens zu begründen will Rawls die Menschen gedanklich hinter einen «Schleier des Nichtwissens» versetzen. Dort, ahnungslos gegenüber ihrer realen Stellung in der Gesellschaft, ihrem materiellen Wohlstand und ihren konkreten Talenten und Wünschen, sollen sie sich unparteiisch über allgemeine Regeln verständigen. Und dabei nicht ihren individuellen Vorteil suchen.
Diese vertragstheoretische Konstruktion ist in doppelter Hinsicht liberal: Sie betont den gleichen moralischen Wert jedes Menschen und wurzelt in der individuellen Autonomie. Es ist mithin kein Wunder, dass sich gerade Hayek ausdrücklich ganz in Übereinstimmung mit Rawls sah: «Als die wünschenswerteste Gesellschaftsordnung sollten wir diejenige erachten, die wir wählen würden, wenn wir wüssten, dass unsere Ausgangsposition rein durch Zufall bestimmt wäre.»
Rawls glaubte nun, dass sich die Menschen dabei auf zwei Grundsätze einigen würden:
Erstens: «Jede Person hat ein gleiches Recht auf das umfassendste System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.» Zweitens: «Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie a) zum grössten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten und b) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen.»
Jeder von uns prüfe, ob dies so sein könnte, ob er diese Wahl treffen würde. Eine weitere Würdigung und Einordnung von Rawls Werk findet man in der FR. Dort wird u.a. die Frage gestellt, ob Bürger jedem von ihrer rechtmäßigen Legislative erlassenen Gesetz gehorchen müssen.