In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Was bedeutet eigentlich „Industriepolitik“ in China?
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Frank Lübberding
Industriepolitik braucht einen langen Atem in einer kurzatmigen Zeit. Insofern hat die Debatte über das Positionspapier von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gerade erst begonnen. Man kann deshalb nur hoffen, dass sie auch nicht gleich wieder einschläft. Sie trifft auf einen Konkurrenten in China, der mit anderen Zeitvorstellungen operiert:
„Vor wenigen Tagen, am 18 Februar 2019, hat die chinesische Regierung einen gigantischen Entwicklungsplan für die „Guangdong-Hong Kong-Macao Greater Bay Area“ (im Folgenden: Greater Bay Area) bekannt gegeben. Die Vorbereitungen hierfür haben bereits vor vielen Jahren begonnen.“
Mit diesem Entwicklungsplan sollen die Voraussetzungen für eine Clusterbildung im Bereich der Hochtechnologie geschaffen werden. Darunter sind institutionalisierte Kooperationsbeziehungen zwischen relevanten Akteuren zu verstehen. Der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur ist dafür die Voraussetzung. Das allein wird aber nicht reichen:
Der wohl größte komparative Vorteil dürfte in der Vielfältigkeit des regionalen Clusters „Greater Bay Area“ liegen. Die Region bietet schon heute über seine knapp 300 Industriecluster eine beinahe lückenlose Zulieferkette zwischen vor- und nachgelagerten Technologien. Zudem ist ein Mangel an jungen, talentierten Arbeitskräften noch nicht absehbar.
Wie aber funktionieren solche Zulieferketten? Eine Erklärung findet sich in einem industriesoziologischen Klassiker: In „Ende der Massenproduktion“ (1985) beschrieben Michael J. Piore und Charles F. Sabel die Funktionsbedingungen erfolgreicher industrieller Netzwerke. Sie nannten das „flexible Spezialisierung“ und ermöglichten damit einen neuen Blick auf die Krise des Fordismus. Solche postfordistischen regionalen Cluster benötigen zwei Voraussetzungen: Vertrauen und Flexibilität. Somit stellt sich die Frage, ob die „Greater Bay Area“ nicht eher das Produkt zentraler Wirtschaftsplanung ist. Darüber könnten die Europäer nachdenken – und ihre eigenen Stärken herausarbeiten.
Mikrokredite – 20 Jahre nachdem der große Hype begann
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Rico Grimm
Mikrokredite galten als das Werkzeug, um Millionen Menschen aus der Armut zu holen. Es klang ja auch verlockend (und nebenbei noch so schön im Einklang mit der kapitalistischen Logik): Anstatt armen Menschen in Entwicklungsländern wahllos Hilfen angedeihen zu lassen, die sie im Zweifel nicht brauchen, gibt man ihnen einen Kredit, mit dem sie sich selbst aus der Armut befreien können, in dem sie ein kleines Geschäft aufbauen oder anders sinnvoll investieren. Vox wirft nun einen wunderbar differenzierten Blick auf die Mikrokredite: Nein, die hochgesteckten Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Sie sind kein gutes Werkzeug, um Menschen aus der Armut zu holen, können aber trotzdem für die Menschen sehr wichtig sein, als Notfallreserve, als Mittel, um mehr Spielraum zu bekommen oder um überhaupt erst einmal Zugang zum modernen Finanzsystem zu erhalten.
Es gibt nicht nur eine Industriepolitik
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Eric Bonse
Es ist noch gar nicht so lange her, da war der Begriff für deutsche Politiker tabu. Industriepolitik – das war ein Unwort aus der (französischen) Dirigismus-Schule, für Deutschland kam so etwas nicht infrage. Doch inzwischen hat sich das gründlich geändert. Seit die EU-Kommission die geplante Fusion zwischen Siemens und Alstom aus Wettbewerbsgründen untersagt hat, fordert sogar Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) eine europäische Industriepolitik.
Gemeinsam mit Paris will die Bundesregierung in Berlin nun das EU-Kartellrecht entstauben und dafür sorgen, dass deutsche oder europäische „Champions“ entstehen können. Doch viele kleinere EU-Staaten halten dagegen. Sie sehen in dem deutsch-französischen Vorstoß einen Versuch, den Wettbewerb in der EU auszuhebeln und ihre eigenen, eher kleinen und mittleren Unternehmen zu übervorteilen. Da deutet sich ein harter Konflikt an, der Ausgang ist ungewiss.
Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Formen von Industriepolitik gibt. Sie kann sich auf einen militärisch-industriellen Komplex stützen, wie in den USA, oder auf Forschung und Innovation, wie in den nordischen Ländern. Sie kann defensiv definiert werden – wie bei Altmaier, dem es vor allem um die Abwehr unliebsamer Konkurrenz aus China geht – oder offensiv, wie es neuerdings die Gewerkschaften versuchen.
Auf ganz verschiedenen Ebenen läuft nun eine Diskussion – mal geht es um ordnungspolitische Grundsätze, mal um Standortkonkurrenz, mal um linke oder alternative Ansätze in der Industriepolitik.
Da tut sich ein spannendes – und wichtiges – neues Politikfeld auf…
Algorithmen zur Preisfindung schrauben Preise eher hoch – zum Schaden des Verbrauchers
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Arne Feddersen
Man kennt es, dass an der Tankstelle die Preise über den Tag schwanken, oft aus nachprüfbaren Gründen. Im Onlinehandel übernehmen Preisalgorithmen die Arbeit der Preisfindung. Ergebnis sind stark schwankende Preise für dasselbe Produkt je nach Tageszeit und Suchmaschine.
Wie bei fast allen Algorithmen ist auch hier die Funktionsweise intransparent, eine Black Box, die die Inhaber nicht gerne öffnen. Nicht mehr der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage steht im Vordergrund, sondern die Gewinnmaximierung durch ständigen Abgleich auch des Mitbewerbers. Setzt der seine Preise hoch, zieht der Algorithmus nach. Die Aufwärtsbewegung nach dem automatisierten Marktvergleich scheint nach dem Verfasser tendenziell eher die Regel zu sein als die Abwärtsbewegung eines Preises.
Auch das IoT liefert fleißig Daten für die Evaluierung, was man/frau zu zahlen bereit wäre. Im Artikel wird die Reiseindustrie als Musterbeispiel genannt, aber wer abends während der WM/EM/Eurovision/Sommerabend in einer modernen Tankstelle mit programmierbaren Preisschildern ein Bierchen gekauft hat, wird wissen, dass dasselbe Bier morgens noch markant billiger war…
Kassensturz für die Innovationspolitik in Deutschland
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Gunnar Sohn
Aktuell böten nach Ansicht von Klaus Burmeister die Neuauflage der Hightech-Strategie der Bundesregierung, der Bericht der Kohlekommission, die scheinbar im Ansatz stecken gebliebene Diskussion zur Schaffung einer „Agentur für Sprunginnovation“, die Enquete-Kommission zur Künstlichen Intelligenz, das aktuelle Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation, das Verfehlen der Klimaziele der Bundesregierung und auch die Diskussionen über die „Nationale Industriestrategie 2030“ des Bundeswirtschaftsministeriums hinreichend Stoff für eine überfällige Bilanzierung der bisherigen Innovationspolitik.
So sei das sang- und klanglose Scheitern der Nationalen Plattform Elektromobilität kaum kritisch gewürdigt worden, deren Ziel es war, bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf die Straße zu bringen. Auch die Zahl der Unternehmensgründungen ist desaströs. Und wir wissen ja aus den Lehrbüchern von Professor Joseph A. Schumpeter, dass die bestehenden Firmen selten mehr als Routineaktivitäten entwickeln. Die Neulinge sind in der Regel die Veränderer.
Wie kann man das ändern? Burmeister von der D2030-Initiative bringt regionale Konzepte ins Spiel, jenseits der Metropolen Berlin, Hamburg oder München: „Hier sei stellvertretend nur auf die Idee der KoDörfer oder die Crowdfunding-Plattform ‚Gut für Fürth‘ verwiesen. Bislang zu wenig beachtet wurden die vielfältigen, kreativen Ansätze von Kleinstädten als Agenten des Wandels. Es gelte auch solche innovativen Ansätze und konkreten Erfahrungen, wie sie in dem Forschungsprojekt ‚Potenziale von Kleinstädten in peripheren Lagen‘ gemacht wurden, aufzubereiten und zu verbreiten.“ Da gibt es eine schöne Übereinstimmung zu den CIO-CTO-Experten der DigitalLoge. Die fordern auch eine Fokussierung auf Entwicklungszonen mit Themenschwerpunkten oder Campus-Themen: In Aachen, Bonn oder OWL – um nur mal ein paar NRW-Standorte ins Spiel zu bringen.
Warum Ungleichheit in der Gesellschaft die Eltern-Kind-Beziehung belastet
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Thomas Rehehäuser
Matthias Doepke und Fabrizio Zilibotti (zwei Professoren aus den USA) erläutern in diesem Artikel die Ergebnisse einer Studie. Auf den Punkt gebracht steht es bereits im Titel:
»The greater the income inequality in a country, the likelier parents there are to push their kids to work hard.«
Fritz Simon fasst den ganzen Artikel in seinem Blog sehr treffend zusammen:
»Wenn in einer Gesellschaft die ökonomischen Unterschiede groß sind, so sind die Eltern extrem besorgt, dass ihre Kinder jede nur denkbare Chance der persönlichen Entwicklung nutzen („damit sie es später mal besser haben als die Eltern“ – wie das zu meiner Zeit hieß). In Ländern, in denen die Unterschiede nicht so groß sind und auch arme Kinder einen guten Zugang zu einer gediegenen Bildung haben, reagieren die Eltern weitaus entspannter, lassen ihren Kindern größeren Freiraum in der eigenen Entwicklung usw.«
Selbst die Hoffnung, dass die „Reichen“ diesem Spiel entgehen, weil sie bereits alles haben, stellen sie als falsch dar:
»You might think that, above a certain income level, there would be diminishing returns for competitive parenting. Once you have an excellent school (probably in an expensive neighborhood), SAT tutors, music lessons and select sports leagues, aren’t the boxes of intensive parenting checked off? But American inequality has been particularly pronounced at the top, with larger and larger shares of income going to the top 1 or even 0.1 percent of earners, so even parents near the peak of the income scale feel inequality’s pressures. The desire to push children one rung higher is relentless. Indeed, since the 1980s, couples with more money and more education have increased the time and money spent on their children at a much faster rate than others.«
Der Stress beim Abendessen ist davon abhängig, wie ungleich die Gesellschaft ist! Lesenswert und nachdenkenswert für alle Menschen, die sich fragen, in was für eine Welt wir unsere Kinder begleiten möchten.
Zur Geschichte des Kapitalismus – eine Kritik der Kritik
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Thomas Wahl
Der Begriff des Kapitalismus steht im Zentrum der meisten westlichen Theorien der Moderne. Insofern ist ein Buch wie das von Werner Plumpe zu seiner Geschichte immer interessant. Noch besser ist gleich eine fundierte Kritik dazu, wie sie Friedrich Lenger in seinem MERKUR-Essay versucht.
Auch wenn der Einstieg etwas dröge ist, man erkennt, es ist wohl noch lange nicht alles dazu gesagt. Die Wissenschaft streitet noch! Das beginnt bei der Definition – im Falle des Buches als kapitalintensive Massenproduktion. Mir persönlich ist diese enge Definition lieber als ein aufgeladener Kapitalismusbegriff, der pauschal die ganze Gesellschaft und ihre Widersprüche subsumiert.
Ein zweiter Streitpunkt scheint der über Ursprung oder Wurzeln des europäischen Kapitalismus (als ein in der frühen Neuzeit angelegter historischer Sonderweg?) zu sein: „Die von Plumpe suggerierte Einigkeit der wirtschaftshistorischen Forschung hinsichtlich einer lange vor 1800 feststellbaren Auseinanderentwicklung Europas auf der einen, China und Indiens auf der anderen Seite gibt es indessen nicht. Ulrich Pfister, wie Plumpe Fachherausgeber der Enzyklopädie der Neuzeit für das Fachgebiet Wirtschaft, hielt noch vor wenigen Jahren fest: »Die ›große Divergenz‹ zwischen Europa und dem Rest der Welt bezüglich des Einkommensniveaus war somit wesentlich ein im 19. Jahrhundert im Gefolge der Industrialisierung stattfindender Vorgang.«“
Ein drittes Problem scheinen (überraschenderweise) die „wenig gesicherten statistischen Daten und Schätzungen“ darzustellen. Das ist ja wohl auch ein Kritikpunkt an Pikettys langen Zeitreihen. Den Gesamtprozess der Geschichte des Kapitalismus schildert Plumpe offensichtlich als Lernprozess, … „als Evolutionsprozess, als »Zusammenspiel von Variation, Selektion und Restabilisierung«.“ Ob der, wie in vielen politischen Debatten behauptet, schon am Ende ist, darf angesichts der historischen Erfahrungen bezweifelt werden.
China – die Widersprüche der drei Faktoren
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Thomas Wahl
Der Essay erzählt die Geschichte der chinesischen Wirtschaft an Hand eines Beispiels. Das angeblich weltgrößte Gebäude, ein riesiger Erholungs-, Einkaufs- und Bürokomplex, bündelt wie ein Brennglas die drei Faktoren, die Widersprüche, Antriebe und Gefahren des chinesischen Modells.
„Three factors have underpinned this model. Each can be found in the origins of the Global Centre. The first is land, all of which is publicly owned. This puts a valuable asset at the disposal of local officials. They can offer cheap long-term rents to attract businesses or sell big leaseholds to developers. As long as growth continues, this is sound economic logic. …. A second feature of China’s economy is cronyism. ….. The third feature in China’s model is debt.“
Manche Ökonomen nennen noch die Korruption als „Schmierstoff“ des wirtschaftlichen Aufschwunges, auch wenn dies als kontraintuitiv erscheint. Diese Faktoren wirkten als Treibstoff für den Konsum, aber auch für die Ungleichheit. Je nach Messweise besteht die chinesische Mittelschicht aus bis zu 600 Mio. Menschen. Jeder möchte dazugehören und es ist eine Frage der politischen Stabilität, das Wachstum des Konsums fortsetzen zu können, ja fortsetzen zu müssen.
Gleichzeitig ist die Wirtschaftsstruktur kompliziert. Es gibt etwa 150.000 Staatsunternehmen, die 70% der Unternehmensschulden bei sich konzentrieren. Viele Wirtschaftszweige stehen unter totaler staatlicher Kontrolle, Wettbewerb fehlt. Die privaten Firmen sind effektiver, aber ein Wettbewerb gegen die staatlichen Unternehmen findet nicht statt.
„These two parts of the Chinese business world are often described as separate, as if plucky private firms are battling clumsy state-owned rivals. In reality they are deeply intertwined. The challenge for private firms is not so much how to compete against state firms as how to coexist with them.“
Mit dem „Wirtschaftskrieg“ zwischen USA und China, dem Zwang zur Innovation werden sich die Widersprüche verschärfen – es bleibt spannend.
Wer erinnert sich an „E-Gold“? Die digitale Währung, die zum Desaster wurde
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Jannis Brühl
Douglas Jackson war erfolgreicher Arzt, jetzt ist er pleite und muss eine elektronische Fußfessel tragen. Weil er eine eigene Währung erschuf und das FBI sein Projekt niederkartätschte. Dieser Text von 2009 erzählt die Geschichte einer digitalen Währung, lange vor dem Bitcoin-Hype. Es ist ein Lehrstück über den Versuch, selbst eine Währung zu schaffen. (Von diesen Versuchen werden wir noch viele sehen).
Um die Jahrtausendwende, als das Internet noch Wilder Westen war, glaubte Jackson fest an seine Vision: Geld ohne Staat. Menschen konnten digital Geld einzahlen und überweisen. Er hortete Gold in Tresoren, das alle digitalen Einlagerungen in seinem System decken sollte.
At E-Gold’s peak, the currency would be backed by 3.8 metric tons of gold, valued at more than $85 million.
E-Gold galt jenen, die sich mit dem Netz von jeglichen Hierarchien befreien wollten, vor allem mit einer nicht vom Staat kontrollierten digitalen Währung, als Modellprojekt, zum Beispiel Julien Assange. Das Problem war eines, das alle unregulierten und anonymen Währungen irgendwann aufwerfen: Sie ziehen Kriminelle an. Internet-Betrüger nutzten E-Gold, und auch im Wilden Westen kommt irgendwann der Sheriff.
Ermittler und Richter sahen es anders als Jackson: Er wurde verurteilt wegen Geldwäsche und Geldtransfers ohne Lizenz. Das Geschäft brach zusammen, Jackson musste pauschal alle Nutzer aus bestimmten „verdächtigen“ Ländern sperren und mehr als 1 Million Dollar Strafen zahlen. Das Irre an dem Fall: Zuvor nutzten die Ermittler Jacksons System als honey pot, und kamen über Informationen aus seinem System an zahllose Kriminelle. Jackson hat es wenig gebracht. Er wollte FinTech-Revolutionär sein, und endete in den Augen des Staates als Krimineller.