In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Alles neu durch Corona – das kommende Zeitalter von Ökonomie und Wirtschaftspolitik?
piqer:
Thomas Wahl
Laut „Economist“ begann die Geschichte der Makroökonomie mit John Maynard Keynes’ „The General Theory of Employment, Interest and Money”. Die zentrale Idee von Keynes war das staatliche Management des Konjunkturzyklus durch eine antizyklische Wirtschaftspolitik. Allgemeines Ziel war es, dass möglichst viele Menschen, die Arbeit wollen, diese auch bekommen. Was dann im weiteren Sinne zum ultimativen Ziel aller Wirtschaftspolitik wurde, die sich in drei Phasen einteilen lässt.
Das keynesianische Paradigma brach in den 1970er Jahren zusammen, als es nicht gelang, die anhaltend hohe Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Es zeigte sich, dass man damit nicht mehr „den Weg aus einer Rezession“ fand. Man suchte andere wirtschaftspolitische Wege:
The monetarist ideas of the 1980s inspired Paul Volcker, then chairman of the Federal Reserve, to crush inflation by constraining the money supply, even though doing so also produced a recession that sent unemployment soaring. … Many monetarists argued that policymakers before them had focused too much on equality of incomes and wealth to the detriment of economic efficiency. They needed instead to focus on the basics — such as low and stable inflation — which would, over the long run, create the conditions in which living standards would rise.
In den 1990er und 2000er Jahren entstand dann eine Synthese aus Keynesianismus und Friedmanismus – die als „flexibles Inflationsziel“ bezeichnet wird. Das zentrale Ziel dieser Politik war es, eine niedrige und stabile Inflation zu erreichen. Wichtigstes Instrument war das kurzfristige Management der Zinssätze, „die, wie sich herausstellte, zuverlässigere Determinanten für Konsum und Investitionen waren als die Geldmenge“. Unabhängige Zentralbanken sollten sicherstellen, dass man nicht in die gefürchtete Inflationsfalle tappte.
Nach der globalen Finanzkrise 2007/09 scheint dieses vorherrschende wirtschaftliche Paradigma an seine Grenzen gestoßen zu sein. Die politischen Entscheider sahen sich mit zwei großen Problemen konfrontiert:
The first was that the level of demand in the economy … seemed to have been permanently reduced by the crisis. To fight the downturn central banks slashed interest rates and launched quantitative easing (qe, or printing money to buy bonds). But even with extraordinary monetary policy, the recovery from the crisis was slow and long. GDP growth was weak. Eventually, labour markets boomed, but inflation remained muted … The late 2010s were simultaneously the new 1970s and the anti-1970s: inflation and unemployment were once again not behaving as expected, though this time they were both surprisingly low.
Das zweite Problemfeld betraf die Verteilung des Wachstums und die Ungleichheit:
Some argued that structurally weak economic growth and the maldistribution of the spoils of economic activity were related. The rich have a higher tendency to save rather than spend, so if their share of income rises then overall saving goes up. Meanwhile in the press central banks faced accusations that low interest rates and qe were driving up inequality by boosting the prices of housing and equities.
Beginnt nun eine neue, vierte Phase und wie könnte diese aussehen? Die aktuellen Empfehlungen der Ökonomen und Politiker lassen sich in drei Denkrichtungen gruppieren:
- Die erste meint, dass Zentralbanken, solange sie Geld schöpfen können, um Vermögenswerte zu kaufen, auch das Wirtschaftswachstum und die Inflation ankurbeln würden. Sie müssen das nur im nötigen Umfang tun.
- Die Vertreter der zweiten bezweifeln, dass der Kauf von Vermögenswerten durch die Zentralbank unbegrenzte Impulse geben kann. Es sei besser, die Staatsausgaben anzukurbeln oder die Steuern zu senken. Was bedeuten kann, über einen längeren Zeitraum große Defizite zu haben. Die Zentralbanken haben in diesem Szenario die Aufgabe, die längerfristige öffentliche Kreditaufnahme angesichts steigender Haushaltsdefizite billig zu halten. Was sich teilweise mit der modernen Geldtheorie (MMT) trifft.
- Die dritte Richtung ist die radikalste und setzt auf dauerhafte Negativzinsen. Sie meint, um die Wirtschaft durch Ausgaben und die Kreditaufnahme anzukurbeln, müssten sich negative Zinssätze auf alle ihre Bereiche erstrecken: auf die Finanzmärkte, auf die Zinsen für Bankdarlehen und auch auf Einlagen bei Banken, die dann im Laufe der Zeit schrumpfen.
Mal sehen, wie lange sich welche dieser Richtungen bewähren wird bzw. in welcher Melange?
»Citizenship rent«: Ein leistungsloses Einkommen dank Staatsbürgerschaft
piqer:
Jürgen Klute
Dass jeder und jede seines eigenen Glückes Schmied sei, ist eines der zentralen wirtschaftsliberalen Glaubenssätze. Dabei hat sich in den Diskussionen über Bildungspolitik in den letzten Jahren in der Bundesrepublik längst herauskristallisiert, dass – anders als in anderen Ländern – das Elternhaus viel entscheidender ist für die berufliche Kariere eines jungen Menschen als sein Leistungswille und seine individuelle Leistungsfähigkeit. Entscheidend ist also die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder Schicht.
Das scheint auf globaler Ebene zwischen Gesellschaften und Kontinenten nicht viel anders zu sein. Der Ort, an dem ein Mensch geboren wurde, bestimmt im Wesentlichen über dessen ökonomische Lebenschancen.
Diese These vertritt der Ökonom und Ungleichheitsforscher Branko Milanovic. Stephan Kaufmann hat dessen Thesen in einem Artikel auf dem Oxi-Blog skizziert. Milanovic nennt das »citizenship rent«, womit ein leistungsloses Einkommen gemeint ist, das sich der Staatsbürgerschaft eines Menschen verdankt und nicht individueller oder gesellschaftlicher ökonomischer Leistungsfähigkeit.
Dieser Artikel ist Teil einer Debatte um ökonomische Aspekte globaler Migration. Die Argumentation von Milanovic reiht sich ein in die Entlarvung und Dekonstruktion eines auch im ökonomischen Denken verankerten strukturellen Rassismus. Wie er beispielhaft zum Ausdruck kommt in einer Aussage des Leipziger Hochschullehrers Thomas Rauscher, die Stephan Kaufmann in seinem Artikel wiedergibt: »Sie [Afrikaner und Araber] haben ihre Kontinente durch Korruption, Schlendrian, ungehemmte Vermehrung und Stammes- und Religionskriege zerstört und nehmen uns nun weg, was wir mit Fleiß aufgebaut haben.« Daher, so meint Rauscher, seien wir Afrikanern und Arabern auch nichts schuldig. In Rauschers Aussage spiegelt sich die schon in der Aufklärung angelegte Vorstellung, dass es verschiedene menschliche Rassen gäbe, die unterschiedlich entwickelt seien.
Diese ökonomische Kurzsichtigkeit und Geschichtsvergessenheit aufzubrechen, macht diesen Artikel interessant. Obgleich die von Stephan Kaufmann vorgenommene Darstellung der Argumentation von Branko Milanovic etwas umfänglicher hätte ausfallen können. Als Impuls und als Einstieg in einen Perspektivwechsel angesichts der ökonomischen Herausforderungen durch die Coronakrise und durch die Klimakrise ist dieser Artikel aber allemal lesenswert.
Was Geschichten aus der Great Depression über die (heutige) US-Wirtschaft erzählen: NPR Throughline
piqer:
Florian Meyer-Hawranek
Die Corona-Pandemie hat massive Auswirkungen auf die US-Wirtschaft – allen voran auf die Arbeitslosenzahlen. Vor der Pandemie hatte die Arbeitslosenquote noch bei 3,5 Prozent gelegen. Der Wert im März 2020 war damit der niedrigste seit Jahrzehnten. Im Anschluss verloren jedoch massig Menschen ihre Jobs, die Zahlen schnellten in die Höhe. Zwischenzeitlich sind sie zwar wieder leicht gesunken auf etwas über elf Prozent. Weil das Virus aber nicht in den Griff zu kriegen ist, verdunkelte sich auch im Juli die Lage am Arbeitsmarkt erneut:
„Die Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe in der Corona-Pandemie ist erstmals seit mehr als drei Monaten wieder gestiegen. In der Woche bis einschließlich 18. Juli stellten 1,4 Millionen Menschen einen solchen Antrag.“
Wie es weitergeht ist unklar. Expert*innen rechnen allerdings mit einer deutlichen Rezession für 2020 und erwarten auch am Jahresende noch eine Arbeitslosenquote um die zehn Prozent. Was das heißt, kann man schon jetzt beobachten (z.B hier: Wenn es nicht mal zum Essen reicht). Die langfristigen Folgen sind dagegen noch nicht abzusehen. Ein Vergleich, der immer wieder gezogen wird, ist der mit der Great Depression ab dem Ende der 1920er Jahre, als die Wirtschaft in den USA und anderswo nachhaltig in eine schwere Krise stürzte. Aber was passierte damals und vor allem: Welche Auswirkungen hatte das auf die Menschen?
Die Hintergründe in der Geschichte aufzuspüren – genau da setzt der NPR Podcast Troughline an: „Join us every week as we go back in time to understand the present.“ Diesmal: Was passiert, wenn es keine Arbeit mehr gibt?
Through the personal accounts of four people who lived during the Great Depression, we look back at what life was like back then and what those stories can teach us about the last time the U.S. went through a national economic cataclysm.
Eindrucksvoll erzählt, redaktionell wohl ausgewählt und vor allem auch passend produziert: Originaltöne von Politikern der damaligen Zeit mischen sich mit kurzen geschichtlichen Erläuterungen und über allem stehen die vier Storys der Protagonist*innen dieser Episode von Throughline. Ein spannendes Stück Geschichte, das traurigerweise ziemlich aktuell wirkt.
Deutschland könnte für Europa sein, was Schweinsteiger für das Fußball-Nationalteam war
piqer:
Rico Grimm
Der britische Historiker und Intellektuelle Timothy Garton Ash schafft es in diesem Beitrag in vergleichsweise wenigen Worten die außenpolitische Rolle Deutschlands nach dem großen EU-Paket auf den Punkt zu bringen:
„Germany can never be the prancing hegemon, just the steady, skilful football midfielder who keeps the whole team together.“
Ergo das, was Bastian Schweinsteiger für das Nationalteam bei der Fußball-WM 2014 war. In jeder Zeile dieses Textes spüren wir Leser:innen, wie erleichtert Timothy Garton Ash ist, dass Deutschland nun (endlich?) sein ganzes politisches Gewicht einsetzt, um die Europäische Union zu stärken. Er sieht aber auch zwei Probleme:
1. Die öffentliche Meinung in Deutschland. Traditionell halten viele Deutsche ihr Land für eine bessere, größere Schweiz, sie halten sich gerne raus aus der „dreckigen“ Außenpolitik. Das kann, laut Ash, nicht so bleiben. Außenpolitik müsse raus aus den Elitenzirkeln und rein in die öffentliche Debatte, dort erst könne Deutschland zu sich finden und den „Balanceakt“ vollziehen, den es laut Ash brauche.
2. Denn ohne internationale Partner kann Deutschland nicht die großen Krisen unserer Zeit angehen: Japan, Australien, und ja, auch die USA wird die Bundesregierung brauchen, um Klimakrise, Corona und die Geopolitik Ostasiens (China!) zu meistern. Wie immer, wenn es um das eigene Land geht, lohnt es sich, zu lesen, was im Ausland geschrieben wird. In diesem Fall um so mehr.
„Erst wenn das Hochwasser abläuft, sieht man, wer nackt gebadet hat.“
piqer:
Jürgen Klute
„Erst wenn das Hochwasser abläuft, sieht man, wer nackt gebadet hat.“ Mit diesem Zitat von Warren Buffet charakterisiert Michael Pollan den Zustand der industrialisierten Lebensmittelproduktion in den USA infolge des Corona-Schocks.
Pollan (hier geht’s zu seiner Webseite) ist Professor für Journalismus an der Berkeley’s Graduate School of Journalism und in den USA bekannt als Umweltjournalist und Autor mehrerer Bücher, die sich mit Ernährungssystemen und der Geschichte der menschlichen Essenskultur befassen und der Frage nach einer guten und umweltfreundlichen Ernährungsweise. Aus dieser Perspektive kritisiert er seit langem die industrialisierte Lebensmittelproduktion.
Die Corona-Krise hat aus Pollans Sicht die systemischen Schwachstellen des amerikanischen bzw. westlichen Ernährungssystems offengelegt. Ein hoch effizientes Ernährungssystem, das unter „normalen“ Bedingungen Lebensmittel billig und im Überfluss bereitzustellen vermag, ist durch den Corona bedingten Shutdown nahezu kollabiert, so Pollan.
Zum einen kritisiert Pollan die Struktur der Nahrungsmittelketten. In seinem Artikel, dessen deutschsprachige Fassung in den Blättern für deutsche und internationale Politik veröffentlicht wurde, zeichnet er nach, wie die extreme Konzentration der Nahrungsmittelproduktion auf wenige große Unternehmen und die hochgradige Spezialisierung auf bestimmte Marktsegmente die Lebensmittelproduktion und vor allem die Distribution so unflexibel gemacht hat, dass die Versorgungssicherheit dadurch zeitweilig stark unter Druck geriet. Eine Folge dessen war der politische Streit um Corona-Schutzmaßnahmen vor allem in der amerikanischen Fleischindustrie.
Eine noch offene Frage ist für Pollan, wie die Corona-Krise sich auf die Gemüse- und Obsternte im Herbst auswirken wird. Denn ohne die Erntearbeiter aus Mexiko können die Farmer ihre Ernten nicht einbringen. Zum anderen zielt Pollans Kritik auf die Qualität der in der skizzierten Weise produzierten Nahrungsmittel, die durch ihre industrielle Verarbeitung zwar den Kalorienbedarf des menschlichen Körpers stillen, aber nicht unbedingt zu dessen Gesunderhaltung beitragen und ihn somit anfälliger für Viren wie das Corona-Virus machen.
Pollan konzentriert sich mit seiner Analyse der systemischen Schwachstellen des Ernährungssystems auf die USA. Das europäische Ernährungssystem ist aber nicht grundlegend anders aufgebaut als das amerikanische. Die Diskussion um die aus Osteuropa kommenden Erntearbeiter während der Spargelernte in Deutschland und der Skandal um den Fleischproduzenten Tönnies zeigen das auf.
Pollan zeigt aber nicht nur systemische Schwachstellen des bestehenden Ernährungssystems auf, sondern auch Möglichkeiten, wie sich das industrialisierte Ernährungssystem so transformieren lässt, dass es resilienter wird gegen Schocks wie die Corona-Krise. Eine solche Transformation wird vor allem auch angesichts der immer spürbarer werdenden Klimakrise immer drängender. Pollan liefert zu diesem Thema gute Argumente für die anstehenden gesellschaftlichen Debatten.
Wie grün sind die ganzen Corona-Konjunkturprogramme?
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Alexandra Endres
Weltweit legen Regierungen Konjunkturprogramme auf, um die Wirtschaft während der Corona-Pandemie vor dem Absturz zu bewahren oder sie danach wieder in Schwung zu bringen. Heikel für das Klima: Wenn man nicht aufpasst, steigen mit der wirtschaftlichen Aktivität auch die Emissionen.
After the global financial crisis in 2008, CO2 emissions quickly resurged back to their previous levels and beyond, on a wave of carbon-intensive stimulus spending.
A repeat of this playbook in the aftermath of coronavirus could make the world’s most ambitious 1.5C warming limit – which was already “slipping out of reach” – all but unattainable.
Passen die Regierungen auf? Also: Lenken sie das Geld gezielt in klimafreundliche Wirtschaftsbereiche, kürzen vielleicht sogar bisherige Subventionen, die schmutzigen Energieträgern zugute kamen?
Das britische Portal Carbon Brief, spezialisiert auf datengetriebene Klimaberichterstattung, hat im hier gepiqden Text eine Übersicht zusammengestellt. Sie zeigt, wie viel Geld einzelne Länder für eine klimafreundliche Erholung der Wirtschaft ausgeben (wollen), und wie genau sie das tun.
Also: Fördern sie beispielsweise die Energieeffizienz von Gebäuden, die Anpassung von Städten an den Klimawandel, eine klimafreundliche Verkehrswende, die Erforschung und Entwicklung von neuen Lösungen? Subventionieren sie grüne Technologien, verabschieden sie per Gesetz neue Regeln, setzen sie lieber auf Steuern? Planen sie, das zu tun, oder haben sie ihre Pläne schon umgesetzt? Ergänzt wird das Ganze durch Links zu weiterführenden Quellen und durch knappe Übersichten in Textform zur Post-Corona-Konjunkturpolitik einzelner Länder.
Die Übersicht enthält nur Elemente der Konjunkturpakete, die direkt oder indirekt zur Emissionsreduktion beitragen sollen. Sie
does not include measures that support fossil fuels and other high-polluting sectors, unless the money is specifically intended to help them become cleaner. It also leaves out governments’ initial “rescue” packages designed to save jobs and keep businesses afloat …
Ursprünglich stammt die Sammlung vom 16. Juni, aber sie wird stetig aktualisiert. Das letzte Mal wurden am 24. Juli neue Infos eingefügt: aus Italien, Neuseeland und auch zum gerade verabschiedeten Konjunkturpaket der EU – die wird separat behandelt.
Das ist erstmal eine ganze Menge an Informationen. Wer es schnell und übersichtlich haben will, für den hält der „Green Stimulus Index“ der britischen Beratungsfirma vivid economics eine Rangliste bereit. Im Gegensatz zu Carbon Brief betrachtet vivid economics auch die potenziell klimaschädlichen Elemente der Konjunkturprogramme und schneidet sie dagegen. Deutschland erreicht in der aktuellen Version des Rankings (Seite vier im hier verlinkten pdf) einen vorderen Platz. (Im Text von Carbon Brief wird noch eine ältere Version des Rankings abgebildet.)
Solar-Deiche sollen Flächenkonkurrenz vermeiden
piqer:
Ralph Diermann
Lange Zeit wurde der Photovoltaik ein großer Vorteil gegenüber der Windenergie zugeschrieben: Solarparks finden bei Anwohnern größere Akzeptanz als Windparks. Mit zunehmendem Ausbau der Photovoltaik kommt es jedoch immer öfter zu Protesten gegen neue Großanlagen. Die Bürger treiben dabei oft nicht nur ästhetische Fragen um, sondern auch Flächenkonkurrenz und -knappheit.
Wissenschaft und Solarbranche arbeiten daher an Konzepten, die Photovoltaik mit anderen Formen der Landnutzung zu kombinieren: mit der Landwirtschaft und dem Kiesabbau zum Beispiel. In den Niederlanden will nun ein Forschungsinstitut Deiche mit Photovoltaik-Modulen ausrüsten, wie das pv magazine berichtet. Ganz einfach ist das nicht, erklärt Autor Emiliano Bellini. Doch das Potenzial ist riesig: Allein in den Niederlanden könnten Anlagen mit einer Leistung von insgesamt 2,9 Gigawatt errichtet werden.
Klimawandel und Migration: NYTimes lässt sich Szenarien modellieren und setzt so (wieder) Maßstäbe
piqer:
Katharina Brunner
Es sind drei kurze Sätze und eine noch kürzere Frage, mit denen die New York Times klar macht, warum wir den Artikel lesen sollen. Sie gehen folgendermaßen:
„Today, 1% of the world is a barely livable hot zone.“
„By 2070, that portion could go up to 19%.“
„Billions of people call this land home.“
„Where will they go?“
Eine definitive Antwort kennt natürlich niemand, aber Modellrechnungen können trotzdem verschiedene Zukünfte skizzieren, wie der Klimawandel – und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen – auf Migration wirken. Doch: Ein solches Modell existierte nicht, also haben sich die New York Times, Propublica und das Pulitzer Center zusammengetan und einen Wissenschaftler dafür bezahlt, fünf Szenarien durchzuspielen:
The model shows that the political responses to both climate change and migration can lead to drastically different futures.
Die NYTimes und Propublica setzt damit mal wieder Maßstäbe im datengetriebenen Journalismus. Aus drei Gründen:
- 1) Sie erkennen an, dass Modellrechnungen, also Ansichten auf die Zukunft, eine Basis für Entscheidungen sein können. Doch dieses ökonometrische Modellieren, bei dem sozioökonomische mit klimatischen Aspekten verbunden werden, ist schwierig. Ich behaupte: Keine Redaktion dieser Welt kann das leisten, also gibt man diese Aufgabe nach außen ab. Gleichzeitig basieren die Makro-Ansichten in dem Text nicht nur auf diesem einen (exklusiven!) Modell, sondern baut auch auf anderen anerkannten, wissenschaftlichen Erkenntnissen auf.
- 2) Der Text zeigt keine Angst vor komplexen Sachverhalten. Modelle basieren nun mal auf Annahmen und Daten und tragen jede Menge Unsicherheiten mit sich rum. Das interessante Ergebnis ist also nicht unbedingt eine Zahl mit Nachkommastelle, sondern die Richtung und ungefähre Größenordnung. Das wird transparent gemacht, und zwar nicht in einem extra Text, den niemand klickt, sondern im Haupttext:
In all, we fed more than 10 billion data points into our model. Then we tested the relationships in the model retroactively, checking where historical cause and effect could be empirically supported, to see if the model’s projections about the past matches what really happened. Once the model was built and layered with both approaches — econometric and gravity — we looked at how people moved as global carbon concentrations increased in five different scenarios, which imagine various combinations of growth, trade and border control, among other factors. (These scenarios have become standard among climate scientists and economists in modeling different pathways of global socioeconomic development.)
- 3) Die Kraft der Geschichte kommt aus dem gekonnten Verweben dreier journalistischer Herangehensweisen: der dramatischen Einzelschicksale, beeindruckender Fotos und eben akademischer Erkenntnisse. In der Wissenschaft würde man das wohl mixed methods nennen.
Und was kommt aus? Eine der wichtigsten Erkenntnisse:
For all the ways in which human migration is hard to predict, one trend is clear: Around the world, as people run short of food and abandon farms, they gravitate toward cities, which quickly grow overcrowded.
Divestment in der Fleischindustrie
piqer:
Ralph Diermann
Die Investmentgesellschaft Nordea Asset Management hat beschlossen, den größten Fleischhersteller der Welt, den brasilianischen Konzern JBS, aus seinen Investment-Portfolios auszuschließen – nicht nur aus den Nachhaltigkeitsfonds, sondern aus allen Produkten. Nordea verwaltet 230 Milliarden Euro.
Nordea begründet dies einem „Guardian“-Artikel zufolge unter anderem damit, dass JBS indirekt an der großflächigen Zerstörung des Regenwalds am Amazonas beteiligt ist. Ein internationales Team investigativer Journalisten hat herausgefunden, dass JBS und andere große Fleischverarbeiter an einem „Viehwäsche“-System, analog zur Geldwäsche, teilnehmen: Vieh von Farmen, die an der Abholzung beteiligt sind, wird zu Farmen verschoben, die vermeintlich sauber sind. Damit lässt sich die Selbstverpflichtung der Konzerne unterlaufen, kein Fleisch von Tieren zu verarbeiten, die auf einstigen Regenwaldflächen geweidet haben. Rausgekommen ist das übrigens unter anderem durch ein Facebook-Foto eines Viehtransporter-Fahrers: Auf dem Selfie sieht man im Hintergrund einen LKW mit JBS-Logo auf dem Gelände einer solchen Viehwäsche-Farm.
Ob andere Investment-Gesellschaften dem Beispiel von Nordea folgen, beantwortet der Artikel leider nicht. Dass Divestment ein starker Hebel für den Klimaschutz sein kann, zeigt das Beispiel der Kohleindustrie, aus der sich viele Banken und Versicherungen zurückgezogen haben (dazu hier ein piq).
Übrigens wird auch in Deutschland Fleisch von JBS verkauft. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet (€), gehören Tönnies und die Hamburger Firma Kruse-Fleisch zu den Abnehmern.
Wie die Wissenschaft ihre Autonomie verloren hat
piqer:
Hristio Boytchev
Der Aufsatz beschreibt ausführlich die Transformation des Wissenschaftsbetriebs weg vom Ideal von autonomen Wissenschaftler*innen, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch vorherrschend war und jetzt wie die Beschreibung einer anderen Welt klingt:
There was relatively little pressure to publish, and small scientific communities were bound by personal connections. Scientists of this generation were part of the larger intellectual community of their universities, engaging with larger cultural questions, such as those relating science to philosophy, religion, and culture.
Wissenschaftler*innen wurden eher als Individuen gefördert und gute Wissenschaft war eben, vereinfacht gesagt, was gute Wissenschaftler*innen zu tun entschieden.
Der Einschnitt kommt mit dem Zweiten Weltkrieg und einer zunehmenden Konzentration auf Teams und Projekte:
With the Manhattan project, this all changed, and so did what it meant to be a scientist. Big Science and big budgets arrived. The scientists-turned-administrators of science tried to preserve the relaxed world of science of the 1930s in the hyper-organized and high-pressure world of Big Science.
Die Finanzierung der immer größer werdenden Projekte wird entscheidend für den Erfolg einer wissenschaftlichen Karriere. Die Fähigkeit, Forschungsförderung zu ergattern, mutiert vom Mittel zum eigentlichen Zweck. Die Autoren enden ihren Aufsatz mit der nachdenkenswerten Frage, ob das moderne System zur Stagnation in verschiedenen Disziplinen beiträgt.