Maastricht-Grenzwerte

Keine Zahlen für die Ewigkeit

Die europäischen Verschuldungsregeln werden maßgeblich durch zwei Grenzwerte geprägt. Doch diese entbehren jeder ökonomischen Grundlage – und wirken heute mehr noch als zur Zeit ihrer Einführung als fiskalpolitisches Korsett. Ein Beitrag von Jan Priewe.

Bild: Pixabay

Die neue EU-Kommission hat sich vorgenommen, die europäischen Verschuldungsregeln zu reformieren. Eckpunkte dieser Regeln sind zwei Referenzwerte, die im Protokoll 12 des Maastricht-Vertrags von 1992 verankert sind: eine Netto-Neuverschuldung (Haushaltsdefizit) von maximal 3% in den öffentlichen Haushalten  und ein Schuldenstand von maximal 60%, jeweils im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

Um diese beiden Grenzwerte herum rankt sich ein komplexes Geflecht von Regeln, die die Kommission und der Europäische Rat konzipiert und insbesondere im Zuge der Eurokrise mehrfach angepasst haben. Im Zentrum steht dabei der sogenannte „strukturelle Saldo“, der den Haushaltssaldo um temporäre konjunkturelle Abweichungen bereinigt. Die Defizitgrenze wurde Ende 2019 von allen 19 Euroländern eingehalten, die Schuldengrenze nur von zwölf. Sieben Länder, deren Wirtschaftsleistung zusammengenommen rund die Hälfte des Eurozonen-BIP ausmacht, haben einen Schuldenstand weit oberhalb von 60%, an der Spitze Griechenland und Italien.

Nach der großen Finanzkrise 2008/09 und der nachfolgenden Rezession 2012-2014 in der Eurozone war der Schuldenstand in den Ländern mit Schulden unter 60% rasch gesunken, in den sieben anderen verharrt er auf hohem Niveau. Um die Regeln einzuhalten, müssten diese Länder rigoros sparen, was ihr Wachstum bremsen würde. Denn die Länder mit Schulden über 60% werden hinsichtlich ihrer strukturellen Defizite seitens der EU-Kommission mit landespezifischen Vorgaben kontrolliert, die die strukturellen Defizite begrenzen, auf null setzen oder leichte Überschüsse fordern. Das kommt mehr oder minder einem Kreditverbot gleich. Dagegen sind konjunkturelle Defizite in einer Rezession zulässig. Ländern mit Schulden unter 60% ist ein strukturelles Defizit von nur 0,5% erlaubt. Rutscht ihre Staatsverschuldung „deutlich“ unter die 60%-Grenze, ist ein strukturelles Defizit von bis zu 1,0% zulässig. Deutschland gestattet sich qua Schuldenbremse im Grundgesetz nur 0,35% strukturelle Neuverschuldung für den Bund, und ausgeglichene strukturelle Haushalte in den Bundesländern.

In diesem Beitrag werde ich zeigen, dass alle diese Grenzwerte – ob nun 3, 60 oder 0,5 bzw. 1,0% – im Grunde willkürlich gesetzt sind. Sie beruhen auf mehr oder weniger willkürlichen Annahmen und schwächen Wachstum, Beschäftigung und Infrastruktur, und damit auch die ökologische Transformation.

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