In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
LNG-Terminals: Wie viele brauchen wir?
piqer:
Leonie Sontheimer
Es gibt ja viele Politik-Podcasts, in denen sich zwei Leute über aktuelle Debatten unterhalten und ihre persönliche Sicht schildern. Obwohl das Format bekannt und bewährt ist, finde ich „Climate Gossip“ neu, erfrischend. Das mag daran liegen, dass die zwei Hosts zwei Frauen sind. Und dass es bei ihnen um Klimapolitik geht.
Am erfrischendsten finde ich daran jedoch, dass Samira El Hattab und Jule Zentek weitreichende Expertise haben und keine Wissenslücken mit Rumgelaber – verzeiht – füllen müssen. Die Gespräche gehen ca. 40 Minuten, sind sehr informativ und wenn die Hosts einmal nicht alles wissen, holen sie sich Expert*innen dazu.
In der fünften Folge Climate Gossip vom Sonntag gehts um die Frage, wie viele LNG-Terminals jetzt eigentlich geplant sind und vor allem: Wie viele brauchen wir wirklich? El Hattab und Zentek holen die Hörer*innen auf den aktuellen Stand und erklären auch, welche Fragen überhaupt noch nicht geklärt sind beim LNG-Ausbau (viele).
Zu Gast ist Felix Heilmann vom Dezernat Zukunft, der ein wichtiges Hintergrundpapier zum Spannungsfeld Energiesicherheit und Klimaschutz bei LNG veröffentlicht hat. Wem das zu viele Fremdwörter sind, keine Sorge, in der Folge wird auch LNG noch einmal erklärt!
Brennender Asphalt in Frankreich
piqer:
Achim Engelberg
Bürgerkriegsähnliche Szenen, Tote und Verletzte, zerstörte Existenzen unten und oben die Absage des Staatsbesuchs von Präsident Macron in Deutschland. Selbst wenn der Höhepunkt der Unruhen in der Banlieue überschritten sein sollte, bleiben zwei Fragen, die Daniel Binswanger in der Republik beantworten möchte und für die es nur Annäherungen gibt:
Was sagt es aus über die Entwicklung der französischen Gesellschaft, dass heute, achtzehn Jahre nach den verheerenden Banlieue-Unruhen von 2005 wieder derselbe Punkt erreicht zu sein scheint?
Und welche politischen Folgen werden diese Spannungen haben?
Wer wissen will, was 2005 geschah, dem sei diese Rückblende empfohlen: Damals analysierte Dominique Vidal die Unruhen in Le Monde diplomatique und warnte:
Wenn man die dringend nötigen Reformen dagegen verzögert, riskiert man die Vertiefung der Kluft zwischen dem „integrierten“ und dem ghettoisierten Frankreich. Wie einer der wenigen glücklichen Auserwählten von Science Po, Tarek, vor einigen Monaten sagte: „Man muss der zweiten und dritten Einwanderergeneration endlich gleiche Rechte zugestehen. Sonst wird ‚Brennender Asphalt‘ eines Tages nicht mehr bloß ein Film sein, sondern die furchtbare Realität der trostlosen Trabantenstädte.“ Im November 2005 hat der Countdown begonnen.
Seitdem ist einiges versucht worden, aber der gordische Knoten konnte nicht gelöst werden. Und deshalb lautet das bittere, verständliche Fazit nach fast 18 Jahren von Daniel Binswanger:
Hat die französische Gesellschaft beim Antirassismus, bei der Integrationspolitik, bei der Chancengleichheit noch immer keine Fortschritte gemacht?
An Anstrengungen, etwa im Bereich der Bildungspolitik, hat es nicht gefehlt. Es sind auch einzelne Erfolge erzielt worden, insbesondere die gesunkene Jugendarbeitslosigkeit.
Die Gesamtbilanz ist jedoch finster. Und je länger die Probleme ungelöst bleiben, desto heftiger werden die politischen Verwerfungen, die sie provozieren können.
Folgt nach den Unruhen eine Präsidentin Le Pen?
Arbeit ist überbewertet
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Antje Schrupp
„Ein halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter Tag bei der Arbeit“ – dieses sharepic mit einem Spruch von Nadia Shehadeh, Soziologin und Autorin des Buches „Anti-Girlboss“, bringt mich jedes Mal zum Schmunzeln, wenn es wieder mal in meiner Timeline auftaucht. Was vielsagend ist: Denn vermutlich würden die meisten erwerbsarbeitenden Menschen an dieser Stelle fragen, wo da denn der Witz sein soll. Selbstverständlich ist ein öder Tag zu Hause besser als einer, den man beim Treppenhochschleppen von Getränkekisten verbringt, mit dem Montieren von Autos, dem Wischen von Fußböden oder dem Akkord-Kassieren im Discounter.
Dass Arbeit etwas ist, das nicht nur Geld einbringt und im besten Fall auch für die Gesellschaft nützlich ist, sondern der eigenen Identitätsbildung und Selbstverwirklichung dient, ist eine bürgerlich-männliche Erzählung, die aus dem 19. Jahrhundert stammt: Nur die Herren verwirklichten sich damals beruflich, die Damen mussten sich auf den häuslichen Bereich beschränken, während die Proletarier:innen die körperlich anstrengenden Arbeiten erledigten.
Inzwischen hat sich die Idee, im Beruf die persönliche Identität auszuleben, demokratisiert und ist zu einem ethischen Imperativ für alle geworden. Drei Buchautorinnen erläutern im Gespräch mit Brandeins, warum diese Erzählung vorne und hinten nicht passt und letztlich den Menschen und der Gesellschaft schadet: Die Soziologin Nadia Shehadeh fordert in „Anti-Girlboss“ dazu auf, auf eine Karriere zu pfeifen, die Journalistin Sara Weber, die ihren Job nach einem Burnout kündigte, propagiert in „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“ verkürzte Arbeitszeiten, die feministische Autorin Teresa Bücker entwirft in „Alle Zeit“ die Utopie einer neuen Arbeitskultur, die Raum für Beziehungen, Selbstfürsorge und gesellschaftliches Engagement lässt.
Unsere europäische Idee – ein Streitgespräch mit Robert Menasse
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Thomas Wahl
Der Österreicher Robert Menasse engagiert sich seit vielen Jahren leidenschaftlich für Europa. Er streitet für ein postnationales, regionalisiertes Europa mit einer Zentralregierung. Sein Roman über den Sitz der europäischen Institutionen „Die Hauptstadt“ handelt von Menschen, die in Brüssel für diverse EU-Institutionen arbeiten. Auch wenn der Roman das Thema „Europa“ und die Union satirisch überspitzt, den bürokratischen Wahnsinn großer Institutionen bitterböse aufs Korn nimmt, das Interview in der NZZ zeigt, Menasse ist es mit seiner Liebe zu Brüssel und einem nationenfreien Europa bitterernst. Diese Leidenschaft ist beeindruckend. Aber wenn Rationalität und Leidenschaft sich mischen, dann wird vieles eindimensional und unterkomplex. Menasse sieht über dem Europagedanken eine Tragikomik walten:
Dass es in fast allen europäischen Mitgliedsstaaten Politiker gibt, die in Sonntagsreden sagen, dass sie glühende Europäer seien, dann aber de facto antieuropäische Politik machen. Sie benutzen Brüssel bloss als Bankautomat. Sie heben Geld ab, aber Gemeinschaftspolitik blockieren sie. Das heisst dann Verteidigung der nationalen Souveränität. Und Wähler, die nicht aufgeklärt sind im Hinblick auf die europäische Idee, finden das super. Aber in Hinblick auf globale Krisen gibt es keine nationalen Lösungen. Dann sagen die Menschen: Die nationalen Politiker sind nicht konsequent genug, und wählen noch radikalere Nationalisten. Und so setzt sich eine Spirale in Gang, die ich nicht mehr komisch finde.
Auf die Frage, ob es nicht sein könne, dass die europäische Idee die Leute nicht begeistert, meint er: „Wie sollen sie begeistert sein, wenn sie sie nicht kennen?“
Er hält die Bürger für verdummt und meint, nur die wenigsten in den EU-Mitgliedstaaten wissen, was „die Idee“ sei. Das es nicht nur eine Idee von und zu Europa gibt, nicht nur seine Vorstellung dazu, das reflektiert Menasse nicht. Er sieht den Kommunikations- oder in seiner Sicht den Manipulationsprozess zur Europafrage so:
Was schlecht läuft, ist Schuld der EU, und was funktioniert, ist Leistung der nationalen Regierung. Tatsächlich aber ist alles, was schiefläuft, Folge der jeweils nationalen Politik der Mitgliedstaaten. Keine der grossen gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen kann national gelöst oder gemanagt werden. Diese sind nämlich schon längst transnational, wie die Finanzströme, die Lieferketten, die Energieversorgung, die Flüchtlinge und die Migrationsproblematik, die Erderwärmung.
Aus der Tatsache, dass viele Probleme natürlich transnational oder gar global entstehen und gelöst werden müssen, schließt er, die Nationalstaaten sind schuld und müssen weg oder müssen zumindest ihre Souveränität aufgeben. Als ob z. B. die Probleme in einer Gruppe von Menschen nur von einem übergeordneten Menschen gelöst werden könnten. Dass aus der Idee der Nation, des Nationalstaates, auch immer wieder Ideologien und verschiedene Nationalismen entstanden sind, ist ja richtig. Aber diese Gefahr, etwa ein europäischer -ismus, wird ja durch die Europäisierung der Staatsgewalt nicht gebannt. Die „Gleichschaltung“ der Regionen im Namen der großartigen Idee von Europa oder ein Agieren der Union als Imperium sind genauso wenig ausgeschlossen wie Bürgerkriege in Nationalstaaten oder zwischen dann europäischen Regionen.
Aus der Gleichsetzung von Nation oder Nationalstaat mit Nationalismus und der nachvollziehbaren Vermutung, Nationalismus führe in letzter Konsequenz zu Auschwitz, schlussfolgert er, die Nation sei das Problem. Und polemisiert gegen den Interviewer:
Sie haben die europäische Idee wirklich nicht verstanden. Ich habe gesagt, Friede durch Überwindung des Nationalismus. Die Idee war nicht: Wir müssen wettbewerbsfähig werden gegenüber China und den USA. Das kann man diskutieren. Aber nach europäischen Bedingungen: Es dürfen keine Waren, die mit Kinder- und Sklavenarbeit und ohne minimale soziale Standards produziert werden, auf den europäischen Markt kommen, darauf muss die Europäische Kommission achten. Auf der Basis von amerikanischen oder chinesischen Standards kompetitiv zu sein – das war nie die Idee eines vereinten Europa.
Um nach dieser Vereinfachung wirtschaftlicher Fragen aber auch so zu argumentieren:
Ich sage nicht, dass der Nationalstaat abgeschafft gehört. Ich sage nur, dass er durch europäische Gemeinschaftspolitik und durch die Globalisierung absterben wird. Und ja, es ist in der Tat vollkommen verrückt, dass der europäische Nationalismus, der in Deutschland ein ethnisch definierter Nationalismus war, einen ethnisch definierten Nationalstaat im Nahen Osten produziert hat. Ich bin der Meinung, dass Israel in die EU aufgenommen werden muss, Europa hat das Problem verursacht. Europa muss es zurückholen.
Davon abgesehen, dass die Nationalstaaten eigentlich immer auch kulturell definiert waren (die Kultur aber der reinen Ethnie zugeordnet wurde), ist die eigentliche Frage nicht eher, was für ein Europa stellen wir uns vor? Was könnte die Rolle des Nationalstaates sein? Die Zukunft ist offen. Wir wissen nicht, ob der Nationalstaat absterben oder sich „nur“ wandeln wird. Das sollte (hoffentlich) letztendlich das Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse sein, die natürlich auch immer wieder experimentelle Schritte erfordern werden. Wir müssen sozialtechnische Experimente durchführen, die Ergebnisse empirisch auswerten.
Es reicht nicht, über den gegenwärtigen Zustand zu schimpfen, etwa so:
Die Ungarn, die Polen machen, was sie wollen. Sie brechen europäisches Recht. Da soll die europäische Idee obsolet sein? Gerade jetzt müssen gemeinsame Standards verteidigt und weiterentwickelt werden. Ein gemeinsamer Rechtszustand wäre ein Fortschritt gegenüber nationaler Willkür, das verstehen Sie doch, oder?
Ja, wir brauchen gemeinsame Standards, aber die müssen gemeinsam entwickelt werden. Und übernationale Willkür, oder etwas was auch nur so empfunden wird, ist keine Lösung. Das „Subsidiaritätsprinzip“ kommt in dem Interview z. B. gar nicht vor. Aber hier beginnen gerade die Probleme mit der „Idee von Europa“ – sie liegen in vielen, vielen Details. Europa kann sich nur entwickeln, muss eigentlich entwickelt werden, mit unendlich viel Geduld. Und das durch die Nationalstaaten. Die Frage bleibt, haben wir die Zeit? Insofern brauchen wir auch viel mehr solcher Streitgespräche über unsere Ideen von Europa.
Vom therapeutischen Umgang mit der Klimakrise
piqer:
Ole Wintermann
Psychotherapie und Psychologie sind für die meisten Menschen nach wie vor Begriffe, die sie zurückschrecken lassen. Dahinter verbirgt sich „Krankheit“, „Seelenklempnerei“ und das Mysterium des eigenen Ichs, den man vielleicht nicht begegnen möchte. Die Klimakrise zwingt uns aber immer stärker, uns mit unseren existenziellen Ängsten zu befassen, die Folge der Krise sind. Die Klimakrise ist real und sie bedroht unsere Existenz. Wie gehen Menschen mit einer solchen Herausforderung psychisch um und was raten uns Psychotherapeuten?
Mit dieser Frage wandte sich die US-pakistanische Filmemacherin Sindha Agha, deren Klimaängste begannen, ihr eigenes Verhalten zu lähmen, an die Klima-Therapeutin Leslie Davenport. Agha hat die Therapiesitzungen in kleinen Abschnitten filmisch umgesetzt und zeigt ihren Weg der Bekämpfung der (realen) Klimaängste auf. Im verlinkten Kurzfilm, der optisch und dramaturgisch mit spannenden Elementen arbeitet, zeigt Agha, dass die Klimadiagnose psychologisch mit einer Krebsdiagnose zu vergleichen ist. Der psychologische Umgang von Krebspatienten mit der Krankheit und die Unterscheidung von „Healing“ und „Curing“ sind der Schlüssel zum Umgang mit der Klimakrise. Aber schaut selbst. Es lohnt sich.
Ein Jahr globale CO2-Abgabe, Transport und Aufnahme visualisiert
piqer:
Dominik Lenné
Na ja, 2023 hat das Zeug dazu, klimatisch historisch zu werden. Üble und positive Nachrichten sind vermischt, dazu unangenehme politische Kämpfe – deshalb hier einmal etwas zur Sache, das eher lehrreich und erbaulich ist. In acht Videos haben Wissenschaftler der NASA mit moderner, messungsgestützter Computeranimation die Emission, den Transport und die Wiederaufnahme des bekannten Gases im Lauf des Jahres 2021 veranschaulicht.
Wenn die Pflanzen es an Land aufnehmen, leuchtet dort eine grüne Punktierung auf. Rote Gase stammen von Waldbränden, gelbe von fossilen Brennstoffen, grüne vom Pflanzenstoffwechsel. Eine Bilanzdarstellung zeigt uns, dass die Pflanzen und Ozeane am Ende des Nord-Sommers viel mehr CO2 aufgenommen haben, als emittiert wurde – leider wird dies aber am Ende des Jahres wieder umgedreht.
Es macht auch Spaß, die Luftverwirbelungen anzuschauen, durch die das Gas über die ganze Atmosphäre verteilt wird.
Unsterbliche Zombie-Dinosaurier? Big Tech auf dem Seziertisch
piqer:
Magdalena Taube
Big Tech ist unumgänglich geworden: IT-Unternehmen, die so groß und mächtig sind, dass man sie als „too big to fail“ bezeichnet. Der Glaube an die Krisen- und Insolvenz-Immunität von Microsoft, Facebook, Alphabet und deren Pendants in China hängt erstens eng mit deren Stellung in den Gesellschaften zusammen: Sie sind quasi so zentral in allen Lebensbereichen wie der Staat. Und zweitens mit der Tatsache, dass sie eine Blüte des Kapitalismus verkörpern – und das in einer Zeit, in der kaum jemand das Ende des Kapitalismus imaginieren (ver)mag, und zugleich kaum ein Gewinn- oder Wachstumsmodell eine Erneuerung des Kapitalismus glaubhaft erscheinen lässt.
Big Tech ist also so etwas wie der unsterbliche Zombie-Dinosaurier – ein Monument aller Widersprüche, die uns heute plagen. Es ist dieses No-Way-Out-Gefühl, dass Big Tech verkörpert und es dürfte klar sein, dass es nur deshalb soweit kommen konnte, weil Big Tech mit dem Einverständnis der Staaten eine enorme wirtschaftliche Macht gebündelt hat, was zu einer Ausweitung der Überwachung, einer Spirale der Desinformation und einer Schwächung der Arbeiter*innenrechte geführt hat.
Es ist nichts Neues, sich mit Big Tech kritisch auseinanderzusetzen, aber der 11. TNI-Flaggschiffbericht „State of Power“ zeigt, warum es sich lohnt. Der Bericht – als 120-seitiges Open Access PDF oder auch E-Book verfügbar – deckt die Akteur*innen, die Strategien und die Auswirkungen der digitalen Machtübernahme auf und zeigt Ideen auf, wie Bewegungen die Technologie wieder unter die Kontrolle der Bevölkerung bringen können. Absolut lesenswert!