In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Ein Blick hinter die Kulissen der Rekordstrafe gegen Google
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Eric Bonse
So viel Strafe war nie: Fünf Milliarden Dollar soll Google berappen, weil es mit seinem mobilen Betriebssystem Android gegen die Wettbewerbsregeln der EU verstoßen hat. Google legte Widerspruch ein, US-Präsident Trump droht mit Vergeltung. Doch wie kam die EU-Kommission überhaupt auf diese Zahl?
Das wollte auch das „Handelsblatt“ wissen – und fragte bei EU-Kommissarin Vestager nach. Ihre Antwort:
Wir haben Richtlinien, die uns dabei helfen, die Strafe zu kalkulieren. Dabei geht es um die Dauer des Verstoßes, dessen Schwere und den Umsatz der Firma. Und dann packen wir das in unsere Matrix, legen den Hebel um und – puff! – heraus kommt eine Zahl.
Das war nicht sehr hilfreich. Vestager konnte auch nicht gut erklären, wo die Rekordsumme von Google eigentlich landet. Zum Glück hat sich „Politico“ der Sache angenommen – und einige Erklärungen geliefert. Die entscheidende Frage, ob Android tatsächlich den Wettbewerb behindert, bleibt freilich offen …
Risikogesellschaft – die Angst vor Risiko und Innovation
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Thomas Wahl
Ulrich Becks Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ erschien 1986. Er konstatierte einen Bruch innerhalb der Moderne, vergleichbar der Auflösung der Agargesellschaften im 19. Jahrhundert, in dem nun eine andere gesellschaftliche Gestalt heraufzieht. Darin verbinde sich die Produktion von Reichtum zunehmend mit der Produktion von Risiken für alle.
So verdienstvoll die Herausarbeitung des Risikoeffektes moderner Technologien war, so sehr hat man heute den Eindruck, das die Angst vor dem Risiko inzwischen das eigentliche Problem darstellt. So sind wir von den Ergebnissen und Möglichkeiten der Forschung oft noch begeistert.
Die Faszination und der mit neuen Technologien verbundene Optimismus relativiert sich in der Regel aber recht schnell, wenn diesen ein mehr oder wenig großes gesellschaftsveränderndes Potential zugesprochen wird. Das Laborexperiment wird dann sozusagen zu einem sozialen Experiment mit oft nicht vorhersehbaren Folgen und Dynamiken. Dabei offenbart sich nicht selten ein gesellschaftspolitisches Minenfeld, in dem die Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Kontrolle dominiert.
Der Autor vertritt daher die These, das unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme vor allem eine Folge „zu geringer Innnovations- und Produktivitätsdynamik“ sind. Technologiegetriebener Wandel würde unsere Fähigkeiten, Probleme zu lösen, gewaltig steigern und unseren Wohlstand mehren. Aber die Informations- und Kommunikationswirtschaft wächst in Deutschland seit Jahren langsamer als die Gesamtwirtschaft. Die Angst vor Robotern ist gewaltig, was angesichts der weltweit erst 1,8 Millionen installierten Einheiten einigermaßen absurd erscheint. Vorrangig werden Studien beachtet, die einen mächtigen Verlust an Arbeitsplätzen prognostizieren. Solche, die darauf verweisen, dass „nur 12 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland Tätigkeitsprofile auf(weisen), die sich für die Automatisierung eignen“, nehmen wir kaum wahr.
Fragen eines schreibenden Arbeiterkindes: Sind Linke selbstgerechte Besserwisser?
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Marcus Ertle
Wäre dieser Text über das Selbstverständnis der Linken in der WELT oder einem sonstigen Erzeugnis des Springer-Konzerns erschienen, wäre es einfach, die Nase zu rümpfen und über die Heuchelei der Golfclubterrassenetage zu schimpfen.
Er erschien aber in der taz und ist von Arno Frank, das sind schon mal zwei gute Argumente, um zumindest reinzulesen.
Es geht um die Entfremdung der Linken und ihrer eigentlichen/angeblichen/ehemaligen Zielgruppe – den Arbeitern. Spätestens seit diese sich massenweise von der SPD ab- und der AfD zugewandt haben, dürfte klar sein, dass zwischen der Selbstwahrnehmung der Linken und der Fremdwahrnehmung ein bedenklicher Abgrund existiert, der erkennbar größer wird.
Man kann das nun natürlich wortreich mit Selbstverblendungstendenzen der Arbeiter bzw. des Proletariats erklären, aber nicht nur Arno Frank beschlich schon im Studium ein Gefühl, dass Selbstverblendung ein Phänomen sein könnte, das nicht vor dem linksliberalen Milieu Halt macht.
Von diesem Befund ausgehend betrachtet Frank die Lebenswirklichkeiten zweier Welten, die, wenn man ehrlich ist, immer weniger miteinander kommunizieren und sich höchstens in der U-Bahn begegnen.
Nun wäre das für sich genommen noch keine Tragödie. Milieus bleiben, wenn man ehrlich ist, schon immer gern unter sich.
Problematischer als die Entfernung in der Lebenswirklichkeit ist vielleicht eine mentale Entfernung, die sich darin ausdrückt, dass sich das Justemilieu dieser Fremdheit zwar bewusst ist, aber daraus einen problematischen Schluss zieht. Nicht etwa den, sich den sogenannten kleinen Leuten wieder anzunähern, sondern sich immer mehr in die wohlige Ecke des Gefühls zurückzuziehen, zwar keine Mehrheiten mehr zu erreichen, aber ganz zweifellos recht zu haben, auch wenn diese Meinung auf die eigene Filterblase beschränkt bleibt.
Ganz sicher ist sich Arno Frank am Ende auch nicht, aber beim nochmaligen Durchlesen seines Textes könnte man geneigt sein, dem Befund zuzustimmen.
Lesenswert.
Der Stand der neuen Seidenstraße
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Rico Grimm
Was macht eigentlich die neue Seidenstraße, dieses chinesische Riesen-Projekt, mit dem Asien, Afrika und Europa verbunden werden sollen? Es läuft – aber mit ein paar Einschränkungen, die Georg Blume in diesem für ein deutsches Medium seltenen Artikel zusammenfasst. Woran es hapert:
- Durch die Handelskämpfe und eine verhältnismäßig unruhige Welt könnten Zinsen steigen – und einige teilnehmende Länder und Firmen vor Problemen stehen,
- einige Partner der Chinesen sind unseriös,
- gerade in Afrika halten viele Regierungen ihre Verpflichtungen nicht ein.
Peking will deswegen den Umfang und die Zahl der Seidenstraße-Projekte reduzieren, aber das bedeutet ausdrücklich nicht, dass das Vorhaben gescheitert ist. PS: Mein Kollege Efthymis Angeloudis recherchiert gerade zu dieser chinesischen Initiative. Wenn ihr Fragen habt, stellt sie ihm hier.
„Trump will Russland aus dem Markt boxen“
piqer:
Eric Bonse
Auf den ersten Blick richteten sich die Angriffe gegen Deutschland. Durch die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 habe sich Deutschland zum „Gefangenen“ Russlands gemacht, behauptete US-Präsident Donald Trump beim Nato-Gipfel in Brüssel. Trump trug das mit einer Verve vor, die den Eindruck erweckte, er glaube selbst daran – und es gehe um die (Energieversorgungs-)Sicherheit.
Doch in Wahrheit geht es um etwas ganz Anderes: „Trump will Russland aus dem Markt boxen“, meint die FAZ. Statt des billigen russischen Erdgases soll künftig das teure Flüssiggas made in USA durch die europäischen Pipelines fließen. Deshalb schlägt Trump also auf Deutschland ein – und deshalb tut er so, als gehe es ihm um die Sicherheit. In Wahrheit geht es nur ums Geschäft.
Das Gasgeschäft ist aber komplizierter, als der „Dealmaker“ aus Washington glaubt. Denn zum einen fehlt die Infrastruktur für Flüssiggas. Zum anderen gibt es nicht nur Deutschland und Russland, sondern auch noch Polen und die Ukraine. Beide Länder verfolgen in der Energiepolitik ihre eigenen Interessen. Doch das ist Trump offensichtlich entgangen. Er will seine Ziele mit aller Gewalt durchsetzen, zur Not auch mit Sanktionen:
Es zeugt von der Borniertheit Trumps, solche Zusammenhänge nicht zu sehen oder zu verstehen. Weil er seine Ziele nicht mit Marktmitteln erreichen kann, erscheint es sogar realistisch, dass er – wie im Fall Irans – exterritoriale Sanktionen gegen Unternehmen verhängt, die irgendwie mit Nord Stream 2 zu tun haben.
Da kommt noch einiges auf uns zu …
#MeineMiete: Datenjournalisten widmen sich der Wohnungsnot
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Frederik Fischer
„Wohnen ist nicht nur die neue soziale Frage – sondern eine existenzielle.“ Dieser Satz aus der Einleitung bringt es auf den Punkt. Wohl kein anderes Thema beunruhigt und verärgert die Menschen so sehr wie die Wohnungsfrage. Der Mietmarkt führt zu einer massiven Umverteilung des Wohlstands von unten nach oben und trägt zu einer wachsenden Perspektivlosigkeit unter der mietenden Mehrheit der Bevölkerung bei. Denn wer immer weniger Geld zur Seite legen kann, wird auch immer später oder nie selbst zu den ImmobilienbesitzerInnen gehören.
Die Zahlen zu diesem Phänomen liefert der empfohlene Beitrag der Süddeutschen Zeitung. Für das Datenjournalismus-Projekt wurden die freiwillig geteilten Daten von rund 57.000 Leserinnen und Lesern ausgewertet. Die Angaben geben unter anderem Aufschluss über die Höhe der Mietkosten und des verfügbaren Haushaltseinkommens.
Das sechsköpfige Team verbindet dabei bewegende Einzelschicksale mit anschaulichen Grafiken.
Einige Fakten auf die Schnelle:
- Bundesweit liegt die durchschnittliche Mietbelastung laut Statistischem Bundesamt bei 27 Prozent.
- Als zumutbar gelten Mietkosten, die ein Drittel des verfügbaren Haushaltseinkommens nicht überschreiten. Ein Drittel der Umfrageteilnehmer liegt über dieser Grenze.
- Dabei gilt: Je geringer das Einkommen, desto höher die Mietbelastung. Wenn das Haushaltseinkommen unter 4000 Euro liegt, sind schon mehr als 44 Prozent oberhalb der 30-Prozent-Schwelle.
- Noch dramatischer wird die Quote bei den Geringverdienern. Zwei Drittel, die weniger als 2000 Euro verdienen, geben mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete aus.
- Ebenfalls stark sind Alleinerziehende betroffen: In dieser Gruppe liegen 61 Prozent über der kritischen Schwelle.
- Bei Umzügen steigt die Miete im Mittel um 16 Prozent.
Einen winzigen Abzug in der B-Note gibt es für den etwas unpräzisen Gebrauch der Wörter „Einkommen“ und „Mietbelastung“. Die Definition dieser wichtigen Begriffe finden sich im Methodik-Begleittext.
Wie Bannon die EU aufmischen will
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Eric Bonse
Die Ankündigung schlug in Brüssel wie eine Bombe ein: Der rechte Vordenker und ehemaliger Berater von US-Präsident Donald Trump, Steve Bannon, will eine Art Internationale der Nationalisten in der EU gründen. Sein Hauptquartier will Bannon ausgerechnet in der EU-Kapitale aufschlagen. Von dort will er künftig mit der FPÖ, der Lega oder dem Front National kooperieren.
Der Chef der Liberalen im Europaparament, Guy Verhofstadt, reagierte prompt. „We know what the nightmare of nationalism did to our countries in the past“, twitterte er. „We must #BanBannon! #GenerationEurope must stop him!“ Auch in Deutschland bekam Bannon sofort Gegenwind. Fast alle Parteien wollen sich seiner Bewegung entgegenstellen, sogar die AfD hat Vorbehalte.
Das scheint Bannon aber nicht zu schrecken, im Gegenteil. Er ist fest davon überzeugt, dass Kanzlerin Angela Merkel und ihre Anhänger schon bald die Macht verlieren werden. Sein Idol heißt George Soros, der Investor und Philanthrop, der sich vor allem in Osteuropa für Demokratie und Rechtsstaat engagiert. „Soros is brilliant,“ he said. „He’s evil but he’s brilliant.“
„Das Ereignis“: die Angst der Superreichen vor dem ultimativen Kollaps
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Antje Schrupp
Vor eineinhalb Jahren piqde ich hier von einem Trend der Superreichen, sich Häuser in Neuseeland zu kaufen, für den Fall, dass es auf den anderen Kontinenten zu ungemütlich würde. Inzwischen ist die Panik offenbar noch größer geworden.
Dieser Text basiert auf den Aussagen des Medientheoretikers Douglas Mark Rushkoff, der erzählt, welche Fragen ihm Superreiche zur Zukunft der Technik stellen. Sie alle zielen darauf ab, wie man möglicherweise „Das Ereignis“ überleben kann, womit der Zusammenbruch der irdischen Zivilisation gemeint ist, der nach Ansicht dieser Männer unausweichlich kommen wird.
Gibt es Regionen auf der Erde, die vom Klimawandel weniger betroffen sind? Kann man sich retten, indem man das eigene Bewusstsein in die Cloud geladen hat? Wie lange dauert es, bis man auf den Mars auswandern kann? Wie kann man eine Privatarmee bezahlen, wenn Geld nichts mehr wert ist? Weitere Fragen lauten:
Wäre es möglich, die Nahrungsmittel mit speziellen Schlössern zu sichern, die nur sie öffnen könnten? Seien „Disziplinierungshalsbänder“ technisch realisierbar, die sie den Sicherheitskräften anlagen könnten, um diese von der Rebellion abzuhalten? Oder sei es eventuell technisch möglich, schon jetzt auf den Faktor Mensch gänzlich zu verzichten und Roboter als Wächter und Diener arbeiten zu lassen?
Möglicherweise sind das nur die Spleens einer Gruppe besonders verkommener Individuen. Aber sie haben eine innere Logik: Es ist die auf die Spitze getriebene Form der neoliberalen Ideologie.