In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
USA: Fachkräftemangel scheint Automatisierung zu befördern
piqer:
Ole Wintermann
Steigende Mindestlöhne in Kombination mit einem Fachkräftemangel, der als Folge der Pandemie in immer mehr Branchen zutage tritt, und die sogenannte “Friedensdividende” in Form sinkender Sensorpreise auf dem Smartphonemarkt ergeben in den USA zurzeit eine Dynamik im Markt für Mietroboter.
Stunden”löhne” für einen mietbaren Roboter, die gerade einmal 50% der Mindestlöhne für Menschen betragen, münden in einen expandierenden Markt für Roboter, die fallweise und aufgabenspezifisch an Unternehmen ausgeliehen werden. Der Vorteil der Unternehmen, die diese Angebote nutzen, liegt in der Kostenersparnis, aber auch der Möglichkeit, die Produktivität der bereits dort angestellten Menschen zu erhöhen. Des Weiteren führt diese Entwicklung dazu, dass sich auch kleinere Unternehmen Robotik leisten können, ohne vorab hohe Investitionen getätigt haben zu müssen:
„Smaller companies sometimes suffer because they can’t spend the capital to invest in new technology.”
Über die langfristigen Auswirkungen dieses Geschäftsmodells auf den Arbeitsmarkt gibt es nach Ansicht der dort befragten Experten noch keinen Konsens. Arbeitsplatzverluste – auch im Führungsbereich – und weniger dynamisch wachsendes Arbeitsangebot stehen auf der einen, steigende Beschäftigtenzahlen in anderen Branchen, in denen die Roboter keine Menschen ersetzen, stehen auf der anderen Seite. In 10 Jahren werden wir alle mehr wissen. Eines ist aber schon jetzt erkennbar: Wie auch in anderen Geschäftsfeldern (und Konsumbereichen) wird Besitz durch Nutzung ersetzt.
“As more and more companies automate in different industries, you’re seeing more receptivity to robotics as a service.”
Was passiert bei einem Aus für Nord Stream 2?
piqer:
Eric Bonse
Es war DAS Ereignis beim Antrittsbesuch von Kanzler Olaf Scholz in Washington: Vor laufenden Kameras erklärte US-Präsident Joe Biden die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 für tot, falls Russland in die Ukraine einmarschieren sollte. Scholz stand daneben und wagte weder, die harte Ansage des mächtigsten Mannes der Welt zu bestätigen, noch offen zu widersprechen.
Wenn man genau hinhörte, so leistete Scholz aber doch ein wenig Widerstand. „In diesem Falle werden wir absolut gemeinsam agieren. Wir werden dann alle dieselben Schritte ergreifen“, sagte der Kanzler. Er fordert also, dass „alle“ – auch die USA – „Schritte“ ergreifen. Zum Beispiel bei den russischen Öllieferungen in die USA, die in den letzten Jahren immer mehr zugenommen haben.
Jeder soll verzichten, nicht nur Deutschland, hofft Scholz. Denn ein Aus für Nord Stream 2 wäre mit hohen Kosten verbunden. So könnte Russland mit Gegensanktionen reagieren – und die Gaszufuhr nach Deutschland und in die EU drosseln. Demgegenüber dürfen sich die USA auf satte Gewinne freuen. Schon jetzt sind die Importe von US-Flüssiggas kräftig gestiegen.
Wer gewinnt und wer verliert – das muss man wissen, um den Streit über Nord Stream 2 und die angedrohten Russland-Sanktionen zu verstehen.
Die wirtschaftliche Souveränität – ein Allheilmittel?
piqer:
Thomas Wahl
Globalisierung basiert auf weltweiten Lieferketten. Lieferketten können reißen, was zu dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen führen kann. Aber spricht das wirklich gegen die Globalisierung?
Patrick Welter analysiert das am Beispiel der japanischen Tsunami-Katastrophe von 2011, die auch zur Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima führte. Dabei wurden große Teile der Küste zerstört, es starben fast 19.000 Menschen.
Die Katastrophe war auch ein wirtschaftlicher Schlag, weil wichtige Unternehmen in der Region schwer beschädigt wurden. Einer der bedeutendsten Zulieferer von Mikrochips für die Automobilwirtschaft, Renesas Electronics, brauchte drei Monate, um eine wichtige Produktionsstätte wieder zum Laufen zu bringen. Der Angebotsschock lief durch die globalen Lieferketten. Nach Schätzungen resultierten 90 Prozent der wirtschaftlichen Schäden der Katastrophe aus den beschädigten Lieferketten und nicht aus der direkten Zerstörung. Toyota Motor kämpfte gut ein halbes Jahr, bis es seine Zulieferer und die Produktion einigermaßen stabilisiert hatte.
Aber Toyota lernte aus der Unterbrechung seiner Lieferketten. Es führte eine Tiefenanalyse der Zulieferstrukturen durch, verstärkte die Kommunikation im Netzwerk und antizipierte mögliche schwerwiegende Engpässe. Man suchte alternative Lieferquellen und priorisierte nach Wichtigkeit. Es gab also keinen Weg zurück zur verstärkten Eigenproduktion aller Teile im eigenen Land oder gar im Unternehmen selbst.
Diese Strategie steht im Gegensatz zu dem auch in der Corona-Pandemie gerade in Deutschland und Europa diskutierten neuen Merkantilismus: ursprünglich eine Wirtschaftspolitik, die möglichst viele Waren aus dem Land ausführen, aber möglichst wenig Waren importieren möchte. Ging es damals (im Europa des 16. Jahrhunderts bis ins 18. und frühe 19. Jahrhundert) primär um den Exportüberschuss, wird heute vorrangig mit der Autarkie der Lieferketten argumentiert.
Ökonomen diskutieren die Vor- und Nachteile globaler Lieferketten in Form eines Dreiklangs. Erstens ermöglicht die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung Spezialisierungsgewinne und damit höheren Wohlstand. Unternehmen produzieren das, was sie vergleichsweise am besten können, und lassen sich den Rest zuliefern. Das nutzt allen, weil jeder seine besonderen Vorteile so am besten ausschöpfen kann.
Natürlich muss auch jede Nation ihre Vorteile und Stärken entwickeln und ausbauen.
Zweitens birgt aber der internationale Handel das Risiko, dass Katastrophen wie das Erdbeben im Nordosten Japans sich über die Lieferketten global ausbreiten und die Wirtschaft etwa im weit entfernten Europa schädigen.
Da kommen nun drittens die Chancen der globalen Lieferketten ins Spiel:
Waren etwa aus Amerika zu beziehen, falls Japan wegen eines Erdbebens nicht liefern kann. Das verringert die wirtschaftlichen Risiken für Europa.
Es geht also um das Ausbalancieren von Chancen und Risiken. Und aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die politische Angst vor wirtschaftlicher Abhängigkeit durch Verflechtung der Lieferketten eher übertrieben ist.
Ökonomen der Bank von England kamen im Jahr 2021 zu dem Schluss, dass eine Entflechtung globaler Lieferketten wirtschaftliche Kosten mit sich bringe, ohne die Risiken wirtschaftlicher Störungen notwendigerweise oder in signifikantem Ausmaß zu verringern. Francesco Caselli von der London School of Economics zeigte mit seinen Ko-Autoren im Jahr 2020 in einer breit angelegten Studie, dass in den vergangenen Jahrzehnten der internationale Handel für die meisten Länder wirtschaftliche Störungen reduziert habe.
Diesen Vorteil von weit gespannten Lieferketten zeigte auch die oben geschilderte Einzelfallanalyse von Toyota in der Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan. Die Vorteile in der Erholung nach der Katastrophe überwogen die unmittelbaren Nachteile.
Man sollte sich also genau überlegen, wie man sich auf solche externen Schocks (wie etwa eine Pandemie) vorbereitet und wie man im Chaos des Schocks agiert. Klar ist wohl:
Einem globalen Schock wie in der Pandemie, in dem überall die Nachfrage nach bestimmten Gütern drastisch steigt und das Angebot wegbricht, lässt sich auch mit heimischer Produktion nicht ausweichen. Im Gegenteil: Das Kappen globaler Lieferketten verschärft die Lage, weil Lieferungen aus dem Ausland ausbleiben.
Man kann sagen, Souveränität entsteht heute aus der Fähigkeit, vielfältig und schnell zu reagieren und mit anderen zu kooperieren. Nicht durch Abschottung. Aber wir sehen auch:
Die Formel der wirtschaftlichen Souveränität gegenüber den globalen Lieferketten hat aus Sicht von Regierungen den Vorteil, dass sie sich im scheinbaren wirtschaftlichen Kampf der Nationen auf dem Feldherrenhügel präsentieren können.
Von den Vorteilen dieser Politik sieht man wenig. Die DDR hatte ja, wenn auch notgedrungen, weitgehend auf wirtschaftliche Autarkie gesetzt. Man baute möglichst viel selbst. Die so im Land erzeugte Produktpalette war bei hoher Fertigungstiefe riesig, Stückzahlen und Produktivität als Folge gering. Was zu dem vergleichsweise niedrigen Wohlstand führte. Insofern, ja, ein Lob der Lieferkette!
Rumänien: Europas Müllhalde
piqer:
Keno Verseck
Westliche Politiker erteilen den Staaten Mittel- und Südosteuropas gerne Nachhilfe in Sachen Demokratie und Rechtsstaat. Meistens ist die Kritik berechtigt, der Ton dahinter aber fast immer falsch und verlogen. Westliche Unternehmer lassen gern billig in Mittel- und Südosteuropa produzieren. Wenn man privat mit ihnen ins Gespräch kommt, legen manche eine Herablassung gegenüber ihrem Gastland an den Tag, die atemberaubend ist.
Vielleicht zeigt aber nichts so sehr die Einstellung des alten, „westlichen“ Europas gegenüber dem Osten des Kontinents, wie die illegalen Müllexporte, die heutzutage dorthin gehen. Rumänien ist eines der Länder, das bei diesem Thema immer wieder Schlagzeilen macht. Anfang der 1990er Jahre waren es Hunderte Tonnen schwerstgiftiger, dioxinhaltiger Chemikalien aus Deutschland, die plötzlich auf siebenbürgischen Bauernhöfen auftauchten. Heute ist es eine Flut von Recycling-Müll, die das Land überschwemmt, viel davon ebenfalls aus Deutschland. Der Müll wird meistens illegal gelagert, verbrannt oder vergraben.
Es ist ein Milliardengeschäft, denn was in Ländern wie Deutschland teuer entsorgt und recycelt werden müsste, wird billig in Länder wie Rumänien exportiert. Ein Geschäft auf Kosten der Umwelt und der Gesundheit vieler Menschen vor Ort. Besonders schlimm ist das Problem seit 2018 – seit China die Einfuhr von Recycling-Müll verboten hat.
Meine geschätzte Kollegin Lavinia Pițu von der Deutschen Welle hat zusammen mit Adrian Mogoș monatelang in Rumänien und Deutschland recherchiert und die Spur von deutschen Müllexporten verfolgt. In ihrer spannenden investigativen Videoreportage geht es um eine Hamburger Firma, die Müll exportiert, um einen deutschen Zementriesen in Rumänien, um hartnäckige rumänische Ermittler und Umweltschützer – und um deutsche Behörden, die abwiegeln. In Rumänien ist man gemeinhin eher vorsichtig mit Lektionen an westliche „Partner“. In diesem Fall wären sie aber besonders angebracht.
Was bringt das Metaversum, was steht dahinter?
piqer:
Jürgen Klute
„Die Riesen der Technologiebranche investieren zurzeit gigantische Summen in etwas, das sie als Metaversum bezeichnen.“ Doch was steckt dahinter?“ Mit dieser Frage eröffnet Tessie Jakobs eine kleine Artikelserie über das Thema Metaversum in der Luxemburger grün-alternativen Zeitung woxx. In dieser Artikelreihe, die nach und nach in den nächsten Wochen erscheinen soll, werden ethische, juristische und gesellschaftliche Fragen zum Thema Metaversum behandelt.
In dem ersten hier verlinkten Artikel geht es vor allem um die Frage, was das Metaversum ist. Tessie Jakobs schreibt dazu:
Zu erklären, was es ist, ist vor allem deshalb schwierig, weil es erst in seinen Anfängen steckt. Im Groben geht es darum, eine neue, immersive Version des gegenwärtigen text- und bildbasierten Internets zu schaffen. Gewisse Ausprägungen davon gehören auch jetzt schon zu unserem Alltag. Dazu muss man nicht einmal in Kryptowährung investieren oder sich in eine 4D-Filmvorführung setzen: Ein Social-Media-Account oder das Benutzen von Google Maps reichen schon aus, um die Anfänge dieser Entwicklung live mitzuerleben.
Für Menschen, die mit der Gaming-Welt – also mit der virtuellen Spielwelt – vertraut sind, ist das nicht ganz neu. Neu ist vielmehr, dass sich offensichtlich immer mehr Elemente aus der Gaming-Welt in andere Bereiche unseres (Alltags)Lebens ausbreiten. Dazu noch einmal Tessie Jakobs:
Im Alltag könnte das so aussehen, dass wir statt mit Smartphones in nicht allzu ferner Zukunft mit Smartbrillen und -handschuhen herumlaufen, dank derer wir unentwegt mit einem Fuß in einer digitalen Parallelwelt stehen. Expert*innen schätzen, dass diese Entwicklung das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig verändern könnte, vergleichbar etwa mit der Erfindung des iPhones.
Man/frau kann gespannt sein auf die weiteren Folgen dieser Artikelserie.
Hier noch ein kurzer Hinweis auf einen weiteren Text zum gleichen Thema – aber aus einer anderen Perspektive – von Christian Stöcker: Das Metaversum kommt – aber noch nicht jetzt.
Physische Remote-Arbeit wird absehbar zur neuen Normalität
piqer:
Ole Wintermann
Neben dem weitreichenden Umstieg auf mobiles Arbeiten in weiten Bereichen der Wirtschaft wird immer offensichtlicher, dass eine weitere, durch künstliche Intelligenz getriebene, Entwicklung vorankommt: Die entfernte Steuerung von Fahrzeugen. In ersten konkreten Arbeitszusammenhängen wird erprobt, wie Beschäftigte, die in Kalifornien wohnen, Gabelstapler in Frankreich steuern können. Speditionsunternehmen sind an diesen Möglichkeiten interessiert, um dem Fachkräftemangel vor Ort zu begegnen. Bezeichnet wird diese neue Form der Arbeitserbringung als „physische Remote-Arbeit“.
Die (temporäre?) Schattenseite dieser Entwicklung ist das Einsetzen einer weltweiten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bei vormals international immobilen Tätigkeiten und Dienstleistungen. Des Weiteren könnte es sein, dass der hybride KI-Mensch-Einsatz bei physischer Remote-Arbeit vor allem dem Training der KI dient, um langfristig rein KI-basierte Fernsteuerung Wirklichkeit werden zu lassen. Gegen Letzteres spricht derzeit noch die aktuelle Erfahrung mit der Kombination von KI und Mensch bei der Fernsteuerung von Geräten. Die Gegebenheiten vor Ort werden optimal durch eine KI erfasst; die Gesamtsteuerung obliegt den Menschen. Die befragten Projektteilnehmer bezeichnen diese Kombination als optimal.
„It’s been very obvious that you need to combine remote control with autonomous operation to create a robust and reliable transport setup.“
Die etlichen im Text genannten Beispiele deuten aber eher darauf hin, dass es am Ende aber doch vor allem um Kostenreduzierung gehen wird:
„James Matthews, CEO of Ocado’s technology division, said (..) that the company has teams of robotic pilots in Mexico and the Philippines who can remotely suggest the best way to grasp new products.“
Kernfusion: Was vom neuen „Weltrekord“ zu halten ist
piqer:
Nick Reimer
Seit Jahrzehnten versucht die Wissenschaft, die Kernfusion für die Energieerzeugung nutzbar zu machen. Kernfusion ist das Prinzip der Sonne: Atomkerne von Wasserstoff und Helium verschmelzen und geben dabei ungeheure Mengen von Energie ab. Dieses Vorbild wollen sich Forscher zu Eigen machen. Das Potenzial ist fantastisch; 1 Gramm Wasserstoff gibt etwa dieselbe Menge Energie frei wie die Verbrennung von 8 Tonnen Erdöl. Oder 11 Tonnen Kohle.
„Das Gute an dieser Technologie ist: Sie ist absolut sicher!“, erklärt vor 16 Jahren Rudolf Brakel vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald. Deren Vorteil sei nämlich, dass schon die minimalste Störung zum Zusammenbruch der Kettenreaktion führt. „Während sich bei Atomunfällen im extremsten Fall – wie in Tschernobyl – Hitze unkontrolliert aufbauen kann, würde es bei einer Störung der Kernfusion zum sofortigen Erkalten kommen.“
Im Versuchsreaktor JET in der Nähe von Oxford ist jetzt etwas gelungen, was die Forscher als „Durchbruch“ beschreiben: Erstmals wurden während einer fünf Sekunden langen Plasmaentladung eine Energiemenge von 59 Megajoule freigesetzt. Zwar mussten die Fachleute mehr Energie fürs Heizen reinstecken als durch die Fusion erzeugt wurde. Aber sie konnten dabei die Kernverschmelzung detailliert beobachten. Die Resultate seien ermutigend: „Das bringt die Fusion ein Stück näher“, urteilt Athina Kappatou vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching, die maßgeblich an den Experimenten am JET beteiligt. „Es ist ein Beweis, dass eine Fusion eine gute Option für eine klimaneutrale Energieerzeugung in der Zukunft ist.“
Kommt jetzt also ein neues Zeitalter mit sauberer Energie im Überfluss? An der kontrollierten Verschmelzung von Wasserstoff zu Helium wird bereits seit den 1960er-Jahren geforscht. Selbst wenn die Forscher jetzt von „Durchbruch“ reden: Die Ergebnisse sollen im Versuchsreaktor ITER angewendet werden, der seit 2007 im südfranzösischen Cadarache gebaut wird. Ziel von ITER ist, unter Einsatz von Deuterium-Tritium-Brennstoff zehnmal so viel Energie zu gewinnen, wie zuvor an Heizenergie ins Plasma eingespeist wird. Geplant ist dieses Ergebnis für das Jahr 2035.
Damit wird die Kernfusion keinen Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten können: Wenn die Technologie tatsächlich in den 2040er-Jahren großtechnisch zur Produktionsreife gelangt, müssen viele Staaten längst klimaneutral sein.
„In 50 Jahren wird uns die Kernfusion mit Strom versorgen – das wird uns nun schon seit 30 Jahren versprochen“, kritisierte Johannes Lackmann 2006, damals Präsident des Bundesverbandes Erneuerbare Energien. Der Preis für Fusionsstrom werde mit 20 Cent je Kilowattstunde kalkuliert. Aber „Wind- und Wasserkraft liegen heute bei circa 8 Cent, Biomasse bei 15 Cent“, so Lackmann. Energiepolitisch sinnvoller sei es daher, die prognostizierten Forschungskosten der Fusion von 100 Milliarden Euro in Forschung und Ausbau der erneuerbaren Energien zu stecken. Mein Kollege und Mitpiqer Ralph Diermann hat die Kernfusion hier einmal als den „Berliner Flughafen der Energieforschung“ bezeichnet.
Super Bowl, HipHop und die Zukunft der Arbeit
piqer:
Anja C. Wagner
Jetzt muss die Alte auch noch über HipHop während der Super Bowl-Show 2022 schreiben und dies im Kanal Zukunft und Arbeit (und Bildung) unterbringen. Was, bittschön, hat das eine mit dem anderen gemein? Vieles – und im Kern fast alles.
Aber beginnen wir vorne. Oder hinten, je nachdem, wie man schaut. Hier ein ganz kurzer Wrap-Up für alle Nicht-Eingeweihten:
- Super Bowl ist die größte Sportveranstaltung in den USA, ein Fest für die ganze Familie an einem Sonntagabend im Februar.
- Es handelt sich um das alljährliche Finale der US-amerikanischen American-Football-Profiliga National Football League (NFL).
- Am 13.02.2022 spielten die (überraschend ins Finale vorgestossenen Underdogs) Cincinnatti Bengals gegen die Heimmannschaft Los Angeles Rams (Rams gewannen spektakulär und Hollywood-gemäß – hier sehr schön beschrieben).
- 100 Mio. Zuschauer*innen verfolgten das Spektakel an ihren Monitoren alleine in Amiland, 800 Mio. weltweit.
- $200.000 kostete die Werbesekunde während des Events. Die gezeigten Werbeclips sind oft legendär.
- In der Halbzeit findet traditionell ein großes Musikspektakel statt.
- Die NFL kämpft seit Jahren gegen Rassismus-Vorwürfe:
- 70% der Spieler sind farbige Athleten, aber der Besitzer- und Trainerstab der Mannschaften ist deutlich von Herrschaftsweißen geprägt.
- Der NFL-Quarterback Colin Kaepernick sank 2016 bei der Nationalhymne aus Solidarität mit der Black Lives-Matter-Bewegung auf die Knie, wurde daraufhin gekündigt – und nie wieder von irgendeinem NFL-Verein verpflichtet, trotz seiner sportlichen Klasse.
- Seit 2018 ist der Kniefall als Symbol des Widerstandes im Stadion verboten.
- Seit 2020 arbeitet die NFL mit Jay-Z’s Unternehmen Roc Nation zusammen, auch um den Rassismus-Vorwürfen zu begegnen und beliebte Musiker:innen auf den Bühnen der Superbowl-Halbzeit präsentieren zu können.
Vor diesem Hintergrund spielt sich also die diesjährige Halbzeit-Show ab, in der Jay-Z seinen Kumpel Dr. Dre die Viertelstunde gestalten lässt, der sich 5 Hip-Hop-Künstler:innen an die Seite nimmt und damit seiner Heimatstadt Los Angeles Tribut zollt. Sie bauen in kürzester Zeit eine Ladenstraße mit Straßenambiente, Autos und zig Tänzer:innen auf, die das Stadion in eine quirlige Metropole verwandeln. Und dann legen sie eine 15-Minuten-Performance hin, die sich gewaschen hat. Oder um es mit den Worten von Dr. Dre zur Ankündigung der Show zu sagen:
Ich glaube, wir werden einen fantastischen Job machen. Wir werden es so groß machen, dass sie uns in Zukunft nicht mehr verleugnen können.
Um diese, ich würde sagen „historische Zäsur“ zu begreifen und in den Kontext zu setzen:
HipHop ist nicht nur ein Musikstil, sondern Teil eines Lebensgefühls, flankiert von einer spezifischen Modekultur und Ästhetik, die sich z.B. auch in Streetart und Graffiti als Widerstandskultur spiegelt und von spießigen Traditionalist:innen eher abgelehnt wird. Es ist eine Bewegung, die größtenteils aus den Ghettos kommt, sich gegen eigene soziale Ausgrenzungen zur Wehr setzt und dem einen eigenen Habitus (auch gewalttätig) entgegensetzt. Über die Jahre hat sich so aus einer Subkultur eine eigene Wirtschaftskultur entwickelt, von eigenen Radiosendern und Podcast-Studios angefangen, über das gesamte Musikbusiness bis hin zur Bekleidungs- und Schuhkultur etc.
Kaum jemand in den westlichen Gesellschaften ist von dieser Entwicklung unberührt. HipHop ist längst im Mainstream angekommen: Sneakers und Jogginghosen im Alltag, Baseball-Caps und große Kopfhörer prägten schon vor Corona das Straßenbild der Freizeit. Schauen wir uns Bekleidungen der aktuellen Neuzeit an, dann setzen sich diese dank Zoom aus formalen Zwängen im öffentlichen Sichtfeld am Oberkörper und legerer Sportbekleidung unterhalb des Kamerabildes zusammen. Und es ist völlig legitim, sich so zu zeigen und zu dieser „Schizophrenie“ zu stehen. Ich denke, die HipHop-Kultur hat uns hier die Tür geöffnet.
Und so schwingen sich also diese 6 Künstler:innen während ihrer Show in einer ungemein abwechslungsreichen, stimmungsvollen Straßenszenerie in die Herzen des Publikums, zeigen ihre Professionalität in einer atemraubenden Perfektion und Lebensfreude, die gleichzeitig suggeriert: Wir waren schon immer da und demonstrieren euch in einem Überfluss, wie solch ein Pausen-Happening ausschauen kann. Es ist ein Statement gleichermaßen wie ein Musik- wie Bühnenspektakel. Zwar bei vermeintlichen Andeutungen zur Widerstandskultur in Nuancen abgestimmt mit einem rigorosen NFL-Management, aber in mühsamen Kompromissen ausgehandelt. So mündet der Song des einzigen weißen Rappers (Eminem) im Kniefall, der an Kaepernick erinnert, aber nicht 100%ig identisch ist. Während andere Wünsche der NFL einfach ignoriert wurden. Schließlich hatte Dr. Dre die Produktion selbst finanziert.
Was also nun? Wollen wir uns weiter ausschließlich über die pubertären, sexistischen und gewaltverherrlichenden Texte der HipHop-Frühzeiten aufregen? Oder anerkennen, dass hier eine breite Schicht aus ehemaligen Underdogs eine finanziell tragfähige Gegenkultur etabliert hat, von der viele leben können. Und die zudem Spaß macht und uns alle regelmäßig hinterfragen lässt, warum wir uns in enge Businessoutfits pressen, wenn wir doch alle eigentlich viel freier und legerer leben wollen.
Deshalb schreibe ich hier über HipHop und ihren Beitrag zur Zukunft der Arbeit und der Bildung. Wir können viel von ihnen lernen. Nicht nur sind die Haupt-Protagonisten des spektakulärsten Superbowl-Halbzeit-Events aller Zeiten meines Alters und gedenken nicht aufzuhören (haha). Sie haben zudem über die Jahre eine wirtschaftliche Struktur auf der Basis ihrer „Passion“ aufgebaut, die sich zum erfolgreichsten Kulturstil unserer Zeit gemausert hatte. Und auf dem andere Nachwuchskünstler:innen aufsetzen können. Unter anderem davon berichtet der hinterlegte Artikel.
Es war also einerseits gewagt seitens der NFL, diese Kultur zur besten Sendezeit über die TV-Kanäle in die Familienwohnzimmer zu streamen und damit anzuerkennen, dass HipHop nun mal ein ausgesprochen erfolgreiches Netzwerk an modernen Künstler:innen in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hat. Auf der anderen Seite war dies ein Zeichen, dass sich die gesellschaftlich herrschende Kultur in den westlichen Gesellschaften bereits radikal verändert hat – und die Kultur der Schlipsträger und Kostümchen-Träger:innen sich auf dem Rückzug befinden. Ich finde: Zum Glück!
Und mir kommt der ikonische Think Different Apple Werbespot in den Sinn:
„Auf die Verrückten. Die Außenseiter. Die Rebellen. Die Störenfriede. Die runden Nägel in den eckigen Löchern. Diejenigen, die die Dinge anders sehen. Sie mögen keine Regeln, und sie haben keinen Respekt vor dem Status quo. Man kann sie zitieren, ihnen widersprechen, sie verherrlichen oder verteufeln. Aber das Einzige, was man nicht tun kann, ist sie zu ignorieren. Denn sie verändern die Dinge. Sie treiben die menschliche Rasse voran. Und während manche sie als die Verrückten ansehen, sehen wir in ihnen Genies. Denn die Menschen, die verrückt genug sind zu glauben, dass sie die Welt verändern können, sind diejenigen, die es tun.“ -Steve Jobs, 1997
Beharrlichkeit zahlt sich also aus. Lassen wir abschließend noch einmal Dr. Dre sprechen:
„Es ist verrückt, dass es so lange gedauert hat, bis wir anerkannt wurden“, sagte Dre vor der Show.
Es war ein Statement! Und wer es noch nicht gesehen hat: Es lohnt sich!