In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Lieferengpässe in Großbritannien – woran liegt’s?
piqer:
Silke Jäger
2019, noch vor dem EU-Austrittsdatum, konnte man (wenn man wollte) die aktuellen Headlines vorausahnen. Damals warnte die Logistikbranche sehr vehement vor Lieferengpässen in UK. Man fürchtete, dass die längeren Abfertigungszeiten an den Grenzen dazu führen, dass weniger Kontinental-Unternehmen ihre Partner in UK beliefern würden. Denn Zeit ist Geld. Vor allem für die Logistikbranche.
Die Tory-Regierungen haben den Logistikern seitdem nie aufmerksam zugehört. Die Bedenken der Branche waren ja nicht nur die Abfertigungszeiten und die Mehrkosten, die sie durch den Zeitverlust haben würden. Es gab viele weitere Punkte, die sie beim Übergang zu Global Britain als problematisch ansahen. Unter anderem auch der Mangel an billigen EU-Arbeiter:innen.
Damals konnte noch niemand die Pandemie voraussehen. Die UK-Regierung machte in der Corona-Zeit über lange Strecken fast keinen Hehl daraus, dass sie die Infektionsdynamik nicht auf Kosten der Wirtschaft eindämmen will. Die Unterstützungsleistungen für Arbeiter:innen waren auf einem viel niedrigeren Niveau als in Deutschland. Obwohl es eine zeitlang ähnliche Kurzarbeiterregelungen für Unternehmen gab, änderte das zu wenig für diejenigen, die schon länger am unteren Ende der britischen Gesellschaft stehen: die einfachen Leute, vor allem die mit migrantischem Hintergrund. Was Theresa May in ihrer Zeit als Innenministerin begann, treibt die Johnson-Regierung durch Innenministerin Priti Patel in neue Extreme. Der Kurs gegenüber Einwander:innen ist oft jenseits der Grenze, die in Deutschland als rechtsextrem gilt.
Wenn jetzt zu wenige LkW-Fahrer:innen bereit sind, die schlechteren Arbeitsbedingungen plus ein niedrigeres Gehalt plus die höhere arbeits- und bürgerrechtliche Unsicherheit in Kauf zu nehmen, so liegt das nicht nur am Brexit oder nur an der Pandemie oder nur an der fremdenfeindlichen Rhetorik. Es ist eine komplexe Gemengelage.
Die aktuelle Benzin-Knappheit hat auch damit zu tun, dass britische Medien wissen, wie man Themen hochjazzt. Als eine Ölfirma, nämlich BP, ankündigte, nicht mehr alle Tankstellen gleichmäßig beliefern zu können und es deshalb an wenigen Orten zu leeren Tanks kommen könnte, machten sie daraus ein landesweites Problem. Genau das ist es inzwischen. Panikkäufe heizten die Situation so an, dass die Berichte plötzlich stimmen.
Die Befürchtungen, die vor dem Brexit als Angstmacherei abgetan wurden, werden nun nach und nach zu bitterer Realität in UK. Die Lebensmittelindustrie warnt seit Langem davor, dass ihnen die Erntehelfer:innen fehlen werden, die Lagerarbeiter:innen und die Ausliefer:innen. Inzwischen fürchten viele Briten um ihren Weihnachtstruthahn. Wer konnte ahnen, dass die billigen Schlachthelfer:innen vom Kontinent fehlen würden? Mehr als 1 Million EU-Bürger:innen haben seit dem Brexit das Land verlassen.
Die rechte Brexit-Rhetorik, wonach EU-Bürger:innen den Briten die Jobs wegnehmen würden, entpuppt sich immer mehr als das, was es von Anfang an war. Eine billige Masche, um Wählerstimmen aus den Lagern zu bekommen, die gesellschaftlich so sehr am Rand sind, dass sie unter sich nur noch die Einwander:innen wähnen. Das half den EU-Skeptikern der Upper Class, die schon lange auf dem Deregulierungstrip sind und für die der Brexit ganz neue globale Möglichkeiten eröffnet, ihren Reichtum zu sichern und zu mehren.
Der gepiqte Text erklärt diese größeren Zusammenhänge und fällt nicht auf die Narrative von Regierung oder Wirtschaft herein.
Wie es zur Benzin-Knappheit im Detail kam und wann sie vielleicht enden wird, kann man in diesem Text genauer nachlesen.
Die sieben Sünden der Angela Merkel in Europa
piqer:
Achim Engelberg
Mal sehen, wer die Nachfolge Angela Merkels antritt. Gut möglich, dass die 25-%-SPD bald den Bundespräsidenten, den Kanzler und den Bundestagspräsidenten stellt. Nun aber heißt es, Bilanz zu ziehen. Für die Europapolitik erläutert Kollege Eric Bonse sieben europapolitische Sünden.
Die Beiträge beginnen stets so:
Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren.
Die erste Sünde sind verschleppte Krisen:
In Deutschland gilt Angela Merkel als erfolgreiche Krisenmanagerin – zu Recht, denn sie hat ihr Land gut durch alle möglichen Turbulenzen geführt. Deutschland ist sogar gestärkt aus den vielen Krisen hervorgegangen, zumindest bis vor kurzem.
Doch für die EU (und speziell für Südeuropa) sieht die Bilanz völlig anders aus. Merkel hat die “Polykrise” (so Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker) nicht gelöst, sondern verschleppt und teilweise sogar unnötig verschärft.
Im zweiten Teil geht es um die marktkonforme Demokratie, die man auch Fassadendemokratie nennen kann:
Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft, Demokratie und Rechtsstaat werden mehr denn je betont. Doch ausgerechnet die lange Zeit mächtigste EU-Politikerin, Kanzlerin Angela Merkel, hatte ein Problem mit der Demokratie.
Sünde 3 sind deutsche Alleingänge:
Das eigentliche Problem … liegt darin, dass Merkel die deutsche Rolle in der EU nie klar bestimmt und auch nie gesagt hat, wo es mit der EU hingehen soll. Liegt in der Vollendung der europäischen Einheit der letzte Zweck deutscher Außenpolitik – oder ist die EU nur ein Vehikel, um die deutsche Vormacht in Europa zu stärken?
Die Austeritätspolitik ist Sünde 4:
Der deutsche “Sparkurs” richtete nicht nur in Griechenland große wirtschaftliche Schäden an … Er führte auch dazu, dass die Eurozone später als die USA oder UK aus der Finanzkrise kam und das Wachstum lange schwächelte. Der frühere EU-Kommissionsberater P. Legrain spricht von “zehn verlorenen Jahren”. Doch das ist noch nicht alles. Merkel sorgte auch dafür, dass das EU-Budget gekürzt wurde. Gemeinsam mit ihrem damals engsten Partner, dem britischen Ex-Premier D. Cameron, hat sie verhindert, dass Brüssel für immer mehr Aufgaben auch mehr Geld bekam.
Der fünfte Teil ist Merkels Merkantilismus, also eine
Wirtschaftspolitik, die möglichst viele Waren aus dem Land ausführen möchte und möglichst wenig Waren ins Land lässt.
Im Ergebnis schadete das der EU, denn sie
führt nicht nur zu “Ungleichgewichten”, die den Zusammenhalt der Eurozone gefährden, wie neuerdings sogar die EU-Kommission moniert. … Zum Ende der Ära Merkel wird zudem offensichtlich, dass auch Deutschland einen hohen Preis für seine Exportfixierung zahlt. Es wurde zu wenig investiert, die Infrastuktur liegt brach, die Produktivität leidet. … Der “Merkelismus”, diese merkwürdige Mischung aus Merkantilismus, Neoliberalismus und “Wait and see” – hinterlässt keine blühende Landschaften, sondern riesige Reformbaustellen.
Die Sünde 6 sind falsche Freunde (oder waren es für ihre Zwecke die richtigen?). Allein das reicht, um diese Kanzlerschaft als eine Chronik verborgener Schrecken zu charakterisieren. Ihre Komplizenschaft mit dem türkischen Sultan ist relativ vielen bekannt, aber anderes ist vielen nicht mehr oder noch gar nicht bewußt.
Der ungarische Premier wurde jahrelang gehätschelt, sein Land wurde zum wichtigen Glied in der Lieferkette der deutschen Autoindustrie. Ungarn durfte auch deutsche Waffen kaufen, zuletzt wurde das Land sogar zum Hauptabnehmer, noch vor den USA.
Orbans Fidesz-Partei war ein wichtiges Mitglied der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament. Merkel sträubte sich selbst dann noch gegen den Ausschluß der Fidesz, als Orban begann, die EU zu attackieren und den Rechtsstaat auszuhöhlen.
Deshalb geht Merkel nun in die Geschichte ein – als Kanzlerin, die tatenlos zusah, wie Ungarn in ein autoritäres Unrechts-Regime abglitt.
Sünde 7 ist der „Pragmatismus“ und das Fazit ist hart:
Denn der Preis der Merkel-Ära und ihrer Versäumnisse … wird hoch – auch für Deutschland. Die allzu pragmatische Kanzlerin hat so viele Baustellen und Hypotheken hinterlassen, dass wir noch 2050 an sie denken werden.
Und das nicht nur in der Klimapolitik…
Kann eine SPD-geführte Bundesregierung, also eine von einer Partei, die seit 1998 (!) bis auf vier Jahre stets Minister stellte, die Sünden und deren Folgen überwinden? Vieles deutet auf kein Ende mit Schrecken, sondern ein Schrecken, der noch nicht zu Ende ist. Für Deutschland kommen die Einschläge näher.
Fiskalunion oder Austeritätsunion?
piqer:
Jürgen Klute
Europapolitik spielt in den Wahlkampf-Debatten zur Bundestagswahl keine nennenswerte Rolle. Trotzdem hat der Ausgang der Wahl in Deutschland ganz erhebliche Folgen für die Zukunft der Europäischen Union.
Es geht um die Frage, ob die von der deutschen Bundesregierung im Rahmen der Euro-Krise mit hohem politischem Druck auf EU-Ebene durchgesetzte Sparpolitik nach dem Ende der Pandemie fortgesetzt wird – mit all ihren negativen Begleiterscheinungen. Dafür stehen CDU/CSU und FDP. Oder wird die im Grunde gescheiterte Austeritätspolitik angesichts der Herausforderungen durch die Klimakrise beendet und durch eine EU-Fiskalpolitik ersetzt. Dafür stehen SPD, Grüne und Linke.
Zwei Tage vor der Bundestagswahl hat Oliver Noyan in seinem Artikel für Euractiv an diese Kontroverse erinnert und die deutschen Befindlichkeiten und Positionen beschrieben. Die beiden Positionen der deutschen Politik finden Entsprechungen auf EU-Ebene. Die Vorliebe der konservativ-liberalen Seite für’s Sparen und Maßregeln vor allem südeuropäischer EU-Mitgliedsländer wird von einigen nordeuropäischen Regierungen unterstützt, die rot-grüne Option hingegen von einigen südeuropäischen.
Der Ausgang der Bundestagswahl 2021 entscheidet also tatsächlich nicht nur über die Zukunft der Bundesrepublik, sondern bedeutet auch eine Weichenstellung für die Europäische Union: Wird sie Opfer deutschen Sparwahns oder entwickelt die EU sich weiterhin zu einer politischen Größe, der es gelingt, für wirksamen Klimaschutz, sozialen Ausgleich und nicht-militärische Konfliktlösungen wenigsten im Inneren zu sorgen?
Lässt sich das Wirtschftswachstum von CO2-Emissionen entkoppeln?
piqer:
Thomas Wahl
Diese Frage stellen sich der Ökonom Guntram Wolff, Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel, und sein Kollege Simone Tagliapietra. Klar ist, in der Geschichte der Menschheit hat Wirtschaftswachstum immer zu höherem Verbrauch von Energie und natürlichen Ressourcen geführt. Und heute machen fossile Brennstoffe 80 Prozent des weltweiten Energiemixes aus.
Grundsätzlich gibt es bei wachsender Weltbevölkerung wahrscheinlich nur zwei Wege aus dem Dilemma – entweder man entkoppelt die globalen Emissionen vom Wirtschaftswachstum oder man beendet das Wachstum der Wirtschaft bzw. schrumpft sie sogar.
Basierend auf einer Analyse des Think Tanks „Can technology save us from degrowth?“ kommen die Autoren dort zunächst zu folgender Schlusfolgerung:
However, we do not see any likelihood that either advanced or developing economies would accept and implement the radical propositions embedded in the degrowth literature. We also do not think that it is in any way possible to manage degrowth without massive negative welfare effects. On the whole, this therefore points to green growth and the need to confront its current limitations.
Sie sehen die „Degrowth“-Diskussion als theoretische Debatte ohne realistische Chance auf eine Umsetzung. Weder die wohlhabenden und erst recht nicht die ärmeren Länder werden sich auf diese Option einlassen. Dazu kommt, das unklar bleibt, was „Degrowth“ konkret beinhalten sollte:
There is no exact definition of what ‘degrowth’ stands for. Authors are not always clear on exactly what should ‘degrow’. There are at least five different interpretations: degrowth of GDP, consumption, worktime, the economy’s physical size, or ‘radical’ degrowth, referring to a wholesale transformation of the economic system …. It is perhaps better to say that degrowth covers all these interpretations.
Wie auch immer: Wirtschaftswachstum ist grundlegend für Wohlstand, für einen Sozialstaat und für Zukunfts-Investitionen oder die Schuldentragfähigkeit. Und die Entkopplung ist schwierig:
Pursuing deep decarbonisation will be challenging. Annual global GHG (global greenhouse gas) emissions keep rising and show no sign of peaking. In 2019, they were 62 percent higher than in 1990, the year of the first Intergovernmental Panel on Climate Change report, and 4 percent higher than in 2015 when the Paris Agreement was signed… Even unprecedented circumstances such as the massive restrictions introduced to contain COVID-19 led only to a 6 percent drop in emissions in 2020, from which a quick rebound to pre-pandemic levels promptly followed.
Aktuelle Prognosen für das Bevölkerungswachstum und das Pro-Kopf-BIP signalisieren, dass die CO2-Emissionen pro Einheit des realen BIP weltweit im Durchschnitt um etwa neun Prozent pro Jahr sinken müssten, um bis Mitte des Jahrhunderts eine Netto-Null-Emission zu erreichen.
Zum Vergleich: Zwischen 1995 und 2018 sind die weltweiten Emissionen pro Einheit des realen BIP nur um 1,8 Prozent pro Jahr gesunken.
Also eine gewaltige Herausforderung und die Wissenschaft streitet, ob das gelingen kann.
Insgesamt hängt die endgültige Antwort auf die Frage, ob der Klimawandel bekämpft werden kann, ohne dass das Wirtschaftswachstum aufgegeben wird, von der Bereitschaft ab, die Klimaschutzmaßnahmen massiv zu verstärken. Es wird außerordentlicher Anstrengungen und massiver Investitionen in Technologien und Infrastruktur bedürfen, um die erklärten Klimaziele zu erreichen.
Was natürlich selbst ein Wachstumsprozess ist. Ein Weg könnte u.a. das sogenannte Konzept der Ökomoderne sein – die weitgehende Entkopplung der Gesellschaft von der Natur.
Ökosysteme werden in der Regel nicht dadurch geschützt oder verbessert, dass die Menschheit, im Hinblick auf Ernährung und Wohlstand, immer abhängiger von diesen Systemen wird.
Dazu sind auch erhebliche Verhaltensänderungen erforderlich. Besonders in Sektoren,
die schwieriger zu dekarbonisieren sind, wie Flugverkehr, Landwirtschaft und Landnutzung, … Verhaltensänderungen können auch die Kosten des grünen Übergangs senken: Die Europäische Kommission schätzt, dass durch Verhaltensänderungen die zusätzlichen jährlichen Investitionen, die erforderlich sind, um den Netto-Nullpunkt zu erreichen, um ein Drittel reduziert werden könnten.
„Grünes Wachstum“, da stimmen internationale Organisationen und Regierungen laut Studie überein, bedarf also einerseits ökologischen Fortschritts durch vermiedene Klimaschäden und andererseits wirtschaftlicher Vorteile durch hohe Investitionen und Innovationen.
Regulierung ist für den Schutz der Natur unverzichtbar
piqer:
Ole Wintermann
Ein großes Problem beim Kampf gegen den Klimawandel ist die Frage, in welcher Weise der bisher nicht berücksichtigte Produktionsfaktor “Natur” (z. B. die monetäre Bedeutung von Schilf als Säuberungsleistung der Natur für Flusswasser) stärker in die Kalkulation der negativen externen Effekte unsere Produktions- und Konsumweise einbezogen werden kann.
Grundsätzlich sind sich Forscher und progressive Ökonomen inzwischen einig, dass die Schäden an der Umwelt schon seit langer Zeit ein Wirtschaftswachstum vorgaukeln, das so gar nicht stattfindet. Kurz und einfach ausgedrückt: Wir wachsen uns im Grunde genommen kaputt.
„We have increased economic growth at the expense of nature.“
Viele Ökonomen und Umweltwissenschaftler sind inzwischen der Meinung, dass dieser Schaden ganz konkret bewertet werden muss, um die „Sprache” der Politik und Wirtschaft zu sprechen und diesen das Problem somit besser nahebringen zu können.
Die größte Herausforderung ist es aber, einen Preis für die Schäden an der Natur oder die auf den ersten Blick unsichtbaren Leistungen der Natur zu finden, wenn es dafür – in den meisten Fällen – keinen Markt gibt. Somit geraten beispielsweise regionale kulturelle Aspekte mit in den Blick, die aber natürlich in ihrem Implikationen indirekt auf dem Weltmarkt Auswirkungen auf Produktion und Konsum haben können. Diese Sekundäreffekte müssten eigentlich auch Eingang finden in die Bewertung der Natur-Leistungen.
„Some $44 trillion (37 trillion euros) of annual economic value generation—half of the world’s gross domestic product.“
Kritiker des Bewertungsansatzes bringen das Argument vor, dass es unethisch ist, der Natur erst dann einen Schutz zu gewähren, wenn sich deren Beitrag in Geld aufwiegen lässt. Die Lösung liegt aus Sicht der Kritiker des Marktansatzes in der Regulierung, da der Markt nicht fähig ist, einen absoluten Schutzstandard zu setzen:
„We need to regulate, make practices illegal and invest in green infrastructure and biodiversity (..) Valuing nature (..) gives everybody the same information but it doesn’t guarantee that everyone will make the decision to protect nature.“
Die hohen Kosten medizinischen Fortschritts
piqer:
Hristio Boytchev
Der Artikel fasst anhand des Buchs You Bet Your Life: From Blood Transfusions to Mass Vaccination, the Long and Risky History of Medical Innovation des Impfstoffexperten Paul A. Offit die riskante und opferreiche Geschichte medizinischen Fortschritts zusammen.
Der Artikel macht deutlich, welches Leid frühere Experimente teils verursacht haben und warum deswegen klinische Forschung heutzutage streng reglementiert ist. Klar ist aber auch, dass diese Geschichte nicht vollständig überwunden ist. Einerseits gibt es immer wieder erschütternde Medizinskandale – wie zum Beispiel, als Querverweis auf meinen Piq vom Anfang das Monats, das Unternehmen Theranos, das irreführende Bluttests auf den Markt gebracht hat. Andererseits leidet auch das Medizinsystem und die gesamte öffentliche Gesundheit unter den Skandalen und Fehlern der Vergangenheit und dem damit verbundenen Vertrauensverlust.
Harm to a few can result in harm to many, if the erosion of trust means that people opt out of preventions or treatments. For example, in 1956 in the United States alone, polio paralysed 15,000 unvaccinated people because of vaccine hesitancy in the wake of the Cutter incident.
Sadly, medical history is repeating itself. As Offit concludes, people are much more fearful of doing something that has a minuscule chance of causing them harm, such as having a COVID-19 vaccine, than they are of not doing something that is likely to result in harm — such as remaining unprotected from a virus that has killed millions of people in less than two years.
Maja Göpel blickt auf den deutschen Wahlkampf zurück
piqer:
Tino Hanekamp
Die Theaterregisseurin und Autorin Angela Richter spricht mit der Transformationsforscherin Maja Göpel über den deutschen Wahlkampf, in dem so schamlos gelogen wurde wie selten zuvor. Ein angenehm ruhiges und sachliches Gespräch und eine interessante Nachlese, jetzt, wo die Stimmen gezählt sind. Vor allem aber auch ein Ausblick darauf, wie es beim nächsten Mal besser laufen könnte.
Dass Politiker unangenehmen Wahrheiten ausweichen, gab es schon immer. Dass nun aber offen und oft unwidersprochen Unwahrheiten gesagt werden, ist im Wahlkampf besonders grell sichtbar geworden. Wie kann verhindert werden, dass das der neue Standard wird?
Die Welt hat sich seit der Verabschiedung der Menschenrechtscharta deutlich verändert. Wir brauchen neue individuelle Grundrechte und die Möglichkeit, sie auch auf europäischer Ebene einzufordern. Deshalb unterstütze ich die Kampagne von Ferdinand von Schirach, die genau dies fordert.
Was genau?
Zum Beispiel das Recht auf eine intakte Umwelt. Oder das Recht, nicht von Algorithmen ausspioniert zu werden. Eines war in der öffentlichen Debatte über diese Kampagne besonders umstritten: das Recht auf Wahrheit. Dass wir ein Recht darauf haben sollen, dass in politischen Ämtern die Wahrheit gesagt wird. Wie soll das denn bitte gehen, hiess es. Wir haben das ein halbes Jahr diskutiert, darüber auch mit Juristinnen gesprochen – und der Punkt ist folgender: Es geht nicht darum, nie Informationen vorzuenthalten oder auch mal eine Lüge verwenden zu dürfen. Es geht um das systematische Lügen als Strategie. Wir konnten in den USA sehr gut beobachten, was mit einer Demokratie passiert, wenn der Faden zwischen realem Geschehen und den Aussagen von Amtsträgerinnen reisst.
Wir sollten ein Recht haben auf Fakten? Auf Transparenz?
Es geht nicht darum, dass man in Fragen der nationalen Sicherheit Staatsgeheimnisse offenlegt. Es geht darum, dass in dem Moment, wo ein Politiker an die Öffentlichkeit tritt, ich mich darauf verlassen kann, dass er mich nach bestem Wissen und Gewissen informiert und nicht einfach Sachen erfindet. Die Offensichtlichkeit der Lügen bei einigen prominenten Kandidatinnen im Wahlkampf hat mich da wirklich sehr verstört.
…
Wenn Sie für die Zeit nach der Wahl in Deutschland eine Utopie formulieren müssten, wie würde sie lauten?
Die Hoffnung, dass wir aufhören, uns gegenseitig die Schuld zuzuschieben, und stattdessen sagen: Lasst uns die veralteten Strukturen ändern, dann können wir auch gemeinsam wieder nach vorne kommen. Dass wir wirklich auf die kulturell, sozial und ökologisch destruktiven Strukturen schauen und sie integrativ, partnerschaftlich, kooperativ und chancengerecht neu ausrichten. Dass wir aus einer systemischen Perspektive heraus sagen: Lasst uns mit rechts, links, grün, rot, oben, unten, mit diesen vorgefertigten Meta-Konzepten wie Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus aufhören und ganz konkret die Überzeugungen, Anreize, Beziehungsmuster, Regeln und Institutionen transformieren, die ein wertschätzendes und regeneratives Wirtschaften und Zusammenleben künstlich schwer machen. Dass wir also fragen: Welche Lösungen dienen dem Schutz des Lebendigen, der Diversität und der Versorgungssicherheit – und nicht dem Mammon, der technischen Machbarkeit und der Macht?
Eine kurze Geschichte der deutschen Umweltpolitik
piqer:
Ralph Diermann
Vor fünfzig Jahren hat die damalige sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt das erste Umweltprogramm der deutschen Politik verabschiedet. Es enthält zwei Grundsätze, die uns heute selbstverständlich erscheinen, in dieser Zeit aber durchaus revolutionär waren: das Verursacherprinzip und das Vorsorgeprinzip. Wer Schadstoffe emittiert, ist dafür haftbar – und der Staat muss einschreiten, bevor Probleme entstehen.
SZ-Redakteur Michael Bauchmüller nimmt dieses Jubiläum zum Ansatz, einen Blick zurück zu werfen auf die deutsche Umweltpolitik der vergangenen Jahrzehnte, vor allem auf die Frühphase in den Siebziger Jahren. Da gibt es Bemerkenswertes zu berichten. Zum Beispiel, dass die FDP damals der Motor der Umweltpolitik war: Im sozialliberal ausgerichteten Grundsatzprogramm von 1971, den Freiburger Thesen, forderte die FDP, den Schutz der Umwelt prominent in der Verfassung zu verankern. „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen“, zitiert Bauchmüller aus dem Programm.
Außerparlamentarischen Druck gab es damals nicht, so der SZ-Redakteur – nicht Umweltgruppen, sondern ein Zirkel von FDP-Leuten im Innenministerium habe den Umweltschutz auf die Agenda in Deutschland gesetzt. Die Gesellschaft war so blank in dieser Frage, dass die Regierung einen Posten „Unterstützung von Bürgerinitiativen für ein neues Umweltbewusstsein“ in den Bundeshaushalt aufnahm. Als Aktivisten gegen den Ausbau der Frankfurter Flughafens den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) gründeten, trug das Innenministerium die Reisekosten für die Zusammenkunft.
Mit Ölpreisschock, Rezession und der Amtsübernahme von Helmut Schmidt endete der bundespolitische Aufbruch aber schnell. Die neue SPD-FDP-Regierung verstand Ökologie und Ökonomie als Gegensatz – was der Umweltbewegung enorm Auftrieb gab.
Besserer Arbeitsschutz in Kalifornien infolge neuer Regulierung
piqer:
Ole Wintermann
Der Staat Kalifornien hat in der Vergangenheit ja schon vielfach bewiesen, wie seine Regulierung der Auto-Abgaswerte Innovationen vorantreiben kann. Nun geht der Staat wieder voran. Er verabschiedet ein Gesetz zum besseren Arbeitsschutz von Beschäftigten, die einer durch Algorithmen bestimmten Arbeitsweise unterliegen (zum Zeitpunkt des Textes war der formale Akt der Unterschrift noch nicht abgeschlossen; inzwischen wurde die Unterschrift jedoch geleistet). Damit zielt das Gesetz unmittelbar auf das Unternehmen Amazon.
Mitausgelöst und unterstützt hatte die Gesetzesinitiative der Fall einer bei der Arbeit bei Amazon verletzten Beschäftigten. Im Zuge dessen herausgekommen war, in welch weitgehender Weise die Algorithmen bei Amazon die Beschäftigten überwachen helfen. So wurden bei Amazon jegliche Tätigkeiten, die nicht unmittelbar der Produktivität dienten, von der Arbeitszeit abgezogen. Hierzu zählten vor allem der Gang zur Toilette, der aufgrund der riesigen Lagerhallen schon mal 15 Minuten dauern kann. Hinzu wurden Tätigkeiten wie reines Verschnaufen nach dem Tragen schwerer Lasten oder Wischen des unmittelbaren Arbeitsplatzes in kleinsten Zeiteinheiten von der Arbeitszeit abgezogen.
Das neue Gesetz sieht nun vor, dass Arbeitgeber neuen Beschäftigten die Produktivitätsberechnungen und die negativen Sanktionen bei Nicht-Einhalten der Vorgaben offenlegen müssen, dass der Gang zur Toilette die Produktivität nicht negativ beeinflussen darf, dass Dehnübungen am Arbeitsplatz zur Arbeitszeit zählen und dass Beschäftigte ihre eigenen Daten der letzten 90 Tagen einsehen dürfen. Zudem muss der staatlichen Behörde Zugang zu diesen Daten gewährt werden.
Die Arbeitgeberseite hatte im Vorfeld der Verabschiedung mit der Abwanderung der Unternehmen gedroht (was auch sonst?). Gewerkschaften hoffen, dass sich die Bundesregierung die Regelung des Staates zum Vorbild für eine bundesweite Regelung nimmt.
Habt ihr auch gerade das Bild von Herrn Bezos vor Augen, als er stolz vor der Rakete steht, die ihn in den „Weltraum“ bringt?