In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Ein wichtiger Grund für Ungleichheit: Outsourcing
piqer:
Christian Odendahl
Beim Nachforschen zu meinem Stück zu den deutschen Hartz-Reformen kam ein Aspekt immer wieder auf, wie Unternehmen Kosten gesenkt haben, auch wenn er mit den Hartz-Reformen kaum etwas zu tun hat: Outsourcing.
Dieser Text geht anhand von Hausmeistern bei Kodak in den 80ern und Apple heute der Frage nach, wie sich die Zeiten verändert haben. Damals gehörten die Mitarbeiter der Kantine, des Sicherheitsdienstes und viele mehr selbstverständlich zur Belegschaft, mit ordentlichem Gehalt und einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Hausmeisterin bei Apple nicht spürt, ja noch nicht mal die Subunternehmer, die Software testen.
One former Apple contractor recalled spending months testing a new version of Apple’s operating system. To celebrate the release, the Apple employees they’d worked closely with on the project were invited to a splashy party in San Francisco, while the contractors had beers among themselves in a neighborhood pub.
Worum geht es beim Outsourcing? Um „Kernkompetenzen“ oder Effizienz, also darum, dass Unternehmen sich auf das konzentrieren sollen, was sie am besten können und den Rest anderen überlassen, wie oft argumentiert wird? Zum Teil.
But as more companies have outsourced more functions over more time, a strong body of evidence is emerging that it’s not just about efficiency. It seems to be a way for big companies to reduce compensation costs. … [A study] found that the drop in big companies’ practice of paying relatively high wages to their low- and mid-level workers could have accounted for 20 percent of the wage inequality increase from 1989 to 2014.
Es ist eine sehr gute Reportage aus zwei verschiedenen Welten. Eher ein Longread, aber sehr lohnenswert und gut verständlich geschrieben. Und es ist food for thought für das nächste Mal, wenn wir über einem von Deliveroo gebrachten Sushi über Ungleichheit und die Ausbeutung von Dienstleistern diskutieren.
PS: Text ist von September, aber vielleicht haben ihn ja manche noch nicht gelesen.
Rettet der IWF den Kapitalismus vor den Rechtsnationalen?
piqer:
Antje Schrupp
Unter seiner Chefin Christine Lagarde nimmt der Internationale Währungsfond zunehmend Abstand von seiner früheren Politik. Beim IWF-Jahrestreffen kürzlich in Washington las Lagarde den Finanzministerinnen und Zentralbankern der 142 Mitgliedstaaten geradezu die Leviten: Sie müssten entschiedener das Problem der materiellen Ungleichheit angehen, da sie das wirtschaftliche Wachstum hemme, Vertrauen zerstöre und politische Spannungen erzeuge. Es müsse mehr in Ausbildung und Gesundheit investiert, höhere Steuern für Reiche und bessere Soziale Absicherungen eingeführt werden.
Dieser Artikel analysiert mögliche Gründe für diesen Wandel: Erstens sei der IWF Hüter des globalen Kapitalismus, während viele Staaten zunehmend egoistische, nationalistische Interessen verfolgen. Zweitens arbeite der IWF auf wissenschaftlicher Basis und sei lernfähig – und damit in der Lage zu erkennen, dass viele seiner Maßnahmen in der Vergangenheit schlicht gescheitert sind.
Ist der IWF also der Retter des Kapitalismus vor den Rechtsnationalen? Nachdenkenswertes Stück auf jeden Fall.
Sollte Deutschland eine Art norwegischen Ölfonds für die Rente auflegen?
piqer:
Christian Odendahl
Die Grünen gehen mit einer interessanten Idee in die Koalitionsverhandlungen: die Auflage eines staatlichen ‚Bürgerfonds‘, der die Geldanlage für die Altersvorsorge deutlich vereinfachen soll. Jeder zahlt in diesen Topf ein, und der Fonds wird wie der norwegische Ölfonds professionell und nach vorher festgelegtem Mandat verwaltet. Die Rendite des norwegischen Ölfonds, knapp 6% nominal, ist auf jeden Fall besser als die jedes Riestersparplans.
Helmut Reisen ist skeptisch. Nach einer etwas lang geratenen Einleitung geht es ans Eingemachte: wie werden sich Kapitalrenditen (wichtig für kapitalgedeckte Rente) und Reallöhne (wichtig für unser öffentliches Umlagesystem) in Zukunft entwickeln? Reisen hat auf Grund seiner früheren Tätigkeit bei der OECD den Blick statt auf Europa auf die ganze Welt gerichtet. Das ist wichtig, denn er sagt: die Zeit des Überschusses an billigen Arbeitskräften auf der Welt ist vorbei, China war ein einmaliger Effekt, der Löhne unter Druck gesetzt und Zinsen gedrückt hat.
Nun gehe es in die andere Richtung: Knappheit an Arbeitern. Löhne werden also steigen, Firmen werden mehr investieren wollen um zu rationalisieren, immer mehr Rentner wollen aber ihre Erspartes verbrauchen. Weniger Ersparnisse bei höherer Kapitalnachfrage = steigende Zinsen. Bei höheren Zinsen sind aber, und hier kommt der Bürgerfonds, existierende Wertpapiere weniger wert. Bürgerfonds jetzt auflegen? Schlechte Idee, sagt Reisen, denn die Rendite wird mager sein, ganz im Gegensatz zur „Rendite“ im lohnbasierten Umlagesystem.
Ich zögere etwas. Ich kenne Reisens Argument gut, habe schon früher zu dem Thema gepiqd. Aber ich würde es da mit einem alten Grundsatz der Geldanlage halten: Diversifikation. Denn wir sind alle Ökonomen, und wissen über die Zukunft (wenn wir ehrlich sind) ziemlich wenig. Ein Mix aus Umlagesystem und kapitalgedeckter Altersvorsorge scheint mir am besten. Gerne in der Form eines norwegischen Ölfonds, in den ich einzahlen kann.
Auf der Suche nach dem schwer zu fassenden Trump-Wähler – Liberale auf Zuhör-Tour
piqer:
Elisabeth Dietz
Die USA erscheinen immer mehr wie ein politisches Trümmerfeld, in dem die Überlebenden des letzten Wahlkampfs einander unversöhnlich bekriegen, während einige von ihnen versuchen, eine einsturzgefährdete Demokratie aufrecht zu erhalten. Mit Blick auf die Zwischenwahlen in 2018 versuchen nun die „liberalen Eliten“ (das ist ein Schimpfwort) zu verstehen, warum so viele ihrer Landsleute Trump gewählt haben. Sie fahren also ins Heartland mit der festen Absicht, einfach nur zuzuhören.
Molly Ball begleitet Mitglieder des Think Tanks Third Way auf eine Reise nach Wisconsin, eines jener Länder, das sie sonst auf dem Weg von einer Küste zur anderen überfliegen. Third Way steht für eine progressive, neoliberale Politik leicht links der US-amerikanischen Mitte: pragmatisch, gemäßigt, sozialliberal, aber unternehmensfreundlich, und für einen schlanken Staat. Es ist die Politik, mit der Hillary Clinton die Wahl verlor.
Die Aktivist*innen von Third Way stellen neutrale, offene Fragen und hören einfach nur zu. Am Anfang der Reise sind sie sicher, dass sie vernünftige, kluge, patriotische Amerikaner vorfinden werden, eine Nation von Menschen, die wirklich miteinander auskommen wollen. Molly Ball beobachtet, wie sie diese Illusion Stück für Stück verlieren und dennoch zu einem überraschenden, ja schockierenden Ergebnis kommen. Sie erzählt eine faszinierende Geschichte über Idealismus und Selbstbetrug.
Die Globalisierung lässt nicht Menschen zurück, sondern Regionen
piqer:
Christian Odendahl
Die Globalisierungsdebatte dreht sich, nach Trump, Brexit und Co., um die Frage, wie man mit den Verlierern umgehen soll. Ich finde diese Frage aus zwei Gründen problematisch.
1. Wer möchte schon Verlierer genannt werden? Almosen wollen die meisten Menschen eben nicht, sondern Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Leben, Autonomie, oder wie man im Englischen hier sagen würde, agency.
2. Ist der Fokus auf das Individuum der richtige? Kann man damit das Problem wirklich angehen, wenn Globalisierung und technischer Fortschritt nicht eher ganzen Regionen zu schaffen machen?
Daher fand ich diesen analytischen Text im Economist so hilfreich. Er ist lang und voll von interessanten Informationen. Er zeigt, wie die alte ökonomische Schule von der allmählich Konvergenz zwischen reichen und armen Regionen so langsam zerbröselt.
Between 1990 and 2010 the rate of economic convergence across American states slowed to less than half what it had been between 1880 and 1980. It has since fallen close to zero. Rich cities started pulling away from less well-off counterparts.
Warum ist das so? Der Text stellt ein paar Thesen vor, wie diese:
Diffusion of technology from top firms in one country to laggard firms in the same country has slowed down. … The rise of superstar firms means that fewer places are home to businesses operating at the productivity frontier and that domestic investment is lower than it should be. In less dynamic local markets, nonsuperstars seem neither willing nor able to adopt the best technology.
Zudem geht es noch um Migration (gut oder schlecht? Ostdeutschland wird als Beispiel nicht besprochen, fällt aber jedem glaube ich beim Lesen ein), um Regionalpolitik und EU-Fördertöpfe (die mehr schlecht als recht funktionieren), wie man neue Industrie-Cluster aus dem Boden stampft, und einiges mehr. Sehr lesenswert, und sehr wichtig, in meinen Augen.
China stellt den liberalen Kapitalismus in Frage
piqer:
Achim Engelberg
Der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas ist ein Ereignis über das überall berichtet wird.
In den letzten beiden Jahrzehnten veränderte China die Gewichte in der Welt. Noch 1995 machten die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Fernost nur 27 Prozent des Weltverkehrs aus, heute sind es schon 42 Prozent. Mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße wird es aller Voraussicht nach steigen.
Sebastian Heilmann, Direktor des Mercator Instituts für Chinastudien (MERICS), äußert sich über mögliche Ergebnisse des 19. Parteitages:
Die derzeitige Entwicklung Chinas unter Xi Jinping hin zu einer effizienten, aber autoritären Big-Data-Ökonomie stellt liberal-marktwirtschaftliche Systeme vor fundamentale Herausforderungen. Europa etwa droht bei der Entwicklung digitaler Technologien und Anwendungen abgehängt zu werden. Insgesamt werden sich die Reibungen zwischen China und der EU in der Digitalwirtschaft und im Cyberspace verstärken, während Chinas Digitalpolitik für andere autoritäre oder halb-autoritäre Länder ein Modell werden könnte.
Aufschlussreich ist nicht nur das kurze, aber instruktive Interview, sondern die ganze Webseite, die viel Material liefert und Antworten liefert auf zentrale Fragen:
- Wie ist das Verhältnis zwischen Parteispitze und Basis?
- Welche Bedeutung haben die Freihandelszonen?
- Wie stark wächst der High-Tech-Sektor in China?
Dabei wird eine solide Basis für Diskussionen geschaffen und der Öffentlichkeit – was wenig bekannt ist – weitgehend kostenlos zur Verfügung gestellt.
Die Ergebnisse des von der Mercatorstiftung finanzierten, also liberalen Instituts werden indirekt von OXI, das der Linkspartei nahesteht, aufgenommen. Es wird nach einem Vierteljahrhundert wieder über Planwirtschaft unter stark veränderten weltpolitischen und ökonomischen Bedingungen diskutiert:
Migranten, Menschenhändler und Millionen aus Europa: Eine Reise durch das afrikanische Drama
piqer:
Jannis Brühl
Du denkst, du verstehst die aktuelle Flüchtlingssituation? Tust du nicht, wenn du dieses Textpaket nicht gelesen hast. Die Textreihe „Europe Slams its Gates“ von Foreign Policy spannt den ganz großen Bogen zum Thema, aber nicht aus der Ferne als Kommentar oder Essay, sondern als 9-teilige, analytische Reportage-Serie von den Schauplätzen Mali, Niger, Libyen, Senegal, Deutschland.
Die Reporter fügen der wichtigsten Geschichte unserer Zeit die Teile hinzu, die fehlen beim Streit über Rettungsaktionen im Mittelmeer und Debatten über Obergrenzen (und die mittlerweile anders als 2015 in der Hysterie durch/über nationalistische Parteien untergehen): die Perspektivlosigkeit junger Afrikaner, das wilde Geschäft der neuen Menschenhändler – und wie der Exodus, die Schlepperei und die Rücküberweisungen aus Europa einen halben Kontinent prägen.
Im Mali steht eine Nussfabrik still, die von der EU bezahlt wird. Das Projekt frustriert statt zu helfen, die jungen Männer wollen jetzt erst recht weg.
In der Schmugglerstadt Agadez im Niger, sind die Wüstennachtclubs ausgestorben, denn das Schlepper-Business hat sich verlagert. Die EU hat Druck auf die Regierung gemacht, die Schlepper zu stoppen. Wie alle Verbotsregime begünstigt aber auch dieses die, die das höchste Risiko eingehen. Sie fahren jetzt nachts, ohne Lampen durch Minenfelder Richtung Libyen, in denen es regelmäßig Schmuggler wie Migranten zerfetzt. Wenn die Armee kommt, setzen sie die Menschen in der Wüste aus.
Auch in Libyen sind Menschen eine Ware. Die EU, die den Schleppern, die zuvor mit dem Übersetzen nach Europa reich wurden, das Handwerk legen wollte, hat unfreiwillig einen neuen Sklavenmarkt geschaffen: Der „detention-industrial complex“ wird befeuert von den 100 Millionen Dollar, die sich Kämpfer und Kriminelle aus Europa versprechen, um die Afrikaner zurückzuhalten. Um die Absurdität noch zu steigern, werden in den Lagern auch Ausländer eingesperrt, die gar nicht nach Europa wollen und legal zum Arbeiten in Libyen sind. Die Milizen sperren einfach jeden ein, der schwarz ist.
Spannend auch die Geschichte von Mohammad aus Senegal – über die Schmach, die jene erleiden, die es nicht geschafft haben, nach Europa zu gelangen und zurückkehren. Der Text endet mit der deutschen Debatte über Entwicklungshilfe, Deals mit Diktatoren, Verhütungsoffensiven (könnte letzteres mal größer diskutiert werden? Ziemlich out seit den 70ern). Und mit der Erkenntnis, dass Europa droht, am Flüchtlingsthema seine Seele zu verlieren.