Es gibt kaum einen Ökonomen, der bestreiten würde, dass eine hohe Unsicherheit eher schlecht für die wirtschaftliche Entwicklung ist. Und das Wort Unsicherheit hört man in letzter Zeit ziemlich häufig (wegen Brexit, Trump usw.). Aber wie „unsicher“ im ökonomischen Sinne die Zeiten wirklich sind, ist naturgemäß schwer zu quantifizieren – schließlich ist Unsicherheit wie jedes andere Gefühl eine sehr subjektive Angelegenheit.
Die US-Ökonomen Scott Baker, Nick Bloom und Stephen Davis versuchen seit einigen Jahren, genau dies zu tun. Ihr „Economic Policy Uncertainty Index“ (EPU) misst, wie groß die ökonomische Unsicherheit in verschiedenen Ländern oder Regionen ist. Die EPU-Indizes sind inzwischen so populär, dass sie es sogar in die heiligen Hallen der FRED-Datenbank der Federal Reserve Bank von St. Louis geschafft haben und in weiteren Forschungsarbeiten verwendet worden sind (eine sicherlich nicht vollständige Liste ist hier zu finden).
Der EPU basiert auf drei Komponenten: Es wird gemessen, wie oft verschiedene Begriffe in ausgewählten Zeitungen in Verbindung mit den Schlagwörtern „Unsicherheit“ oder „unsicher“ vorkommen. Außerdem wird ermittelt, wie viele Steuergesetze in den nächsten zehn Jahren auslaufen. Die dritte Komponente misst, wie stark die ökonomischen Prognosen verschiedener Institute voneinander abweichen. Allerdings gilt diese Vorgehensweise nur für den USA-Index. Für andere Länder wird lediglich die erste Komponente, die Schlagwort-Analyse verschiedener Zeitungen, herangezogen. Der Economic Policy Uncertainty Index ist außerhalb der USA also eher ein Index für die medial verbreitete Unsicherheit.
Wie ist es nun um die mediale Unsicherheit in der Welt bestellt? Der weiter unten folgende Chart zeigt die EPUs für die USA, Europa und China, die drei größten Wirtschaftsräume der Welt. Wichtiger Hinweis vorab: Die einzelnen EPUs sind hinsichtlich ihrer konkreten Höhe nicht miteinander vergleichbar. Denn für Europa wird beispielsweise ein anderer Basiswert als für die USA zugrunde gelegt. Das heißt, dass der Europa-Wert von aktuell 280 nicht bedeutet, dass die Unsicherheit deutlich höher ist als in den USA (aktuell: rund 120). Wir haben die verschiedenen EPUs dennoch in einen Chart gepackt, um zu ermöglichen, die jeweiligen Trends miteinander zu vergleichen.
Es ist ziemlich bemerkenswert, dass die auf Basis von Medienberichten ermittelte ökonomische Unsicherheit derzeit in den USA historisch gesehen ziemlich niedrig ist – und dass, obwohl sich das Land nur einen Monat vor der Präsidentschaftswahl befindet, aus der Donald Trump nach wie vor durchaus als Sieger hervorgehen könnte. Die Folgen des Lehman Crashs oder der Shutdown 2013 haben jedenfalls laut EPU für mehr ökonomische Unsicherheit gesorgt.
Dagegen befinden sich die Indizes für China und Europa tatsächlich auf historischen Höchstständen. Der China-Wert ist allerdings mit großer Vorsicht zu genießen. Denn er basiert ausschließlich auf der Auswertung einer einzigen Zeitung: Der South China Morning Post (SCMP), die zudem auch noch in Hong Kong beheimatet ist (was im Umkehrschluss aber auch nicht heißt, dass der Indikator nicht zutreffend ist).
Brexit und German Angst
Die hohe Unsicherheit in Europa ist in erster Linie dem britischen Brexit-Referendum aus dem Juni geschuldet. Der Europa-EPU stieg seit Jahresbeginn kontinuierlich an und hat sich seitdem nicht wirklich erholt.
Allerdings lohnt es, einen genaueren Blick auf die fünf europäischen Länder zu werfen, aus denen sich der Index zusammensetzt. Diese sind die größten fünf europäischen Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien. Für jedes Land berücksichtigt der Index die Berichte von zwei ausgewählten Zeitungen, in Deutschland die des Handelsblatts und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Erwartungsgemäß ist der EPU für Großbritannien im Zuge des Brexit-Referendums auf ein neues Rekordhoch geklettert. Auch dass Spanien derzeit ein relatives hohes Niveau aufweist, ist angesichts der politischen Lage nicht wirklich verwunderlich (seit fast einem Jahr gibt es keine Regierung). In Frankreich steigt der EPU auch kontinuierlich, was sich neben dem Brexit-Faktor auch durch die verschiedenen Terroranschläge, den immer stärker Fahrt aufnehmenden Präsidentschafts-Wahlkampf und die politischen Unruhen im Zuge der Arbeitsmarktreformen erklären lässt.
Erstaunlich wird es, wenn man sich Italien und Deutschland anschaut. In Italien ist die Unsicherheit derzeit sehr niedrig – obwohl das Land in nicht mal zwei Monaten ein richtungsweisendes Referendum abhalten wird. Dagegen ist die Unsicherheit in Deutschland derzeit in etwa so hoch wie zuletzt im Herbst 2011, als der damalige griechische Premierminister Papandreou angekündigt hatte, ein Referendum über den Verbleib Griechenlands in der Eurozone abzuhalten (was er aber wenig später wieder zurücknahm).
Natürlich kann man einwenden, dass die Methodik der europäischen EPUs aufgrund der geringen Stichprobengröße (nur zwei Zeitungen pro europäischem Land) stark angreifbar ist. Und sicherlich sind Handelsblatt und FAZ auch nicht ganz unverdächtig, bei wichtigen Wirtschaftsereignissen wie etwa der Eurokrise oder der EZB-Geldpolitik gelegentlich eher zum Hyperventilieren als zum Analysieren zu neigen und somit das Bild etwas verzerren.
Aber irgendwie wird man dennoch den Eindruck nicht los, als wenn die Unsicherheit über die wirtschaftliche Zukunft momentan tatsächlich extrem hoch ist. Dafür kann es dann eigentlich nur zwei Erklärungen geben: Vielleicht ist die Lage ja tatsächlich unsicherer als nach dem 11. September oder der Lehman Brothers-Kernschmelze, als während des Irak-Kriegs oder auf dem Höhepunkt der Eurokrise. Das wäre dann wirklich problematisch, weil diese Unsicherheit dazu führen dürfte, dass sich die ökonomischen Realitäten tatsächlich weiter eintrüben.
Oder aber wir und unsere Medien sind in einer Art Depressions- und Angst-Modus gefangen, in dem ein wenig die Verhältnismäßigkeit abhandengekommen ist. Dann sollten wir uns vielleicht mal wieder ein wenig lockermachen und akzeptieren, dass eine gewisse Unsicherheit einfach dazugehört.