Kosten der Flüchtlingskrise

Brutto ist nicht gleich netto

Immer wieder geistern neue Zahlen zu den Kosten der Flüchtlingskrise durch die Medien. Was dabei viel zu oft zu kurz kommt: Den staatlichen Mehrausgaben stehen immer auch höhere Einnahmen an anderer Stelle gegenüber.

Notunterkunft für Flüchtlinge: Die Kosten der Flüchtlingswelle sollten nicht isoliert von den daraus entstehenden Einnahmen betrachtet werden. Foto: Pixabay.

Am Montag geisterten mal wieder neue Schätzungen zur Flüchtlingskrise durch die Nachrichten: „Studie beziffert Kosten der Flüchtlingskrise auf 50 Milliarden Euro“ hieß es etwa bei Spiegel Online, bei der FAZ ließ man den Studien-Verweis gleich ganz weg („Flüchtlinge kosten Deutschland bis 2017 rund 50 Milliarden Euro“). Aber kosten sie das wirklich? Oder nicht vielleicht mehr oder weniger?

Grundlage für die Meldungen war eine neue Studie des arbeitgebernahen Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Darin heißt es unter anderem: „Steuergelder in erheblichem Umfang sind erforderlich, um den Flüchtlingen Unterkunft und Verpflegung sowie eine Perspektive zur Integration bieten zu können. Das verschärft den Druck auf die öffentlichen Kassen.“

In ihren Berechnungen gehen die IW-Forscher von folgenden Annahmen aus: Im laufenden Jahr werden für die Unterbringung und Verpflegung von rund 1,5 Millionen Asylbewerbern 17 Milliarden Euro anfallen. Hinzu kämen fünf Milliarden Euro für Sprach- und Integrationskurse. 2017 dürften sich laut IW die Unterbringungskosten auf 22,6 Milliarden Euro erhöhen – unter der Annahme, dass die Zahl der Flüchtlinge auf 2,2 Millionen steigt. Zusammen mit den Integrationskosten fielen 2017 also 27,6 Milliarden Euro an. Zusammengenommen kosten „die“ Flüchtlinge also die genannten 50 Milliarden Euro bis Ende kommenden Jahres.

Die Zahlen sind nicht wirklich neu oder überraschend, die IW-Prognose liegt in einer ähnlichen Größenordnung wie eine Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und das Jahresgutachten des Sachverständigenrates. Die Wirtschaftsweisen prognostizierten, „dass die Flüchtlingsmigration zu direkten jährlichen Bruttoausgaben für die öffentlichen Haushalte in Höhe von 5,9 bis 8,3 Mrd Euro im Jahr 2015 und 9,0 bis 14,3 Mrd Euro im Jahr 2016 führt. Angesichts der guten Lage der öffentlichen Haushalte sind diese Kosten tragbar. Längere Asylverfahren und eine schlechtere Arbeitsmarktintegration dürften die Kosten merklich erhöhen.“ Die Kieler Ökonomen waren noch zu deutlich höheren Werten gekommen, allerdings gab es bei ihnen auch eine erhebliche Bandbreite der geschätzten Kosten: Von 22 Milliarden Euro „im günstigsten“ bis hinauf zu 55 Milliarden „im ungünstigsten Fall“.

Es geht hier gar nicht um die Tatsache, dass das erhebliche Mittel sind, die erst einmal aufgebracht werden müssen – und Gegner der Flüchtlingspolitik werden mit Freude das hier vorgetragene „Kostenvolumen“ zitieren, um darüber die Belastung „der“ einheimischen Bevölkerung zu belegen.

Es geht hier auch nicht um die Frage, wie die notwendige Mittelaufbringung seitens des Staates organisiert wird – obgleich das eine spannende und überaus wichtige Frage wäre, denn tatsächlich kann man die These vertreten, dass „die“ Bevölkerung durchaus sehr ungleich belastet werden wird, wenn ceteris paribus im gegebenen System besteuert wird.

Nicht umsonst haben wir auch unabhängig von der Flüchtlingsdebatte eine Diskussion über alternative Ansätze der Besteuerung zu führen, um die Lastenverteilung zu korrigieren, beispielsweise durch eine veränderte Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung oder auch eine höhere Belastung der oberen Einkommen angesichts der gegebenen und sich verstärkenden Ungleichheitsstrukturen.

Höhere Ausgaben bedeuten auch höhere Einnahmen

Hier geht es um einen anderen Aspekt: Ökonomisch korrekt und eben nicht von nur nebensächlicher Bedeutung wäre der Hinweis, dass man hier die Bruttokosten in Form einer Schätzung zu bilanzieren versucht (der Sachverständigenrat gehört immerhin zu der kleinen Gruppe derjenigen, die von Bruttoausgaben sprechen). Und wie jeder Arbeitnehmer weiß: brutto ist nicht gleich netto.

Ein Blick auf die einzelnen Posten, die zu den Kosten führen, lässt erkennen, worauf ich hinauswill: Wenn beispielsweise für die Unterbringung der Flüchtlinge oder für Sprachkurse Gelder ausgegeben werden, dann löst sich dieses Geld ja nicht in Luft aus, sondern es gibt eine Gegenseite, auf der es verbucht werden muss. Von diesem Geld wird eingekauft oder Personal bezahlt, daraus wiederum werden Steuer- und Sozialabgaben generiert, die wieder an den Staat zurückfließen.

Interessant – und notwendig – wäre eine Auseinandersetzung darüber, was die Bruttokosten in einer ersten, zweiten und möglichen weiteren Runden an positiven ökonomischen Effekten auslösen. Und man kann sicher sein: die Nettokosten sehen dann schon ganz anders aus. Eine grobe Überschlagsrechnung dazu stellt etwa Dieter Wermuth im Herdentrieb-Blog an und kommt zu dem Ergebnis, dass den 50 Milliarden Euro an Mehrausgaben 40,2 Milliarden an staatlichen Mehreinnahmen gegenüberstehen könnten.

Bei vielen Menschen bleiben nur die hohen Bruttokosten hängen

Dass man diesen Hinweis aber in der aktuellen Berichterstattung sonst so gut wie nirgendwo finden kann, ist eine nicht zu unterschätzende Achillesferse der ökonomischen Diskussion über die (wahrscheinlichen) Kosten der Flüchtlingskrise. Was bei vielen Menschen durch die eingangs erwähnten Überschriften hängen bleibt, sind nur die hohen Bruttokosten.

Damit kein Missverständnis entsteht: Kosten werden in einer erheblichen Größenordnung anfallen, die von der Allgemeinheit der Steuerzahler und der Beitragszahler in den Sozialversicherungen generiert werden müssen – und man sollte die Bevölkerung keinesfalls im Unklaren darüber lassen, dass sich diese Kosten nicht werden vermeiden lassen. Vor allem dann nicht, wenn unter „den“ Flüchtlingen eben auch viele sind, z.B. Kinder oder Mütter mit kleinen Kindern, die auf absehbare Zeit nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden und deren Versorgung folglich aus anderen Quellen erfolgen muss.

In der Flüchtlingskrise werden wir leider erneut Zeugen einer volkswirtschaftlichen Entleerung der ökonomischen Diskussion

Hinzu kommt unbestreitbar, dass viele an sich erwerbsfähige Zuwanderer aus den Hauptgruppen der Flüchtlinge über keine relevante oder nur sehr eingeschränkt hier bei uns verwertbare Qualifikation verfügen, was eine Arbeitsmarktintegration sehr schwierig erscheinen lässt. Aber auch, wenn man den „Qualifizierungsweg“ gehen würde, also möglichst viele insbesondere der jüngeren Flüchtlinge erst einmal nach einem aufwendigen Sprachkurs in einer deutschen Berufsausbildung platziert, werden diese Menschen jahrelang auf staatliche Unterstützung angewiesen sein, die sie dann jedoch – wenn es mit der Ausbildung klappen sollte – in den späteren Jahren um ein Vielfaches abzahlen werden.

Aber bei allem berechtigten Blick auf die Kosten, die jetzt und in der vor uns liegenden Zeit anfallen (werden), sollten wir nicht vergessen, dass den Kosten immer auch Einnahmen an anderer Stelle gegenüberstehen und von dort aus ebenfalls weitere Wachstumsimpulse in die Volkswirtschaft hineingegeben werden. Diese Seite wird derzeit sträflich vernachlässigt bzw. vollständig ausgeblendet. In der Flüchtlingskrise werden wir damit leider erneut Zeugen einer volkswirtschaftlichen Entleerung der ökonomischen Diskussion, wenn man denn von der „alten VWL“ ausgeht, die noch ein Bewusstsein für Kreislaufwirkungen, Multiplikator-Effekte und ähnliches hatte.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag zuerst erschienen ist.