Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.
Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.
Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.
Wir kennen die mit Ressourcenabbau verbundenen Umweltfolgen, trotzdem bauten wir 2022 mit 96 Milliarden Tonnen weltweit so viel ab, wie noch nie zuvor. Jahrzehntelange Warnungen konnten uns nicht davon abhalten, eisern am zerstörerischen business as usual festzuhalten. Wachstumsmodell und Industrialisierung nach westlichem Vorbild haben jedoch nicht nur verheerende Umweltfolgen, sondern beruhen auch auf Überfluss einerseits und Mangel andererseits.
Angesichts internationaler Ungleichheiten und in Anbetracht planetarer Grenzen stellt sich die Frage: Kann dieses Wachstumsmodell auch im Globalen Süden umgesetzt werden? Und mehr noch: Ist dieses Modell überhaupt international erstrebenswert? Dieser Debattenbeitrag stellt Industrialisierung und Wachstum nach westlichem Vorbild als globales Modell grundlegend in Frage.
Alle(s) im Überfluss?
Der globale Ressourcenabbau lag 2022 laut den Daten des Umweltprogramms der Vereinten Nationen bei 96 Milliarden Tonnen und war damit so hoch wie nie zuvor. Im Jahr 1999 noch rangen wir unserem Planeten nur halb so viele Ressourcen ab (48 Milliarden Tonnen), aber auch das schon mit dramatischen Umweltauswirkungen (O’Brien & Leichenko, 2008).
Der globale Ressourcenverbrauch wurde verdoppelt in einer Zeit, in der wir es schon besser wussten: Donella und Dennis Meadows hatten für den Club of Rome 1972 die Grenzen des Wachstums modelliert und auf dieser Grundlage eindringlich vor einem „so weiter, wie bisher“ oder business as usual gewarnt. Seitdem gab es verschiedene Echos dieser Warnung: zum Beispiel im ersten Bericht des internationalen Klimarates (IPCC) 1990 und auf dem Earth Summit in Rio de Janeiro 1992. Aktuell wird auf die Umsetzung der 2015 verabschiedeten Agenda 2030 und der Sustainable Development Goals gesetzt. Doch auch dieser Zielekatalog räumt dem Schutz des Lebens auf unserem Planeten keine Priorität vor der Erreichung von Wirtschaftswachstum ein (Eisenmenger et al., 2020) und adressiert somit auch nicht die Probleme einer „nachhaltigen“ Entwicklung, wie wir sie spätestens seit dem Bericht der Brundtland-Kommission 1987 mit uns herumtragen: Umweltschutz ja, aber nur wenn gleichzeitig die Wirtschaft weiter wächst. Heute scheinen wir uns recht eindeutig auf dem business as usual-Pfad zu befinden, vor dem seit mehr als 50 Jahren mit Nachdruck gewarnt wird (Herrington, 2020).
Wirtschaftswachstum, das bisher recht ausnahmslos mit ansteigendem Ressourcenverbrauch einhergegangen ist (Haberl et al., 2020), wird oft gerechtfertigt mit den ansteigenden Bedürfnissen einer wachsenden Weltbevölkerung. Wenn immer mehr Menschen auf diesem Planeten leben, dann brauchen wir immer mehr Essen, immer mehr Wohnraum, immer mehr Zeug.
Das Argument erscheint logisch, aber hinkt empirisch gewaltig: Bevölkerungswachstum findet überwiegend dort statt, wo Menschen im internationalen Vergleich sehr wenig konsumieren. Nicht global, sondern in einigen wenigen Ländern wird mit diesem hohen Ressourcenverbrauch die Industrialisierung nach westlichem Vorbild ermöglicht (Schaffartzik et al., 2014). Japan beispielsweise galt bis zur großen Rezession von 2007/08 noch als hervorhebenswertes Land, in dem Ressourcenflüsse stagnierten (O’Neill, 2015). Seitdem schrumpft zwar die Bevölkerung weiterhin, doch der Ressourcenverbrauch ist wieder angestiegen (laut Daten der UNEP wurden 2022 10% mehr Ressourcen verbraucht als 2009). In Bangladesch ist im gleichen Zeitraum der Ressourcenverbrauch viel stärker angestiegen und wurde fast verdoppelt, lag aber 2022 noch bei unter 4 Tonnen pro Kopf (Japan: 10,5 Tonnen pro Kopf).
Damit in bestimmten Bevölkerungsschichten und Weltregionen Überfluss möglich ist, müssen anderswo Material, Energie, Arbeitskraft und Land bereitgestellt werden. Häufig ist ein Großteil der Ressourcen, die in (materiell) exportabhängigen Ökonomien eingesetzt werden, nicht dem inländischen Konsum, sondern dem Export gewidmet (Dorninger et al., 2021). Das immense globale Wachstum geht dadurch in der Regel nicht mit einer internationalen Angleichung im Konsumniveau einher. Stattdessen kommt es zu einer zunehmenden Polarisierung des Ressourcenverbrauchs. Diese spezielle Form der Ungleichheit zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen entweder in Ländern leben, die deutlich über dem globalen Durchschnitt konsumieren oder deutlich darunter (Duro et al., 2018).
Es ist also in Frage zu stellen, ob Wachstum nach westlichem Vorbild, d.h. beruhend auf internationalen Ungleichheiten, überhaupt international möglich ist. Gleichzeitig wird zerstörerisches Wachstum, zum Erhalt eines bestimmten Wirtschaftssystems oder von Massenkonsum, zunehmend kritisch gesehen. Forderungen nach einer Abkehr von diesem System werden immer lauter (Akbulut 2021). Doch während es im globalen Norden recht klar um die Frage geht, was nach dem Wachstum kommen kann, ist die Problemlage aus der Perspektive derer, die für den Massenkonsums anderer anderswo enteignet und ihrer Lebensgrundlagen gewaltsam beraubt werden, eine andere (Scheidel und Schaffartzik, 2019). Es stellt sich also zweitens die Frage, ob Wachstum nach westlichem Vorbild – wenn es möglich ist – erstrebenswert ist. Für irgendwen.
Kann der Globale Süden wachsen?
Manchmal wird als Hauptargument gegen ein wachstumsgetriebenes Wirtschaften angeführt, dass sich das – wie wir in Österreich sagen – niemals ausgehen kann, wenn das alle machen. Marina Fischer-Kowalski und ich haben vor einiger Zeit Folgendes (zugegebenermaßen grob) geschätzt: Wenn all jene Länder, die noch kein ausgebautes fossiles Energiesystem haben, diesen Ausbau vollziehen würden (d.h. 50 Gigajoules fossile Energie pro Kopf und Jahr konsumieren würden), müsste der globale fossile Energieverbrauch bis 2050 auf 700 Exajoules pro Jahr ansteigen (Schaffartzik und Fischer-Kowalski, 2018). Das sind 200 Exajoules mehr als der entsprechende Wert im Jahr 2023 (IER, 2024) und doppelt so viel wie der Wert, der uns vielleicht erlauben würde, die globale Erderhitzung auf 2 Grad Celsius zu beschränken. Das geht sich nicht aus – zumindest nicht, wenn wir davon ausgehen, dass es hinsichtlich der abbaubaren fossilen Energieträger und der verkraftbaren Emissionen planetare Grenzen gibt.
Doch solch ein hypothetisches Wachstum-für-alle ist natürlich etwas anderes als das zuvor skizzierte Wachstum nach westlichem Vorbild. Wachstum-für-alle geht sich nicht aus, Wachstum nach westlichem Vorbild für den globalen Süden, rein rechnerisch und hypothetisch, schon. Das Wachstum, das wir bisher global erlebt haben, wäre ohne eklatante Ungleichheiten innerhalb von und zwischen Ländern nicht möglich gewesen: Ein Entwicklungsmodell, das (unter anderem) auf Netto-Importen beruht, ist angewiesen auf Netto-Exporteure (Schaffartzik und Pichler, 2017). Lassen wir die Machtverhältnisse außer Acht (fatal unterkomplex, ich weiß), dann wäre es eigentlich egal, wer die Netto-Exporteure sind. Wenn die Länder des Globalen Nordens ab heute Ressourcen für die Länder des Globalen Südens bereitstellen würden, statt sie zu konsumieren oder zu akkumulieren, könnte der durchschnittliche pro-Kopf Konsum umgekehrt werden: Etwas unter 5 Tonnen pro Kopf im Norden, etwas über 15 Tonnen pro Kopf im Süden.
Der globale Norden würde sich außerdem auf Exporte konzentrieren, den Abbau von Ressourcen ausdehnen und andererseits die Bestände (d.h. Ressourcen, die in Maschinen, Infrastrukturen und langlebigen Konsumgütern gebündelt sind) zurückbauen. Es würden viele Niedriglohn-Arbeitsplätze geschaffen werden, in der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau, in der Sortierung und im Recycling. Gleichzeitig würde es, wegen der Exportorientierung, zunehmend schwierig werden, benötigte Konsumgüter zu erwerben. Sehr vereinfacht ausgedrückt ist das die Rolle, die in der Weltwirtschaft übernommen werden muss, wenn der Globale Süden eine Industrialisierung nach westlichem Vorbild vollziehen soll (vgl. Temper et al., 2015, s.a. EJatlas.org).
Industrialisierung – es könnte alles viel schlimmer sein
Wir können davon ausgehen, dass diese Rolle in der Weltwirtschaft historisch und aktuell für den Globalen Süden genauso wenig attraktiv ist, wie sie es hypothetisch für den globalen Norden ist. Doch vielleicht ist es nicht nur das Dasein des Ressourcenlieferanten, sondern diese ganze Industrialisierung, die nicht so furchtbar attraktiv ist?
Diese Industrialisierung braucht unglaublich viel Ressourcen und Arbeitskraft und versucht, systemische Probleme mit vergleichsweise kleinen Perks auszugleichen: Deine Arbeit macht Dich krank, aber du bekommst einen Rabatt im Yogastudio. Du schläfst nicht genug, aber bekommst von der Firma gratis Kaffee. Dein Wohnraum ist überhitzt, aber vier große Straßen weiter wird die Stadt klimafit gemacht. Du hast kaum Zeit für Beziehungen, aber all the apps auf deinem Smartphone. Es könnte alles viel schlimmer sein. Aber eben auch viel besser.
Ich kenne mich mit überzeugender Kommunikation nicht aus, aber „Industrialisierung – es könnte alles noch viel schlimmer sein“ überzeugt mich als Werbespruch wenig. Und wenn wir uns die Frage stellen, ob Industrialisierung nach westlichem Vorbild auch im Globalen Süden möglich wäre, dann gehen wir schon irgendwie davon aus, dass andere unbedingt genau diese Industrialisierung wollen. Eine Industrialisierung, die bedeutet, dass mehr Ressourcen verbraucht werden als je zuvor, ohne dass wir deshalb das gute Leben leben. Eine Industrialisierung, die bedeutet, dass immer mehr Menschen entweder sehr viel arbeiten oder sehr dringend Arbeit suchen. Und eine Industrialisierung, die nach wie vor auf einem mittelfristigen Wirtschaften über planetare Grenzen hinaus beruht. Eine Industrialisierung, die keine Zukunft hat. Es geht hier um eine Wirtschaftsweise, die systematisch den sweet spot der doughnut economy verpasst, also jenen Kringel, in dem wir das süße Leben leben und unsere Bedürfnisse erfüllen können, ohne planetare Grenzen zu sprengen (Raworth, 2023).
Zeit für andere Fragen
Mit der westlichen Industrialisierung sind wir bisher in der Mehrheit nicht sehr gut gefahren. Gleichzeitig bleiben aber auch die Diskurse um Alternativen oft geprägt von westlichen Zugängen, Theorien und Erfahrungen (zum Beispiel im Bereich degrowth oder post-Wachstum: Álvarez und Coolsaet, 2020). Statt uns am Erhalt einer Wirtschaftsweise abzuarbeiten, könnten wir uns die Frage stellen (lassen), was überhaupt das gute Leben (buen vivir) oder das gute Zusammenleben (buen convivir) ausmacht (Pérez Orozco, 2022). Die vielen quantitativen Studien zum Ressourcenverbrauch, die ich eingangs zitiert habe, sind sicher wichtig, wenn es darum geht zu verstehen, worauf derzeitige Krisen beruhen. Dieses Wissen muss aber auch als Grundlage dafür dienen, die Möglichkeiten für wünschens- und erstrebenswerte Zukünfte auszuloten (Bai et al., 2016). Und was wünschens- oder erstrebenswert ist, können wir nicht wissen, ohne unsere Mitmenschen zu fragen, wie es ihnen geht und was sie sich wünschen. Also, was fehlt Dir in diesem Überfluss?
Zur Autorin:
Anke Schaffartzik ist Professorin am Department of Environmental Sciences and Policy der Central European University (CEU) in Wien und Mitglied des Vorstands der European Society for Ecological Economics (ESEE). Sie forscht und lehrt zu (internationalen) Ungleichheiten im Ressourcenverbrauch.