In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
CO2-Preis, Verbote, Klima-Klub: Anmerkungen zum Koalitionsvertrag
piqer:
Dominik Lenné
Wir haben – über das Cap-and-Trade-System der EU – schon sehr lange einen Emissionspreis im Elektrizitätsbereich. (Im Industriebereich de facto nicht, weil dort wegen des fehlenden Grenzausgleichs fast die ganze Emission über Gratiszertifikate abgedeckt ist.)
Im Wärme- und Verkehrsbereich haben wir ihn jetzt auch, aber zunächst nur sehr schüchtern – dafür gibt es einen ganzen Strauß flankierender Maßnahmen.
Der gepiqde Text zweier Ökonomen, die sich intensiv mit der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen für die Dekarbonisierung befasst haben, tadelt die neue Koalition für diese Schüchternheit und betont, dass
- Verbote und Regulierungen oft unerwünschte Nebeneffekte mit sich bringen,
- sie keineswegs kostenlos sind, sondern immer verborgene Kosten haben,
- ohne wirksame Emissionspreise das Ziel wahrscheinlich verfehlt werden wird und
- sozialer Ausgleich immer mitgedacht werden muss, am besten in der Form von Pro-Kopf-Rückzahlungen der Einnahmen (oder eines großen Teils davon).
Was die Handelsproblematik angeht, d.h. die befürchtete Produktionsverlagerung, um Emissionskosten in einer Region auszuweichen, plädieren die Autoren für einen Ansatz der internationalen Kooperation innerhalbe eines „Klima-Klubs“ entwickelterer Nationen, was in der Praxis einen gemeinsamen, zunächst eher niedrigen, steigenden Emissionsmindestpreis bedeute. Dies sei der am wenigsten konfrontative und komplexe Weg, überhaupt etwas zu erreichen.
Deutschland legt beim Treibhausgas-Ausstoß kräftig zu
piqer:
Nick Reimer
Das ist ein schwerer Rückschlag für den Klimaschutz: Der Ausstoß von Treibhausgasen ist in der Bundesrepublik 2021 kräftig gestiegen. Nach Erhebung der Denkfabrik Agora Energiewende betrug er im vergangenen Jahr 772 Millionen Tonnen Treibhausgasäquivalente. Das sind 33 Millionen Tonnen mehr als 2020 – obwohl die Treibhausgas-Produktion doch – gesetzlich vorgeschrieben – eigentlich hätte zurückgehen müssen. Um das deutsche Klimaziel zu erreichen (minus 65 Prozent bis 2020) müssen den Berechnungen zufolge wegen des Anstiegs nun jährlich 37 Millionen Tonnen eingespart werden. Aktuell liegen wir nach 30 Jahren Klimaschutzpolitik bei minus 38 Prozent – also etwa der Hälfte. Lediglich acht Jahre bleiben noch, doch die Experten erwarten, dass bei weiterer wirtschaftlicher Erholung auch in diesem Jahr ein weiterer Anstieg der Emissionen zu erwarten ist.
Ein Grund für den erhöhten CO₂-Ausstoß ist der Rückgang der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien. 2021 war ein windarmes Jahr, die erneuerbare Stromproduktion ging deshalb leicht zurück, auf knapp 41 Prozent der Bruttostromerzeugung – drei Prozent weniger als 2020. Im letzten Jahr war zudem der Ausbau vor allem der Windenergie hierzulande weiter eingebrochen – trotz Klimawahlkampf und hehren Worten.
Im Koalitionsvertrag hatte die Ampelkoalition festgeschrieben, dass 80 Prozent des Strombedarfs bis zum Jahr 2030 aus erneuerbaren Energien kommen soll. Aktuell gibt es dabei drei große Hindernisse: Erstens fehlt es an Investoren, das sogenannte Ausschreibungsverfahren durch die Bundesnetzagentur hat dafür gesorgt, dass etwa Bürgerenergiegenossenschaften vom Markt ausgeschlossen sind. Nach dem Kahlschlag der letzten Jahre fehlen zweitens Fachkräfte, etwa Handwerker, die Solaranlagen installieren können. Drittens geht es den Firmen schlecht, die erneuerbare Kraftwerke hierzulande produzieren. So musste Vestas gerade seine Produktion von Windradflügeln in Lauchhammer in der Lausitz einstellen, eine jener Regionen, in der doch eigentlich jetzt der Strukturwandel beginnen soll.
Daneben bleiben die bürokratischen Genehmigungsverfahren und die Akzeptanz vor Ort ein Problem. Die hat das neue Wirtschafts- und Klimaministerium auch bereits adressiert. Aber sie sind eben nur der kleine Teil des Gesamtschlamassels: Ohne Investoren, ohne Anlagen, ohne Handwerker stellen sich diese Fragen nicht. Das ist offenbar auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnisgrüne) bewusst. Der sagte: „Wir werden unsere Ziele vermutlich auch für 2022 noch verfehlen, sogar für 2023 wird es schwer genug.“
Nachhaltige Transformation durch Dekonstruktion von Lebenslügen
piqer:
Ole Wintermann
Unsere gegenwärtige Wirtschafts- und Lebensweise hat definitiv keine Zukunft. Es ist ein Umdenken vonnöten und die Frage kommt auf, wie dieses Umdenken vorangebracht werden kann. Wie kann eine ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft angegangen, ausgestaltet und kommuniziert werden? Mit der Beantwortung dieser Frage befasst sich das laufende Projekt des Umweltbundesamtes mit dem Titel „Narrative einer erfolgreichen Transformation zu einem ressourcenschonenden und treibhausgasneutralen Deutschland“.
Der bereits 2021 erschienene Zwischenbericht offenbart einen Ausweg aus der polarisierten Debatte um Nachhaltigkeit, die sich ja zuletzt erneut vor der Bundestagswahl zugespitzt hatte. Die Polarisierung in der Gesellschaft kann dadurch überwunden werden, dass existierende Lebenslügen dekonstruiert werden, indem die hinter den Lebenslügen wirkenden Wertesysteme und (scheinbaren und ehemals vielleicht auch rationalen) Sachlogiken offengelegt und neu zusammensetzt werden.
Der Zwischenbericht des UBA unternimmt diese Dekonstruktion in insgesamt acht Lebensbereichen: Mobilität, Bauen und Wohnen, Freizeit, Landnutzung und Landwirtschaft, Kommunikation, Arbeit, Konsum und Ernährung.
Für den Mobilitätsbereich bedeutet dies beispielsweise, dass die extreme Fokussierung auf das Auto damit erklärt wird, dass die Autoindustrie ein systemrelevanter Sektor ist, der es schafft, das Auto mit Wachstum und Status zu verbinden und damit als „Potenzmittel” (Originalzitat) zu labeln. Dekonstruiert wird dieser Potenzmythos dadurch, dass das Auto als Teil eines „Teamsports” (Verbindung in Bewegung) gesehen wird und gefragt wird, inwiefern Mobilität uns allen nützen kann. Damit wird Mobilität zur Dienstleistung und dem Menschen untergeordnet.
Diese spannende Dekonstruktion findet in anderen Bereichen ebenso statt: Bauen hat nichts mit dem Wohlstand der nachfolgenden Generation zu tun, Freizeit ist nicht die Möglichkeit, Events zu konsumieren, sondern Achtsamkeit voranzubringen, Arbeit dient nicht der Existenzsicherung, sondern der verstärkten Sinnerfüllung.
Der große Vorteil dieses Ansatzes ist es, dass damit Denkmuster und gelebte scheinbare Wahrheiten demaskiert und Räume für neue Handlungsparadigmen bei den Menschen geschaffen werden können.
Simpel formuliert: Es wird den Menschen eine alternative Sicht auf die Welt angeboten.
Jetzt möchten große Umweltschutz-NGOs die Wirtschaft transformieren
piqer:
Leonie Sontheimer
Dieser Piq tanzt ein kleines bisschen aus der Reihe, da er keinen Artikel empfiehlt, sondern eine Art Paper. Und geschrieben ist das auch nicht von einem Medium, sondern von einer Umweltorganisation, genauer von Friends of the Earth Europe, also dem Zusammenschluss verschiedener europäischer Umweltorganisationen (wie z.B. dem BUND).
Andererseits macht gerade dieser Fakt das Paper zusätzlich interessant. „7 Funken für eine neue Ökonomie“ heißt die Veröffentlichung nämlich. Und zur Ökonomie haben sich die großen deutschen Umweltorganisationen lange nicht geäußert, obwohl man vom Umweltschutz ziemlich schnell zu der Erkenntnis kommt, dass wir die Wirtschaft ändern müssen…
Jetzt also wagt Friends of the Earth einen Schritt nach vorn und veröffentlicht sieben Ideen, wie wir die Wirtschaft so umdesignen können, dass sie unsere Bedürfnisse erfüllt, aber keine planetaren Grenzen überschreitet. In dem letzten Halbsatz steht auch schon die erste der sieben Ideen. Und ja, das ist simpel. Aber eben noch lange nicht umgesetzt. Die zweite Idee? Wirtschaftsdemokratie, um es in einem Wort zu sagen. Es folgen Commons, Arbeitszeitverkürzung, Schuldenschnitt für den Globalen Süden und weitere Konzepte, die viele bereits kennen mögen. (Falls dem nicht so ist, umso besser, dann empfehle ich die gesamte Lektüre!)
Dennoch – in der Zusammenstellung steckt Potential. Denn man kann davon ausgehen, dass die beteiligten Umweltschutzorganisationen diese Ideen in ihre Basis tragen werden, sie in ihre Kampagnen integrieren werden und so eine wirklich größere Gruppe von Menschen damit erreichen werden. Und weil die Konzepte auf der Webseite verständlich und verdaulich erklärt werden, eignet sich die Lektüre wirklich für Neueinsteiger*innen. Vielleicht mögen Sie die Ideen ja auch weitertragen?
Mehr Schutz für Plattform-Jobber*innen
piqer:
Jürgen Klute
Die Europäische Union will Menschen, die über digitale Plattformen ihren Lebensunterhalt verdienen, stärker schützen. Derzeit ist vor allem der Status der sogenannten Plattform-Beschäftigten unklar: Sie sie Selbständige oder Arbeitnehmer*innen in einen Beschäftigungsverhältnis?
Dazu hat die Europäische Kommission vor wenigen Tagen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat einen Richtlinienentwurf zur Beratung, Bearbeitung und Abstimmung vorgelegt. Solche europäischen Rechtstexte sind in der Regel umfangreich und ihre Lektüre ist kein literarischer Genuss.
Dankenswerterweise hat sich die Rechtsanwältin Dr. Tatjana Ellerbrock diesen für Arbeitnehmer*innen wichtigen Rechtstext genauer angeschaut und ihn in einem Gastbeitrag für das juristische Portal „Legal Tribune online“ vorgestellt und eingeordnet. Zur Relevanz der Richtlinie: EU-weit sind ca. 28 Millionen Menschen für digitale Plattformen tätig; 90 Prozent von ihnen haben den Status von Selbständigen.
Tatjana Ellerbrock führt zunächst in den Sachverhalt ein: Was genau soll hier reguliert werden und warum? Im Weiteren skizziert sie den Entwurf der EU-Kommission und deutet an, welche Wirkungen er haben dürfte und wo aus ihrer Sicht noch offene Fragen sind.
Ellerbrock kommt zu folgendem Fazit:
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass ein einheitliches Schutzniveau in der Plattformarbeit geschaffen und ausbeuterische Arbeit untersagt werden soll. Ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen verhindert Ausweichreaktionen zulasten der Betroffenen, indem Plattformbetreibende ihre Mitarbeitenden in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Schutzniveau rekrutieren. Die Richtlinie soll Rechtssicherheit schaffen, die Menschen benötigen, um ihre Tätigkeit auszuüben.
[…]
Es stellen sich aber auch grundsätzliche Fragen: Wie werden Arbeitnehmer:innenschutzrechte wirksam grenzüberschreitend durchgesetzt? Entspricht es überhaupt dem Interesse der meisten Plattformarbeitenden, den Arbeitnehmer:innenstatus zu erlangen oder legen sie nicht vielmehr größeren Wert auf Flexibilität? Wie können Plattformbetreibende die neuen Verpflichtungen rechtssicher erfüllen, ohne das Geschäftsmodell zu gefährden?
Tatjana Ellerbrock hat mit ihrem Gastbeitrag für Lto eine gut lesbare Einführung in einen wichtigen, aber eben nicht einfach zu lesenden europäischen Rechtstext geschrieben, für den man ihr nur dankbar sein und den man allen nur dringend empfehlen kann, die sich für diese Thematik grundsätzlich oder auch beruflich interessieren.
Die Saat, aus der Trump 2 erwächst
piqer:
Sven Prange
Man liest dieser Tage hier und da Geschichten, dass Donald Trump vielleicht ein zweites Mal ins Weiße Haus einziehen könnte. 2024, wenn der nächste US-Präsident gewählt wird. Wenn der derzeitige US-Präsident sich weiter so, nun ja, unglücklich anstellt. Wenn der Plan, den offenbar Trump hat, aufgeht.
Ganz schön viele wenns. Und das größte ist da scheinbar noch gar nicht bei: Wenn eine Mehrheit der US-Amerikaner bis dahin vergessen hat, wie frivol, furchterregend und demokratiezersetzend die ersten vier Jahre von Trump als US-Präsident waren.
Dann liest man allerdings, dass 40 Prozent der Amerikaner mittlerweile denken, dass Trump die vergangene Wahl gar nicht verloren habe, sie ihm lediglich „gestohlen“ wurde. Man erinnert sich, dass mächtige Strippenzieher, wie der offenkundig politisch extrem verwirrte Tech-Investor Peter Thiel an einem rechtsextremen Netzwerk aus Republikanern zur Unterstützung Trumps arbeitet. Man registriert, dass selbst große Konzerne, wie Boeing weiter jene Republikaner finanzieren, die den Sturm aufs US-Kapitol vor einem Jahr als völlig unproblematisch sahen.
Und dann sieht man diesen Film des großartigen Jamie Roberts. Und findet die Vorstellung auf einmal gar nicht mehr so irreal.
Autonom agierender Traktor von John Deere erhöht Anpassungsdruck
piqer:
Ole Wintermann
Der Transformationsdruck, der auf Landwirten lastet, ist enorm. Notwendige Anpassungen Richtung Nachhaltigkeit, der beständige Fachkräftemangel und neue Techniken wie die sogenannte vertikale Landwirtschaft erfordern eine beständige Technisierung und Weiterbildung. In diesen Transformationsdruck hinein hat nun der Landmaschinenhersteller John Deere seinen ersten autonom agierenden Traktor “8R” vorgestellt.
Der Traktor kann allein das Feld bestellen, nachdem er via App von seinem Nutzer programmiert worden ist. Er kann während der Aussaat durch entsprechende Sensoren die Qualität des Bodens überprüfen und dann Aussaat oder den Düngerbedarf anpassen. Während der Tätigkeit des Traktors, der seinen Weg zum Acker selbst finden kann, kann der Landwirt seine knappe Arbeitszeit anderweitig nutzen.
Hört sich gut an, oder?
Es gibt allerdings einige Rahmenbedingungen, die den Lesenden nachdenklich werden lassen. Erstens: Der Traktor kostet bis zu 800.000 US-Dollar. Das Unternehmen bietet zwar ein Abo-Modell an. Dies bringt aber eine gewisse Abhängigkeit vom Unternehmen mit sich. Zweitens: Die relativ komplexe Programmierung dürfte viele Landwirte vor gewisse Herausforderungen stellen, so kritische Stimmen. Auch die komplexe Technik des Traktors selbst erschwert die traditionell hohe Eigenreparaturquote. Drittens: Die Sensoren des Traktors sammeln Daten und senden diese an John Deere, damit das Unternehmen seine KI verbessern kann. Was haben die Landwirte ganz direkt davon? Und viertens: Durch die Technik und die immensen Kosten sowie das Zwischenschalten von John Deere als Technik- und Datenanbieter werden die Landwirte ein Stück weit von ihrer eigenen Tätigkeit entfremdet.
„We’ve now figured out how to decouple the labor from the machine.“
Wie werden dies die Landwirte in Deutschland sehen?
So kannst du die Zukunft vorhersagen
piqer:
Rico Grimm
Okay, ich gebe zu, das ist eine Clickbait-Überschrift. Einfach niemand kann die Zukunft vorhersagen, so weit bekannt, so weit so langweilig, so weit das Klischee, das davon auszugehen scheint, dass sich die Dinge auf der Erde in quasi-spontanen Explosionen im luftleeren Raum entwickeln. Ist natürlich Quark, das wissen nicht nur, aber vor allem jene, die sich immer wieder mit Geschichte beschäftigen. Alles beginnt irgendwo (auch so ein Klischee).
Der Text, den ich euch heute mitgebracht habe, handelt von einer Gruppe US-Amerikaner, die sich zusammengetan haben, um die Zukunft zwar nicht exakt vorherzusagen, sie aber erahnen zu können. Sie tun das nicht mit Glaskugeln, sondern kühlem Verstand. Ein prominentes Beispiel im Text ist die US-amerikanische Impf-Kampagne. Das Ziel war es, herauszufinden, wann 100 Millionen US-Amerikaner ihre erste Spritze bekommen haben werden. Dazu haben sie eine leicht zu replizierende Methode benutzt:
- Es ist wichtig, die richtige Frage zu beantworten. Dazu muss man sie in Einzelteile zerlegen.
- Definiere, was bekannt ist und was nicht.
- Schau von außen auf die Frage.
- Schau von innen auf die Frage.