Fremde Federn

Klima-Angst, Erdbeben, SMS-Affäre

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Politiker in der Demokratie (k)einen „Schutzraum“ für Kommunikation brauchen, neue Zahlen zur Mental Health-Krise unter Jugendlichen und wo die Fallstricke im europäischen Emissionshandel liegen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wo die Fallstricke im europäischen Emissionshandel liegen

piqer:
Ralph Diermann

Der europäische Emissionshandel (EU ETS) ist ein Klimaschutz-Instrument, das aus zwei Gründen großen Charme hat. Zum einen seine hohe Zielgenauigkeit: Über die Menge der ausgegebenen CO2-Zertifikate kann die EU exakt steuern, wie stark die Emissionen der zur Teilnahme verpflichteten Betreiber von Kraftwerken und Industrieanlagen sinken werden. Zum anderen gibt das System einen Anreiz, gezielt dort in den Klimaschutz zu investieren, wo die Kosten am geringsten sind und der Nutzen am größten ist.

Ende letzten Jahres hat die EU eine weitreichende Reform des Zertifikatehandels beschlossen. Die ZEIT-Autorinnen Alexandra Endres und Carolin Wahnbaeck erläutern nun sehr verständlich die Funktionsweise des in seinem Grundprinzip äußerst einfachen, in den (wichtigen) Details aber recht komplexen Systems, beschreiben die Neuerungen, auf die sich die EU geeinigt hat – und erläutern, wo die Fallstricke liegen.

Denn nach Einschätzung der Autorinnen ist längst nicht sicher, dass der EU ETS bei der Emissionsminderung die im System angelegte Punktlandung hinlegen wird – drohe doch, dass die Politik die Regeln nachträglich wieder aufweicht. Problematisch seien auch die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten an Industriebetriebe bis 2034 sowie die Preisbremse im neu eingeführten Handelssystem für die Wärmeversorgung und den Straßenverkehr.

Nicht zuletzt widmen sich die beiden Autorinnen einer zentralen Frage für den Klimaschutz: Genügt das Marktinstrument des ETS, um die Klimaziele zu erreichen oder braucht es zusätzlich staatliche Eingriffe durch Ordnungsrecht und Förderungen? Braucht es, zitieren sie zwei namhafte Wissenschaftler:innen (Brigitte Knopf und Andreas Löschel) – aber der Emissionshandel ist die Basis all dessen. Löschel drückt es so aus:

„Ohne CO2-Preis ist alles nichts.“

150+ Charts, um die Energiewende zu verstehen (in einer Präsi)

piqer:
Rico Grimm

Normalerweise fasse ich hier in den Empfehlungen immer die wichtigsten Punkte zusammen. Das ist heute unmöglich und genau deswegen piqe ich diese Präsentation.

Nat Bullard ist ein britischer Energieanalyst und hat in einer einzigen Präsentation mehr als 100 Charts versammelt, um den aktuellen Stand der Energiewende zu verstehen. Es ist ein Fest (für Menschen, die sich dafür interessieren)!

Klimaschutz: Eine gesellschaftliche Notfallpsychologie kann helfen

piqer:
Ole Wintermann

Lea Dohm, Fabian Chmielewski, Felix Peter und Mareike Schulze beschäftigen sich in diesem Beitrag im Fachmagazin „Ärztliche Psychotherapie“ mit dem Umgang mit der Klimakrise oder wie sie es im weiteren Verlauf ausführen, mit dem globalen Notfall infolge der ökologischen Krisen. Sie geben einerseits Ratschläge, wie Menschen, die unter sogenannter Klima-Angst leiden, mit dieser umgehen können, und führen andererseits aber auch aus, dass Psychotherapeut:innen eine inhärente berufliche Pflicht haben, sich mit dem Thema der ökologischen Krisen zu beschäftigen und Handlungsvorschläge für den Umgang mit diesen Krisen auf gesellschaftlicher Ebene zu entwickeln. So heißt es in der aktuellen Musterberufsordnung:

„Psychotherapeut:innen beteiligen sich an der Erhaltung und Förderung der ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen.“

Der Begriff der „Klima-Angst“, so die Autor:innen, beschreibt die gesunde, adaptive Reaktion auf reale und existenzielle Bedrohungen, wie sie ja nun infolge der Klimakrise objektiv auch vorliegen. Dabei ist Angst nur eine mögliche Reaktion unter vielen; weite Teile der Gesellschaft reagieren beispielsweise stattdessen mit Verdrängung, Leugnung, Verharmlosung oder Umdeutung der objektiv bestehenden Bedrohungen.

Psychotherapeut:innen können auf der individuellen Ebene offene Gespräche über diese Ängste anbieten, sie dürfen sich dabei jedoch nicht zum Abwiegler oder aktivistischen Sympathisanten entwickeln. Sie können den Menschen, die berechtigterweise die Ängste erleben, die Universalität des Leidens anbieten, sie können Ansätze wie die temporäre Nachrichtenabstinenz, das Mitarbeiten in Klimagruppen oder das Erleben der eigenen Handlungswirksamkeit befördern.

Diese auf das Individuum abgestimmten Handlungsansätze können aber auch auf die gesellschaftliche und politische Übertragen werden. Psychotherapeut:innen können die Hintergründe der (politischen) Krisenleugnung darstellen, sie können Ansätze für die Überwindung von politischen Handlungsblockaden zu mehr Nachhaltigkeit anbieten. Psychotherapeut:innen sind aufgerufen, eine gesellschaftliche Notfallpsychologie zu entwickeln.

Aus meiner Sicht bietet der Text eine wichtige ergänzende Sicht auf die Logiken und Dynamiken einer Politikgestaltung in Richtung von mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Setzt man sich die Brille der Psychotherapeut:innen und ihrer Erklärung von Blockaden und Leugnungen auf, so erscheint einem die gesellschaftlich und politisch emotional geführte Debatte um den Klimaschutz plötzlich viel klarer.

Wenig belastbare Architektur, Korruption und Erdbeben

piqer:
Mohamed Amjahid

Ich habe durch dieses Video viel über erdbebensicheres Bauen gelernt. Warum sind in der Türkei und in Syrien so viele Gebäude in sich zusammengefallen? Es liegt an der Art und Weise, wie dort (und in vielen anderen Ländern) gebaut wurde und der Tatsache, dass sowohl der Staat als auch die Bauwirtschaft die Risiken einfach ignoriert haben. Im Video wird die für Erdbeben anfällige Bauweise mit Grafiken gut erklärt. Dass solche Gebäude in der Türkei weiter gebaut oder nicht verstärkt wurden, hat etwas mit der Korruption im Land zu tun:

Multiple factors led to this earthquake being so devastating, like fault lines, neighborhoods still reeling from war and delayed rescue missions. But what made this earthquake particularly catastrophic was unsafe buildings. According to the Turkish government, over 6,000 buildings collapsed because of this earthquake. And that’s likely because of the way they were built.

In Syrien kommt noch hinzu, dass der andauernde Krieg die Bausubstanz erheblich geschädigt hat, das Erdbeben gab den Gebäuden also lediglich den Rest. Dabei ist selbst in reichen Ländern erdbebensicheres Bauen wegen der hohen Kosten keine Selbstverständlichkeit. In der Türkei wurde aber augenscheinlich die Sicherheit der Menschen vernachlässigt. Es wurde vom Staat und von der Bauwirtschaft wissentlich in Kauf genommen, dass Zehntausende bei einem Erdbeben (das früher oder später kommen sollte) sterben werden. Ich kann zum Thema erdbebensicheres Bauen auch diesen Beitrag zur Lage in Japan empfehlen und warum es dort besser geregelt und umgesetzt wird.

Kann ChatGPT durch GPTZero auf Dauer erkannt werden?

piqer:
Ole Wintermann

Dieser Text aus der New York Times fällt mal wieder, wie es so häufig bei Texten aus der NYT der Fall ist, durch eine geradezu brilliante Nutzung von Werkzeugen auf, um dem Leser die Funktion einer Künstlichen Intelligenz zu erklären.

Es geht um die KI-basierte Prüfung von Texten dahingehend, ob diesen vom Menschen oder einer KI erstellt wurden. ChatGPT basiert so wie andere Sprachmodelle auch auf reiner Statistik; jedes Wort, das einem Wort folgt, wird dort nach der Wahrscheinlichkeit des Auftretens in den Übungstexten, mit denen die KI trainiert wurde, platziert. Damit sind die durch eine KI erstellten Texte quasi „perfekte“ Texte, da sie durchweg dieser statistischen konsistenten Gesetzmäßigkeit folgen. Damit hinterlassen sie aber auch einen Fingerabdruck. KI, die Texte auf ihren Ursprung hin analysieren sollen, suchen nun nach „Wasserzeichen“ in den Texten. Diese Wasserzeichen sind statistische Unregelmäßigkeiten, die sich dadurch ergeben, dass eben nicht das wahrscheinlichste Wort einem Wort folgt, sondern ein alternatives Wort, das von der KI geplant eingesetzt wurde. Der Nachteil jeder verschlüsselten „Botschaft“ im Sinne eines Wasserzeichens besteht aber darin, dass der ursprüngliche Schlüssel bekannt sein muss, um die spezielle KI zu identifizieren, die das Wasserzeichen erstellt hat.

Expert:innen sprechen im Text inzwischen vom „Wettrüsten“ der KI- und der Kontroll-Software. So dauerte es 2 Monate, bis OpenAI selbst eine Kontroll-Software veröffentlichte. In diesem Zeitraum wurde aber schon von einem Studenten der Princeton University ein Kontroll-Werkzeug ins Netz gestellt – GPTZero – mit dem eine Überprüfung von Texten auf GPT-Ursprung möglich war.

Erschwert wird das Auffinden von Wasserzeichen des Weiteren durch weitere KI, die die speziellen Wahrscheinlichkeitsmuster einer KI wie GPT neu anordnet und damit die Quelle unkenntlich macht.

Der Text in der NYT wird durch eine Visualisierung unterstützt, die auf einmalig simple wie nachvollziehbare Weise die Vorgehensweisen der Sprachmodelle erklärt. Absolut empfehlenswert!

Das Problem mit den SMS der Mächtigen

piqer:
Jannis Brühl

Ich piqe diesen Beitrag, weil das Thema sonst untergeht: Es geht um die Frage, ob Politiker SMS archivieren und auf Anfrage herausgeben müssen, so wie sie es bei vielen anderen Dokumenten tun (bzw. tun müssten, viele Stellen wehren sich ja ohnehin gegen Informationsfreiheitsanfragen). Dahinter steht die Frage, ob Politiker in der Demokratie einen „Schutzraum“ für Kommunikation brauchen, in dem sie sich vertraulich austauschen können, ohne das Gefühl, dieser Austausch könnte mal public record werden.

Etwas absurd wird das Argument, dass Geheimhaltung von SMS der Demokratie hilft, allerdings, wenn es um einen konkreten Deal und Milliarden an Steuergeld geht. So wie im konkreten Fall, den mein SZ-Kollege Thomas Kirchner schildert:

Zuvor hatte die New York Times berichtet, dass der Austausch der Handy-Nachrichten zwischen den beiden [Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Albert Bourla, Chef des US-Pharmaunternehmens Pfizer] im Februar 2021, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, entscheidend zu einem spektakulären Deal beigetragen hatte: der Versorgung der Europäer mit insgesamt 1,8 Milliarden Impfstoffdosen von Pfizer. Doch die EU-Kommission weigert sich, die Textbotschaften herauszugeben.

Jetzt klagt die New York Times, nachdem schon Alexander Fanta von netzpolitik.org versucht hatte, an die SMS heranzukommen. Eigentlich umfassen die EU-Regeln auch die oft informell scheinenden SMS und Whatsapp-Nachrichten: Auch sie müssen der Öffentlichkeit auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden. Die Kommission aber wehrt sich, vielen Politikern ist die Vorstellung ein Graus, die Bürger könnten diese Absprachen einsehen.

Interessant ist hier, wie Technologie Informationspolitik formt: SMS schreibt man zwar nebenher, sie bleiben aber erfasst wie andere Dokumente auch. Was unterscheidet sie von E-Mails? Andererseits ist es ohne totale Überwachung unmöglich, alles, was in Telefonaten geschieht zu erfassen, sodass es in jedem Fall noch diese eine Form der Kommunikation gibt, die nicht gespeichert wird und Politikern ermöglicht, sich ohne Angst vor der Öffentlichkeit auszutauschen.

Ich bin gespannt, wie die Klage ausgeht.

(Übrigens haben Banker ein ähnliches Problem mit Whatsapp-Chats.)

Neue Zahlen zur Mental Health-Krise unter Jugendlichen

piqer:
René Walter

Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC hat einen neuen Bericht über die Mental Health-Krise unter Jugendlichen veröffentlicht. Die Zahlen bieten nach wie vor großen Anlass zur Sorge, erst vor wenigen Tagen hatte ich an dieser Stelle über eine neue Studie geschrieben, die Veränderungen in der neuronalen Entwicklung von Teenagern durch die häufige Nutzung von sozialen Medien nachwies.

Die Berichterstattung über diesen neuen Bericht sieht vor allem Covid-19 als auslösenden Faktor, eine nähere Betrachtung der Zahlen allerdings zeigt, dass die Trends in den Statistiken seit mehr als zehn Jahren zu beobachten sind.

Jonathan Haidt setzt sich in seinem neuesten Newsletter-Beitrag mit dem Bericht auseinander und legt anhand langfristiger Statistiken seit den 1980er-Jahren dar, warum der gemeinsame Faktor dieser Entwicklungen mutmaßlich vor allem in sozialen Medien zu suchen ist. Die Graphen zu diesen Statistiken zeigen eine charakteristische Hockeystick-Kurve ab den Jahren um 2010.

Haidts Antwort auf die Frage, warum Covid-19 nicht den auslösenden Faktor der aktuellen Mental Health-Krise unter Jugendlichen darstellt:

„Gen Z’s in-person social lives were decimated by technology in the 2010s. They were already socially distanced when Covid arrived“ und „Because Covid restrictions sent girls ever deeper into the arms of social media, which is the largest single cause of the teen mental health epidemic that began around 2012.“

Mir erscheinen diese Antworten, grade im Kontext der langfristigen Entwicklung, sehr viel schlüssiger als die beschwichtigenden Erklärungsversuche der Journalisten.