Fremde Federn

KI-Mittelklasse, Enshittification, Internet-Ökonomie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Weshalb Deutschland vom europäischen Musterschüler zum Problembären wurde, warum KI eine Chance für abgehängte Mittelschichten ist und wie Unternehmen mit der Schädigung von Gesundheit Umsatz erzielen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Vom Musterschüler zum Problembären

piqer:
Jürgen Klute

Lange hielt Deutschland sich für ein eher vorbildliches Mitgliedsland der Europäischen Union. Doch schon seit einiger Zeit zeigt dieses Selbstbild Risse, zuletzt, weil die Bundesregierung auf Druck der FDP wiederholt EU-Gesetzgebungsverfahren in letzter Sekunde torpedierte oder es versucht hat. Doch offensichtlich steht die Berliner Bundesregierung nicht allein bei Gesetzgebungsverfahren in Brüssel häufiger auf der Bremse, sondern auch in Berlin, wenn es um die Umsetzung von EU-Richtlinien in mitgliedsstaatliches Recht geht. Das jedenfalls schreibt Nick Alipour in einem Artikel für das Nachrichtenportal Euractiv. Alipour bezieht sich dabei auf den aktuellen Binnenmarktbericht der EU-Kommission, der Deutschland in die unterste Kategorie einstuft – nur Ungarn erweist sich als noch schlechter als die Bundesrepublik in der Umsetzung von EU-Recht.

Der Autor zitiert aber nicht nur aus dem Binnenmarktbericht, er fragt auch nach den möglichen Ursachen für diese durchaus besorgniserregende Entwicklungen und nach den Folgen für die EU als Ganze.

Die neue KI-Mittelklasse

piqer:
Jannis Brühl

Ein positiver Blick auf die Disruption durch generative KI (und ein sehr langer Text, typisch fürs Noema-Magazin aus dem Think Tank des Investoren und Big Spenders Nicolas Berggruen). Arbeitsökonom David Autor vom MIT beschreibt die Technologie als Chance für eine abgehängte (untere?) Mittelschicht, den Vorsprung auf die Experten-Elite zu schließen, den diese sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat.

Die letzte große Innovationswelle – die Einführung des Computers – habe weniger gebildeten Menschen geschadet, weil sie überproportional den Experten geholfen hätte, zum Beispiel Anwälten und Ärzten. Die hätten nun keine händische Informationsverarbeitung durch Sekretäre, Assistentinnen etc. mehr gebraucht, so mehr Geld verdienen können und dazu Zeit gewonnen, Entscheidungen zu treffen – die Kernkompetenz von hochgebildeten Experten. Dadurch vergrößerte sich der Abstand zur den schlechtbezahlten Tätigkeiten, die für Autor nicht „körperliche“ Arbeit sind, sondern deren niedriger Status im Mangel an Entscheidungfähigkeit begründet liegt.

Most people understand that mass production lowered the cost of consumer goods. The contemporary challenge is the high and rising price of essential services like healthcare, higher education and law, that are monopolized by guilds of highly educated experts.

Hier komme nun – vor allem generative – KI ins Spiel. Sie helfe „einfachen“ Berufen, zu den hochbezahlten, monopolistisch organisierten Experten aufzuschließen:

AI could enable a larger set of workers possessing complementary knowledge to perform some of the higher-stakes decision-making tasks currently arrogated to elite experts like doctors, lawyers, coders and educators

Er führt Studien an, denen zufolge Programmierer, (Content/Marketing-)Autoren und Kundendienstmitarbeiter dank generativer KI wie Chat-GPT schneller ein höheres Level an Expertise erreichen konnten. Interessanterweise half dabei die Technologie den Schwächsten am meisten: The least effective writers in the ChatGPT group were about as effective as the median writer without ChatGPT — a huge quality jump.

Ein spannender Blick, der die Komplexität der Veränderungen durch Automatisierung (ob mit KI oder ohne) zeigt und historisch einordnet. Der Fokus liegt auf Gruppen, die in der Debatte sonst häufig nicht beleuchtet werden oder direkt als „KI-Verlierer“ abgestempelt werden.

Amerika und die Weltordnung

piqer:
Theresa Bäuerlein

Ab und zu kann es sehr interessant sein, sich den Podcast von Sam Harris anzuhören, eines US-Neurowissenschaftlers und Philosophen, dessen Publikum sich in der Landschaft der USA in der politischen Mitte bzw. Mitte-rechts befindet. Man findet bei ihm deswegen zum Beispiel eine ausgeprägte Woke-Skepsis, aber nicht das bei Rechten beliebte Woke-Bashing. Ich bin zahlende Abonnentin dieses Podcasts, weswegen ich einzelne Folgen in voller Länge teilen kann (wer nicht zahlt, kannst sonst nur die Hälfte hören). Mit dem Link, den ich hier piqe, ist also die Podcast-Folge „America & World Order“ in voller Länge hörbar (möglicher weise muss man trotzdem eine E-Mail-Adresse dalassen)

Die Überschrift ist etwas irreführend in ihrem Versprechen, denn es geht eigentlich nicht um die ganz Welt, sondern vor allem um die Ukraine und Nahost: darum, wie die US-Politik in Bezug auf diese beiden Kriege im Moment funktioniert und was sich ändern könnte, falls Trump wiedergewählt wird.

Der Gesprächspartner hierfür ist Bret Stephens, Kolumnist bei der New York Times und Chefredakteur von Sapir, einer jüdischen Vierteljahreszeitschrift. Stephens ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen und war u.a. Chefredakteur der Jerusalem Post und außenpolitischer Kolumnist des Wall Street Journal, hierfür bekam er 2013 den Pulitzer-Preis für Kommentare. Im Jahr 2022 wurde ihm von der russischen Regierung ein lebenslanges Einreiseverbot für das Land erteilt.

Der Podcast dauert anderthalb Stunden, ich persönlich fand ihn so spannend, dass er sich deutlich kürzer angefühlt hat.

Warum und wie überleben Demokratien überhaupt?

piqer:
Thomas Wahl

Im MERKUR wirft Thomas Etzemüller, mit Blick auf die 30er Jahre, die Frage auf, wie stabil Demokratien damals eigentlich waren und heute wieder sind. Das eigentliche Wunder ist doch, warum und wie so komplizierte Gebilde wie Demokratien funktionieren. Aber unser Blick in das 20. Jahrhundert beschäftigt sich meist damit, warum sie so oft pervertierten und untergehen konnten – und nicht, warum doch einige Bestand hatten und sich die Idee der Demokratie nach dem 2. Weltkrieg wieder erholt hat.

Der Autor hat sicher recht, viele unserer einflussreichen und vielgelesenen Historiker haben in ihren Geschichtswerken zu Europa im 20. Jahrhundert diese Ambivalenzen eher eliminiert:

Die Titel sind sprechend: Age of Extremes (Eric J. Hobsbawm), Höllensturz (Ian Kershaw), The Dark Valley (Piers Brendon), Das Europa der Diktaturen (Gerhard Besier). In solchen Darstellungen wird die europäische Geschichte latent in eine Korridorperspektive gezwängt: Der politische Gegensatz von Demokratie und Diktatur zieht sich von der (stalinistischen) Sowjetunion über das Deutschland des (totalitären) »Sonderwegs« hinüber zum demokratischen Großbritannien, nebenan Frankreich, im Hintergrund die USA. Länder jenseits des Korridors, die dieses Bild modifizieren würden, und die zentraleuropäischen, etwas eigentümlichen Demokratien der Niederlande oder Belgiens, die ihre Konflikte damals erfolgreich in »Säulen« gegossen oder in ein permanentes Krisenmanagement transformiert hatten, werden in der Regel ignoriert.

Aus der Sicht einer solchen Geschichtswissenschaften ergibt sich fast zwangsläufig das Bild der erneut drohenden Zerstörung der europäischen Demokratien. Zumindest, wenn wir nicht mit sehr dramatischen Aktionen dagegenhalten.

Wieder scheint eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften zu überfordern. Damals aufgrund der Folgen des Weltkriegs, von Inflation und der unkontrollierbaren Weltwirtschaftskrise, die im Mittleren Westen der USA mit einer ökologischen Katastrophe einherging. Heute Klimawandel, Kriege und Flüchtlingskrise. Die Zeit politischer Utopie scheint beendet, und mit zahllosen Feuerwehraktionen bekommen die westlichen Gesellschaften ihre Wald- und politischen Brände nur noch mühsam und kurzfristig unter Kontrolle.

Dabei sollte, mit Luhmann gesprochen, klar sein, dass man in modernen komplexen Gesellschaften Stabilität nur bedingt erwarten darf. Dank zahlloser Variationsmöglichkeiten lassen sich gegebene Relationen und Strukturen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dauerhaft stabilisieren. Wir werden also mit Friktionen, Instabilitäten und nicht planbaren Übergängen in neue Strukturen leben müssen. Wie können wir helfen, diese mit möglichst wenig Gewalt und totalitären Maßnahmen zu überstehen?

Indem wir analysieren, wie Brandstifter und Opportunisten schon einmal vorgegangen sind? Oder indem wir diejenigen optimistischen Pragmatiker in den Blick nehmen, die seinerzeit Demokratien am Laufen gehalten haben? Warum gibt es zahlreiche Forschungsprojekte zu Gewalt und antidemokratischen Akteuren, aber keines – oder kaum eines – zur friedlichen Kooperation? Ergibt sich das aus der Sache selbst oder bloß aus heutigen Rezeptionsmustern? Aus der selbstzerstörerischen Dynamik der medialen Aufmerksamkeitsökonomie – Zersetzung »sells« –, an der Lust an multiplen Katastrophen? Wenn wir so betont einseitig auf die Geschichte der Demokratie blicken – warum reden wir uns dann ein, sie verteidigen zu wollen?

Das Problem dabei fängt schon bei der Interpretation und den Entscheidungen ab, wann Staaten eigentlich Demokratien sind. Etzemüller weißt mit vielen interessanten Beispiel auf die Unschärfe solcher quantitativer und/oder qualitativer Analysen und Konzepte hin.

Stehen mehrere Parteien zur Wahl? Verhindert ein Staat Wahlbetrug? Ist die Regierung gegenüber dem Parlament verantwortlich? Liegen das Bruttosozialprodukt unter oder über 200 Dollar, der Urbanisierungsgrad unter oder über 50 Prozent, die Alphabetisierungsquote unter oder über 75 Prozent? Sind mindestens 50 Prozent der Erwachsenen – oder der Männer – wahlberechtigt? Schon mit dem Kriterium »universales Wahlrecht« könnte man »die USA erst ab 1920, Großbritannien erst ab 1928 und etwa Belgien, Frankreich und die Schweiz in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt als Demokratien einstufen«. Deshalb macht der Politologe Steffen Kailitz für diese Zeit gar keine vollendete Demokratie aus.

Die kurze Schilderung von Beispielen unterschiedlicher europäischer Staaten, die sich damals als „Demokratien in einer Grauzone zwischen Scheitern und Überleben“ bewegten, ist sehr lesenswert. Aber bewusst auch irritierend. Ich denke, wir müssen in unseren Auseinandersetzungen zu Demokratie und ihren Gefährdungen einerseits viel differenzierter und genauer werden. Andererseits aber auch skeptischer, irritierter, was unsere schwarz/weiß Narrative und „Feindbilder“ betrifft. Und gelassener?

Wie Unternehmen mit der Schädigung von Gesundheit Umsatz erzielen

piqer:
Ole Wintermann

Dass die konventionelle Produktion von verarbeiteten Lebensmitteln in den meisten Fällen klimaschädlich und deren Verzehr zudem gesundheitsschädlich ist, ist ja inzwischen in interessierten Communities ausreichend bekannt. Die Forschenden der University of Oxford haben dies aber mal in Relation zu den Umsätzen und Profiten der entsprechenden Unternehmen gesetzt.

Das Ergebnis zeigt, dass die Schädigung von Klima und Gesundheit ein lohnenswertes Geschäft ist: 7 der 10 größten „Lebensmittel“-Konzerne weltweit generieren 2/3 ihres Umsatzes mit ungesunden Produkten (die man eigentlich nicht als „Lebensmittel“ bezeichnen sollte). 90% der Online-Werbeausgaben in UK werden für den Verkauf von Schokolade, Chips, Keksen und Eis genutzt und zielen dezidiert auch auf Kinder. Verpackungen, die gezielt Kinder ansprechen sollen, sind bei den untersuchten Unternehmen Standard. Der Konzern Ferrero erzielt 100% seines Umsatzes durch sogenannte „Lebensmittel“, die reich an Fett, Zucker und Salz sind.

ExpertInnen aus dem Lebensmittelbereich fordern in UK seit Jahren das Verbot oder zumindest die signifikante Besteuerung dieser sogenannten „Lebensmittel“.

Aus Scheiße Geld machen, bis alles kaputt ist

piqer:
Antje Schrupp

„Enshittification“ hat der Blogger und Autor Cory Doctorow Ende 2022 die Tendenz des Internets getauft, immer mehr zu vermüllen. Ein Prozess, der mit der Ausbreitung von so genannter „künstlicher Intelligenz“ noch einmal enorm an Fahrt aufgenommen hat. Die Menge von Content-Müll nimmt in einem solchen Tempo zu, dass es nur eine Frage der Zeit erscheint, bis das Internet unbrauchbar ist, weil sich sinnloses Rauschen nicht mehr von nützlichen Inhalten unterscheiden lässt.

Gleichzeitig steigt der Anteil der „Renten“, also von Einkommen, die im Internet generiert werden, ohne dass ihnen notwendige Arbeit oder andere Kosten gegenüberstehen. Wie früher im Feudalismus leitet sich Einkommen wieder allein aus dem Besitz von Rechten oder Macht ab – also genau dem, was die klassischen liberalen Ökonomen des 19. Jahrhunderts kritisiert hatten.

„Aus Sicht der politischen Ökonomie wirkt der aktuelle Moment im Kapitalismus wie ein riesiger Heist von einigen wenigen am Rest der Gesellschaft und die neoklassische Ökonomie mit ihrer verharmlosenden Markterzählung dient ihnen als Coverstory“,

schreibt Michael Seemann in der sechsten Ausgabe seines neuen Newsletters „Krasse Links“, in der es um die politischen Ökonomie des Internet geht. Das ist lesenswert für alle, die sich tiefere Einblicke in die Internet-Ökonomie wünschen – so wie übrigens der Newsletter insgesamt. Er kommt jeden Sonntag und enthält Links und Analysen rund um das Verhältnis von Internet, Ökonomie und Politik.