Fremde Federn

KI-Blase, Nachhaltigkeits-Phillipika, Klimaklagen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Deutschland wieder zum kranken Mann Europas geworden ist, welche Hilfen die Ukraine jenseits von Waffenlieferungen braucht und wie sich Klimaforschende beim Blick auf das Hitzejahr 2023 fühlen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Deutschland und seine Wirtschaft – vom Vorreiter zum Nachzügler

piqer:
Thomas Wahl

Das Bild von Deutschland als kranker Mann Europas ist zurück. Der Economist widmet daher den Problemen Deutschlands, wie schon einmal vor 24 Jahren, gleich zwei Artikel – interessanterweise ebenso wie den Problemen Chinas.

Deutschlands Probleme, so die Einschätzung in dem einen Artikel, seien tief in Fehlern der Vergangenheit verwurzelt, sind vielfältig untereinander vernetzt oder verkoppelt – und es gibt wenig Anzeichen dafür, dass sie demnächst behoben werden.

Der zweite Artikel ist ein wenig optimistischer – die Dinge seien nicht so alarmierend wie 1999. Die Arbeitslosigkeit liege heute nur noch bei etwa 3%, das Land ist reicher und offener geworden. Aber die Deutschen werden zunehmend unzufriedener und sehen, dass ihr Land nicht so gut funktioniert, wie es sollte. Vier von fünf Bürgern sagen z. B. in Umfragen, dass Deutschland kein fairer Ort zum Leben sei. Also wird wohl wieder eine gehörige Dosis an Reformen benötigt.

Was sind nun diese Probleme? Deutschland hatte nach 2000, nach der Agenda 2010 bis etwa 2020, einen sehr guten Lauf.

Ein Jobwunder (Beschäftigungswunder), das in den 2000er Jahren begann, erreichte seine volle Blüte, weitgehend ungehindert durch die globale Finanzkrise von 2007-09, als Arbeitsmarktreformen, die von Gerhard Schröder, Kanzler von 1998 bis 2005, eingeführt wurden. Kombiniert mit Chinas Nachfrage nach Industriegütern und einem Boom in den Schwellenländern, konnten so 7 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden. Von Mitte der 2000er bis Ende der 2010er Jahre wuchs die deutsche Wirtschaft um 24%, verglichen mit 22% in Großbritannien und 18% in Frankreich. Angela Merkel, Kanzlerin von 2005 bis 2021, wurde für ihre durchdachte Führung gelobt. Der Populismus der Trump-Brexit-Variante galt als Problem anderer Länder. Deutschlands Sozialmodell, das auf engen Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern aufbaut, und sein kooperativer Föderalismus, der das Wachstum im ganzen Land ausbreitete, begeisterte viele Kommentatoren, …

Genau diese überdurchschnittliche Leistung verführte zu Selbstgefälligkeit, aber sie beruhte auch auf „alten“, konventionellen Industrien und sie verschleierte den Mangel an Investitionen in neue Industrien. Diese Selbstgefälligkeit und

der Zwang zur Haushaltsdisziplin haben dazu geführt, dass zu wenig öffentliche Investitionen getätigt wurden, und zwar nicht nur in die Deutsche Bahn und die Bundeswehr. Insgesamt sind die Investitionen in die Informationstechnologie im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weniger als halb so hoch wie in Amerika und Frankreich.

Dazu kommt ein überbordender Bürokratismus. Eine solche sklerotische Verwaltung ist natürlich ein Hindernis, wenn sich Unternehmen, ja die ganze Volkswirtschaft an eine sich schnell verändernde Weltwirtschaft anpassen müssen. Dazu soll auch noch der gesamte Kapitalbestand, der auf fossilen Brennstoffen basiert, ersetzt werden.

Im Moment dauert es mehr als 120 Tage, bis ein deutsches Unternehmen eine Betriebslizenz erhält, verglichen mit weniger als 40 in Italien und Griechenland. Baugenehmigungen dauern mehr als 50% länger als der OECD-Durchschnitt.Klinische Studien sind so schwierig, dass Biotech-Unternehmen ihre Forschungszentren im Ausland einrichten. Fast 70% der Deutschen denken, dass der Staat überfordert ist.

Das Problem dabei – so der Economist – sei nicht der Mangel an Mitteln. Es liegt in der Natur der Verwaltung und an ihren Strukturen selbst. Beobachter zeichnen das Bild einer von Anwälten gesättigten Regierungsstruktur, die aber (gerade deswegen?) unfähig ist, die Politik zu steuern oder auch nur diese Berater richtig zu überwachen.

Olaf Scholz, der sozialdemokratische Kanzler des Landes, hat bisher wenig Interesse an einer tiefgreifenden Reform dieses Staates gezeigt und scheint mehr an Steuerregeln als an mutigen Veränderungen interessiert zu sein.

Drei weitere Problemfelder kommen hinzu – die sich verkomplizierende oder verschlechternde geopolitische Lage, der Klimawandel und die Verpflichtung, Kohlenstoffemissionen zu reduzieren sowie die alternde und schrumpfende Bevölkerung. Auch wenn das für alle entwickelten Länder zutrifft, hat Deutschland doch auch da einige besondere Schwierigkeiten.

Nach dem drastischen Signal aus dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem aggressiveren Auftreten Chinas muss und will der Westen die Lieferketten neu gestalten, um nicht mehr auf einen einzigen, nichtwestlichen Lieferanten angewiesen zu sein. Im Mittelpunkt hier China als globale Werkbank, aber auch als Absatzmarkt und Investitionsort.

Die entstehende Weltordnung wird für Deutschland einige Vorteile mit sich bringen. Unternehmen, die die Produktion wichtiger Vorprodukte, wie z. B. Halbleiter, ins Ausland verlagern oder Fabriken für neue Produkte, wie z. B. Elektrofahrzeuge, bauen wollen, könnten an deutsche Standorte gelockt werden.Tesla, ein Hersteller von Elektrofahrzeugen, hat bereits eine Fabrik in der Nähe von Berlin errichtet und plant, diese zum größten Automobilwerk Deutschlands auszubauen. Intel hat sich bereit erklärt, in Magdeburg (Mitteldeutschland) ein 30-Milliarden-Euro-Chipwerk zu errichten. Am 8. August kündigten tsmc und drei weitere Chiphersteller Pläne für eine 10-Milliarden-Euro-Fabrik in Dresden an.

Diese Investitionen sind allerdings für den deutschen Steuerzahler mit großem Aufwendungen verbunden. Die Bundesrepublik wird Intel rund zehn Milliarden Euro an Subventionen gewähren. Weitere fünf Milliarden Euro gehen an tsmc. Die Politik scheint sich damit in ein globales Subventionsrennen zu begeben.

In der neuen Geopolitik deutet sich auch an, dass die industrielle Produktion möglicherweise nicht mehr die Cash-Cow ist, die sie bisher war. Von allen großen westlichen Volkswirtschaften aber ist Deutschland über den Warenhandel industriell am stärksten mit China verflochten.

Im vergangenen Jahr belief sich der Handel zwischen den beiden auf 314 Milliarden Dollar. Diese Beziehung wurde einst vom Gewinnmotiv bestimmt; jetzt sind die Dinge komplizierter.

So verlieren die deutschen Autohersteller in China gerade den Kampf um Marktanteile gegen einheimische Konkurrenten. Auch dort findet ein Kampf um fortschrittliche Fertigung und robuste Lieferketten statt, gestützt auf

eine Flut von Subventionen zur Förderung der einheimischen Industrie, die entweder deutsche Unternehmen bedrohen oder Subventionen innerhalb der Europäischen Union verlangen wird.

Aufstrebende chinesische Autoproduzenten stellen besonders im Übergang zur Elektromobilität eine schnell zunehmende Bedrohung für Deutschlands berühmte alte Marken – BMW, Mercedes, Porsche, Volkswagen – dar. Heute schon beträgt die Marktkapitalisierung der vier Unternehmen zusammen nur weniger als die Hälfte der von Tesla.

Ähnlich wie bei der deutschen Wirtschaft als Ganzes funktionierte ihr Geschäftsmodell wohl einfach zu gut, um sich dynamisch auf die neuen Bedingungen umzustellen. Die chinesischen Autohersteller hingegen wetteten voll auf die wachsende Nachfrage bei Elektromobilen. Insgesamt

hat China im vergangenen Jahr 2,7 Mio. Fahrzeuge ins Ausland verkauft, viele davon unter den Marken westlicher Automobilhersteller, gegenüber weniger als 400.000 im Jahr 2015. Rund zwei Fünftel davon waren Elektro- oder Hybridfahrzeuge. So hat der deutsche Autovermieter Sixt kürzlich 100.000 Fahrzeuge bei dem chinesischen Hersteller BYD bestellt.

Diese Herausforderung mischt sich mit der ambitioniert vorgetragenen deutschen Klimapolitik, insbesondere mit der Energiewende.

Obwohl Deutschland eines der energieeffizientesten Länder in Europa ist – was bedeutet, dass der Abfall gering ist – verbraucht es aufgrund seiner großen industriellen Basis enorme Mengen an Energie.

Die Industrie in Deutschland benötigt etwa doppelt so viel Energie wie die nächsten großen Standorte Italien und Frankreich. Deutsche Verbraucher haben einen zwar sinkenden, aber immer noch viel größeren CO2-Fußabdruck als Franzosen oder Italiener. In der Zeit, als billiges russisches Gas keine Option mehr war, stieg Deutschland endgültig aus der Kernkraft aus. Unterlassene Investitionen in Netze, ein überbordendes Genehmigungssystem, aber auch lokale Widerstände behindern den Übergang zu billiger erneuerbarer Energie und drohen die Industrie weniger wettbewerbsfähig zu machen.

Aber es sind nicht nur Deutschlands Infrastrukturen und die industrielle Basis, die Zukunftssorgen verursachen – die Demografie tut es auch.

Deutschland ist zwar, wie andere auch, ein altes Land aber ein auf besondere Weise altes. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter macht, genau wie in Amerika, 64% der Gesamtzahl aus. Dennoch liegt das Durchschnittsalter Deutschlands bei 45 Jahren, verglichen mit 39 auf der anderen Seite des Atlantiks. Da der Babyboom in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Kombination aus Hungersnot, Zerstörung und Vertreibung verzögert wurde, gibt es jetzt eine große Zahl von Arbeitnehmern, die kurz vor dem Ruhestand stehen.

Dieses abrupte Ausscheiden geburtenstarker Jahrgänge aus dem Erwerbsleben macht es zunehmend schwieriger, Arbeitsplätze zu besetzen. Das ist eine der größten Sorgen des viel gepriesenen deutschen Mittelstandes. Aber auch das Bundesland Berlin kann nicht einmal die Hälfte seiner Lehrstellen mit qualifiziertem Personal ausstatten.

Ohne Zuwanderung oder mehr Frauen und Ältere wird der Arbeitsmarkt bis 2035 sieben Millionen seiner 45 Millionen Arbeitskräfte verlieren, rechnet Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, einem Think-Tank, vor. Wie er anmerkt: „Die nackten Zahlen sind dramatisch“.

Das alles zeigt, damit Deutschland in einer fragmentierteren, grüneren und alternden Welt weiter gedeihen kann, muss sich nicht nur sein Wirtschaftsmodell anpassen. Der Economist (und nicht nur er) mahnt daher eine Agenda 2030 an. Wie vor zwei Jahrzehnten sollte Deutschland auch heute eine Transformation gelingen.

Es riecht nach KI-Blase

piqer:
Jannis Brühl

Nach dem Irrsinn des Krypto- und des Metaverse-Hypes bestand natürlich von Anfang an der Verdacht, dass sich auch die Aufregung um KI in einer Blase münden könnte. Doch die Stimmen der Zweifler waren kaum zu vernehmen. Zu dramatisch waren die Screenshots von ChatGPT-Antworten in sozialen Medien. Zu faszinierend die Chat-Selbstversuche am eigenen PC oder Handy. Zu entschlossen Google, Meta und Microsoft sowie viele andere etablierte Unternehmen, die sich auf das Thema stürzten und Abermilliarden investierten.

Zum einen erlahmt mittlerweile natürlich die mediale Aufmerksamkeit für das Thema etwas. Zum anderen muss sich nun aber klären, was beziehungsweise ob die gigantischen Investitionen überhaupt irgendwelche Früchte tragen werden. Die Washington Post hat in einem knappen Überblick zusammengestellt, warum Skepsis angebracht ist. Der sollte zumindest für die Eiligen Pflichtlektüre vor allen weiteren Diskussionen sein (mehr in die Tiefe geht zum Beispiel der Substack AI Snakoil von Arvind Narayanan und Sayash Kapoor – den ich hier interviewt habe).

Zunächst: Die mittlerweile legendäre Zahl der 100 Millionen Nutzer, die ChatGPT binnen drei Monaten nach dem Start gewinnen konnte, sind nicht wirklich korrekt – es handelt sich um eine schräge Interpretation ganz im Sinne von Open AI. Die Zahl gilt als Beleg dafür, dass wir einen außergewöhnlichen Moment der Technologiegeschichte erleben.

Was dafür fehlt, sind handfeste Zahlen: Wie viel haben Microsoft und Google tatsächlich mit ihrer generativen KI-Offensive verdient? Ist KI nicht vielleicht ein Milliardengrab? Die Konzerne sind in dieser Frage ebenso intransparent wie bei Details zur genauen Funktionsweise und Trainingsdaten ihrer Sprachmodelle.

Post-Reporter Gerrit de Vynck erinnert daran, dass die Tech-Branche mit Flops gepflastert ist: Dot-Com, Social Media-Seiten, die keiner wollte, Krypto, Metaverse, und als Dauerbrenner: selbstfahrende Autos

But it’s still unclear how and when this technology will actually become profitable — or if it ever will…“generative AI” is incredibly expensive to build and run — from specialized chips to data server computing power to expensive engineers.

Die entscheidende Frage dürfte wohl sein: Kann generative KI wirklich ein Quantensprung oder nur eine graduelle Verbesserung bestehender Technologie – denn dann wäre sie schlicht zu teuer:

 “At the end of the day, AI is just software, it’s expensive software,” Andrew Harrison, CEO of venture capital firm Section 32, said. “It’s low-margin software unless it does something that’s 10 times better.”

„Time is up!“ – Eine Nachhaltigkeits-Phillipika

piqer:
Dominik Lenné

Mark Beneneke ist Kriminalbiologe, überzeugter Veganer, klimawissenschaftlich breit informiert und absoluter Schnellredner. Hörer von Radio 1 in Berlin kennen ihn aus der Samstags-Vormittags-Sendung, wo er oft über absonderliche Ergebnisse der Wissenschaft referiert.

In dieser anderthalbstündigen Aufzeichnung eines an der TU Dortmund gehaltenen Vortrags geht er durch das ganze Elend der Klimakrise. Die Vorlesung ist wie ein Schlag vor den Kopf mit dem Vorschlaghammer.

Er hat sehr dezidierte Ansichten, die aber alle begründet sind, und bringt eine enorme Detailfülle, wie überall auf der Welt das momentane lokale wirtschaftliche Interesse über die Sorge für das wertvolle System Erde obsiegt. Sei es bei den Erdöl-Förderungsgenehmigungen von Biden, dem europäischen Geld für die afrikanische Pipeline EACOP (East African Crude Oil Pipeline), bei den spanischen Erdbeerbauern, die den benachbarten Naturschutzgebieten das Wasser abgraben, der deutschen Hochleistungslandwirtschaft, deren Ackergifte auch die Fauna von Naturschutzgebieten ruiniert oder, was mich besonders frappiert hat, der freimütigen Ankündigung der Arabischen Ölfirmen „jeden Tropfen Öl zu fördern und auch zu verkaufen“.

Ob es um den Anteil der Menschheit geht, die in Gebieten außerhalb der für Menschen und ihre Nahrungsproduktion möglichen Klima-Nische werden leben müssen¹ oder die 200 „Klimabomben“, das sind aktuelle Projekte deren jetzt schon bekannten Folgeemissionen unser Emissionsbudget um ein Mehrfaches aufbrauchen würden – wir kriegen einen Fakt nach dem Anderen um die Ohren gehauen, dass uns Hören und Sehen vergeht. Der eigentliche Vortrag dauert 1:16 h. Dann kommen Fragen.

Beneke ist nicht jedermanns Geschmack – aber seine Verve, sein Engagement, sein wacher, schneller Geist und seine Klarheit sind beeindruckend.

——–

¹ Bei den zu erwartenden 2,7 °C über Referenzwert und einer Bevökerung von 9,5 Millarden sind das 40%. Der Grund für diesen hohen Wert ist, dass die neu hinzukommende Bevökerung komplett in kritischen Gebieten im globalen Süden leben wird.

Hilfen für die Ukraine jenseits von Waffenlieferungen

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Jürgen Klute

Wenn über Hilfen für die Ukraine geredet wird, dann geht es zuerst um militärische Unterstützung und dann um die Frage, wie der Wiederaufbau der Ukraine gelingen und finanziert werden kann. Gemeint ist dann allerdings der Aufbau der zerstörten Städte und Infrastruktur. Ohne Zweifel ist dieser Wiederaufbau nötig und unumgänglich.

Übersehen wird aber oft, dass Kriege auch massive seelische Verletzungen und Zerstörungen verursachen, also die kriegsbedingten Traumata. Sie zu bearbeiten und soweit wie möglich zu heilen ist ebenso wichtig wie der Wiederaufbau der Städte und der Infrastruktur. Werden die Traumata nicht bearbeitet, wirken sie untergründig weiter – durchaus auch über mehrere Generationen. Wenn der russische Krieg gegen die Ukraine endlich ein Ende gefunden haben wird, dann wird die Bearbeitung der kriegsbedingten Traumata eine wesentliche Voraussetzung für einen Versöhnungsprozess zwischen der ukrainischen und der russischen Gesellschaft sein, der die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden kann und muss.

Das hier von mir empfohlene Interview der taz-Redakteurin Simone Schlindwein mit dem Gründer der ugandischen NGO Ayinet, Victor Ochen, thematisiert die Bearbeitung von kriegsbedingten Traumata in der Ukraine.

Auf den ersten Blick hat mich überrascht, dass es eine NGO aus Uganda mit einem afrikanischen Netzwerk ist, die der Ukraine derzeit die größte und kompetenteste Hilfe zur Bearbeitung kriegsbedingter Traumata zukommen lässt. Aber auf den zweiten Blick ist das durchaus schlüssig. Denn Afrika wurde in den letzten Jahrzehnten von grausamen Konflikten heimgesucht, die ganze Gesellschaften traumatisierten haben. In einem zweiten Artikel hat Simone Schlindwein die Dramatisierungen und die Entstehung der ugandischen NFO Ayinet beschrieben: Psychische Traumata und PTBS: Dem Trauma auf der Spur. In Afrika sind durch Kriege und Konflikte ganze Gesellschaften traumatisiert. Doch es haben sich Wege zur Heilung gefunden.

Aus diesen traumatisierenden Erfahrungen haben sich ausgehend von Uganda, das besonders hart betroffen ist, Selbsthilfeorganisationen entwickelt, die nun ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die Ukraine weitergeben. Leider ohne große finanzielle Unterstützung.

Für die deutsche Friedensbewegung, für die Bundesregierung und für eine feministische Außenpolitik (den Anspruch, eine solche zu betreiben, erhebt die aktuelle Bundesaußenministerin, was ich in der Sache richtig und gut finde) wären eine politische und auch eine finanzielle Unterstützung dieser Initiative sinnvoll. Das könnte der deutschen Außenpolitik einen friedensorientierten Charakter geben, der sich für mich aus der deutschen Geschichte als Verpflichtung ergibt, und eine strategische Richtung vorgeben, wie es nach dem Ende dieses Krieges weitergehen kann und soll, wie ein dauerhafter Frieden entwickelt werden kann nach den traumatisierenden Schrecken dieses Krieges – auf beiden Seiten. Denn jenseits der Frage nach der politischen Verantwortung für diesen Krieg und nach der juristischen Verantwortung für die begangenen Kriegsverbrechen traumatisiert dieser Krieg die jungen russischen Soldaten und Soldatinnen nicht minder als die ukrainischen. Und die Familien, die Angehörige durch diesen Krieg verlieren, leiden ebenfalls auf beiden Seiten unter diesen Verlusten.

Wie fühlen sich Klimaforschende beim Blick auf das Hitzejahr 2023?

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Ole Wintermann

Wie müssen sich Klimaforschende fühlen, die derzeit die Waldbrände, die maritimen Hitzewellen, die Schrumpfung des Meereseises in der Antarktis oder das Absterben der Lebensweisen in den Meeren vor Florida beobachten und seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, genau vor dieser Entwicklung gewarnt haben? Wie ergeht es einem Menschen, wenn er über Jahre die gelebte kognitive Dissonanz einer kompletten Gesellschaft „bei vollem Bewusstsein“ mitbekommt? Das waren die Fragen, die die Los Angeles Times dazu bewogen hat, bekannte Klimaforschende um ein kurzes Statement zu bitten. Derzeit nimmt der Hurricane Hillary Kurs auf Kalifornien und die Stadt Los Angeles.

In Summe gilt für die Klimaforschenden:

„For climate scientists, it doesn’t feel good to be proved right.“

Es zeigt sich anhand der Aussagen, dass die Forschenden überwältigt von der Gleichzeitigkeit und der Vielzahl der diesjährigen Ereignisse sind. Es fällt ihnen schwer, diese Eskalation zu verarbeiten.

Nachdenklich stimmt, dass geäußert wird, dass die ökologischen und auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der #Klimakrise unterschätzt worden sind.

„Climate change denial will cost us more and more lives.“

Die Forschenden verurteilen jede politische Verzögerung und verweisen auf die Menschenleben, die dieses politische Verzögern in Zukunft kosten wird. Und dabei ist es noch nicht einmal gewiss, wie viele Menschenleben die Entwicklung konkret kosten wird:

„Things are crazy. We’re in uncharted territory. And that’s scary. Frightening.“

Hinzu kommt die Erkenntnis vieler Forschender, dass diese Geschwindigkeit der klimatischen Eskalation von den meisten Forschenden unterschätzt wurde. Es treten schon heute Ereignisse ein, die erst für die zweite Hälfte des Jahrhunderts erwartet wurden. Was aber für die Eskalation gilt, gilt auch für die Deeskalation der Klimakrise. Die Bremsspur der fossilen Wirtschaftsweise und die Trägheit des Erdsystems werden dazu führen, dass uns das Problem noch Jahrzehnte begleiten wird.

Auf Basis all dieser Erkenntnisse verwundert es nicht, wenn es am Ende heißt:

„Climate action should be viewed as an act of survival.“

Allein Politik wird sich aus meiner Erfahrung heraus nicht trauen, ein solch existenzielles Problem so offen anzusprechen.

: Der nächste Erfolg

piqer:
Nick Reimer

Diesmal in den USA: Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen haben die Behörden des US-Bundesstaats Montana verklagt und Recht bekommen. Dass diese bei der Genehmigung von Öl- und Gasprojekten nicht die Folgen der Treibhausgase berücksichtigen, stünde dem verfassungsmäßigen Recht der Klä­ge­r:in­nen auf eine saubere und gesunde Umwelt entgegen, befand die Bezirksrichterin Kathy Seeley am Montag. Es war die erste erfolgreiche Klimaklage in den Vereinigten Staaten. Anwältin Barbara Chillcott hofft darauf, dass der Beschluss Präzedenzwirkung auf Klima-Klagen in anderen US-Bundesstaaten haben könnte.

Anwalt Roger Sullivan erklärte den Rechtsspruch so:

„Einfach gesagt muss die Regierung, die von dieser Generation gewählt wurde, ihre Pflicht erfüllen, auch künftigen Generationen ein stabiles Klima zu übergeben.“

Allerdings entscheiden die Behörden selbst, wie sie diesen Rechtsspruch umsetzen. Zudem ist noch Revision möglich.

Der Kampf für mehr Klimaschutz vor Gericht zählt für mich zum Spannendsten, was es es derzeit gibt: Zuletzt verklagte ein Bauer VW auf mehr Klimaschutz, 2021 verurteilte ein Gericht Shell zu Klimaschutz. Das klassische David-gegen-Goliath-Prinzip: In den Niederlanden verurteilte ein Gericht nach Klage von Klimaschützer:innen die Regierung zu mehr Klimaschutz. Die Stadt New York zog gegen ExxonMobil, BP, Chevron, ConocoPhillips und Shell vor Gericht. Hauptpunkt der Anklage: Die Fossilkonzerne seien verantwortlich für Klimaschäden in der Stadt: New York muss bereits heute immense Summen für den Schutz gegen den steigenden Meeresspiegel ausgeben. Im Frühjahr 2021 verklagten Kli­ma­schüt­ze­r:in­nen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht und argumentierten, die Klimapolitik der Bundesregierung werde sie künftig zu stark in ihren Rechten einschränken. Deutschlands oberstes Gericht gab ihnen Recht.

Und dann ist da auch noch die Klage eines peruanischen Bauern, der am Oberlandesgericht (OLG) Hamm den Fossilkonzern RWE auf Schadensersatz verklagt …

Fraunhofer IAO-Studie zum mobilen Arbeiten macht Hoffnung

piqer:
Ole Wintermann

Das Fraunhofer IAO in Stuttgart hat gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung eine Umfrage unter deutschen Unternehmen zum Stand des mobilen Arbeitens durchgeführt, die viele Zahlen enthält und sehr aufschlussreich ist.

Die Ergebnisse machen Mut, dass es mit dem Digitalstandort Deutschland vielleicht doch noch aufwärts gehen könnte:

  • 2/3 der Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern *generell* die Möglichkeit mobilen Arbeitens an.
  • 2 bzw. 3 Tage mobil arbeiten zu können, ist in der Mehrzahl der Unternehmen inzwischen möglich.
  • Fast 1/3 der Unternehmen stellt den Beschäftigten die Wahl des Arbeitsplatzes gar vollkommen frei.
  • In über 80% der Unternehmen gibt es inzwischen Betriebsvereinbarungen zum mobilen Arbeiten. Die Arbeitskultur in den Teams wird aber weniger durch die Betriebsvereinbarungen sondern vielmehr durch dezentrale Team-Vereinbarungen geprägt.
  • In 7% der Unternehmen ist auch das Arbeiten vom Ausland aus (Ferienort) möglich.

Auffällig ist eine begriffliche Unschärfe zwischen Telearbeit, Home Office, mobiler Arbeit und hybrider Arbeit. Die nächsten Jahre werden sicher zu einer Schärfung der Begriffe führen.

Auch auf die Immobilienbewirtschaftung hat der Trend zur Flexibilisierung, der vor allem auch durch den Fachkräftemangel angetrieben wird, Einfluss. 1/3 der Unternehmen haben die Bürofläche bereits verkleinert, ein weiteres Drittel denkt genau darüber nach.

Sorgen um die Produktivität oder Innovationsfähigkeit einer hybriden Arbeitskultur scheinen mit Blick auf die Zahlen relativ unbegründet zu sein. Nur eine Minderheit bzw. relative kleine Gruppe meint, sinkende Identifikation mit dem Unternehmen, eine negative Entwicklung der Produktivität oder ein zurückgehendes Interesse an Formen sozialen Austausches sei Folge des mobilen Arbeitens. Die jeweilige Mehrheit verneint diese negative Einschätzungen.

Und am Ende gilt die Erkenntnis aus vielen Vorgänger-Studien und -Umfragen: Sollte die Vernetzung der KollegInnen oder die Produktivität unter der hybriden Arbeit leiden, scheint die HR-Abteilung nicht die passenden Fortbildungen angeboten zu haben oder die Führungskraft nicht die Kompetenzen zum digitalen Führen zu besitzen. Insofern teile ich auch nicht die Aussage der Studie am Ende, dass die Gefahr einer „sozialen Erosion“ bestehe. Der Anteil der Beschäftigten, die das beklagen, beträgt gerade mal 1/3.