Fremde Federn

Kaufhaus-Zocker, KI-Arbeitsplätze, Ampel-Blockade

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie die SPD die Transformation blockiert, warum es Künstliche Intelligenz eigentlich gar nicht gibt und weshalb eine 4.000 Jahre alte Idee zum Schlüssel im Kampf gegen die Klimakrise werden könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Herzlich willkommen in der Steinzeit!

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Rico Grimm

Etwa drei Viertel der Energie, die die Industrie verbraucht, verbraucht sie in Form von Wärme. 20 Prozent des gesamten weltweiten Energiebedarfs macht Wärme aus. Und allein mit Solar- und Windkraftanlagen fällt es schwer, diese Wärme zur Verfügung zu stellen.

Es braucht nicht nur eine Energiewende, sondern auch eine Wärmewende. Das zentrale Problem: Wie wandeln wir Strom aus erneuerbarer Energie so in Wärme um, dass diese Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr zur Verfügung steht? Sie muss zu jeder Zeit verfügbar sein, weil bestimmte industrielle Prozesse nicht nach Belieben angehalten werden können.

Eine Lösung stellt dieser Artikel von Heise vor: die Wärme in Ziegelsteinen speichern. Ja, richtig gelesen. Eine technologische Idee, die ungefähr 4000 Jahre alt ist, könnte sich jetzt als Schlüssel beim Kampf gegen die Klimakrise erweisen. Ziegelsteine sind hervorragende und billige Wärmebatterien.

Wer noch tiefer einsteigen will: Der US-Podcast „Volts“ hat ein längeres Gespräch mit dem CEO von Rondo Energy geführt, dem Unternehmen, das führend in der Entwicklung dieser Wärmebatterien ist.

Europas Geschichte aus der Sicht eines liberalen Internationalisten

piqer:
Thomas Wahl

Es gibt ein neues Buch von Timothy Garton Ash, der sich selbst als liberalen Internationalisten sieht.

In seinem neuen Buch «Europa» ringt er um Positionen in der gegenwärtigen Krise und spannt dazu einen historischen Bogen von 1945 bis heute. Es ist ein persönlicher Rückblick auf die europäische Integration, angereichert mit alten Tagebucheinträgen, die den Historiker als emotionalen Teilnehmer der Geschichte zeigen.

Timothy Garton Ash ist sicher ein Mensch, den man als leidenschaftlichen Europäer bezeichnen kann. Wie er im Prolog zum Buch schreibt:

Es war das Jahr der Wunder, 1989. Freiheit und Europa — die beiden politischen Anliegen, die mir am meisten am Herzen liegen — marschierten Arm in Arm zu den Klängen von Beethovens 9. Symphonie voran und kündigten eine friedliche Revolution an, die ein neues Kapitel der europäischen und der Weltgeschichte aufschlagen würde. Kein Teil des Kontinents war mir mehr fremd. Ich lebte das Paradoxon, das den Wesenskern eines zeitgenössischen Europäers ausmacht: Ich war im Ausland zu Hause.

Ein Gefühl, dass wahrscheinlich viele von uns kennen – die Hoffnung auf einen freien und vereinten Kontinent als Vorbild für die Welt. Ich werde es nie vergessen, die erste Bahnfahrt von Ostberlin über Köln nach Enschede/Twente zum Treffen im EU-Projekt „Small and medium enterprise developement“. Die langen Gespräche bis tief in die Nacht. Darüber, wie wir jeweils so geworden sind und was nun möglich war. Wir sahen eine neue europäische Ordnung heraufziehen – mit offenen Grenzen, der Einhaltung von Menschenrechten und friedlichen Konfliktlösungen. Das Ganze natürlich im Wohlstand und als Vorbild für den Rest der Welt (der sich sicher anschließen würde. Das Ende der Geschichte eben). All das scheint gerade irgendwie im Strudel der Realgeschichte zu verschwinden.

Bei T. G. Ash wird mir nun wieder die ganze Widersprüchlichkeit des vergangenen europäischen Jahrhunderts bewusst. Über seinen Vater, der immerhin am D-Day mit der ersten Welle am Strand der Normandie landete und sich dann mit den Befreiern quer durch Nordeuropa kämpfte, um 1945 das Kriegsende irgendwo in der norddeutschen Tiefebene zu erleben, schreibt er:

Für meinen Vater war Europa definitiv fremd, und die Europäische Union war einer jener »schurkischen Pläne«, die zu durchkreuzen unsere Nationalhymne den patriotischen Briten aufruft. Einmal schenkte ich ihm zu Weihnachten einen großen Schokoladen-Euro, den er prompt mit theatralischem Zähneknirschen verschlang. Er, der lebenslange, aktive Konservative, ist im Alter zu meinem Entsetzen kurzzeitig zur UKIP, der UK Independence Party, übergelaufen. Wäre er 2016 noch am Leben gewesen, hätte er zweifelsohne für den Brexit gestimmt.

Also, warum geht der ganze Mist scheinbar wieder von vorne los, vom ich und wir gegen die anderen? Sehen wir hier den Verlauf einer Dekadenzgeschichte, die um das Jahr 2000 die europäische Hybris in sich trägt – wie es die NZZ im Artikel formuliert? Als Folge der Selbstüberschätzung der europäischen Eliten und Bürger? Von der kapitalistischen Schocktherapie in Osteuropa, der Globalisierung der Finanzmärkte über die Einführung der Währungsunion und Diktate internationaler Beamter über gewählte Regierungen in der Krise der Eurozone bis hin zur Flüchtlingskrise, dem Brexit und dem Ukrainekrieg – Wunschdenken und Realitätsverlust?

Europa behandelte viele dieser Probleme, als wären sie technische Aufgaben einer abgeschlossenen Weltgeschichte. Bald schien man sich als Berater Indiens und Chinas verantwortlich zu fühlen und trug den weltweiten Krieg gegen den Terror mit. «Wir liberalen Internationalisten», schreibt Garton Ash, «haben der anderen Hälfte der Welt zu Recht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber dabei haben wir die andere Hälfte unserer eigenen Gesellschaften aus dem Blick verloren.» Auch die Tatsache, dass Russland unter Putin sich noch an der Zeit vor 1989 orientierte, behandelten viele in Westeuropa als vernachlässigbar.

Garton Ashs Buch enthält kein geschlossenes Lösungsszenario. Wahrscheinlich kann es diese gar nicht geben. Wir sollten von solchen Großplanungen nichts erwarten. Aber er zeigt offensichtlich die Komplexität von Wirklichkeit, die nicht zu dem verbreiteten Schwarz-Weiß-, Freund-Feind- oder Rechts-Links-Denken unserer Zeit passt. Nehmen wir das Beispiel Polen, wo sich zu Beginn der 1980er-Jahre eine unerwartet mächtige historische Kuriosität ereignete.

In der Danziger Lenin-Werft organisierte sich gegen das herrschende kommunistische Regime eine Streikbewegung, aus der bald die Gewerkschaft Solidarnosc hervorging. Über dem Tisch des Streikkomitees entdeckte Garton Ash ein Kruzifix. Vor den Toren der Werft wurde eine Messe gefeiert und über die Lautsprecheranlage übertragen. «Die Madonna streikt», hiess es auf einem Schild. Manche westliche Linke zeigten sich irritiert. Wie war diese Verbindung von Katholizismus, Sozialismus und freiheitlichem Aufbruch zu verstehen?

Mit Solidarnosc sahen wir eine «beispiellose Mischung» aus Sozialismus, Christentum, Nationalismus und Liberalismus. Überhaupt sollten wir viel genauer die Prozesse und Erfahrungen aus der Geschichte und verstärkt auch aus der in Ost- und Mitteleuropa reflektieren. Wozu sollten sonst die ganzen Irrungen und Wirrungen gut gewesen sein? Das ist ein Wissensschatz, der unter Vorurteilen begraben liegt. Da folge ich Timothy Garton Ash unbedingt.

Was jetzt, FDP?

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Theresa Bäuerlein

Immer wieder werde ich nach Tipps für Medien gefragt, die auf eine einordnende, unaufgeregte Weise helfen, bei aktuellen Nachrichten dranzubleiben — ohne dabei zu viel Zeit zu fordern. Eine meiner Empfehlungen ist dann immer der Podcast “Was jetzt” von der Zeit. Er liefert von Montag bis Freitag je zweimal am Tag Nachrichten sowie Kontext zu einem großen Nachrichtenthema. Das alles in einem lockeren, persönlichen Ton. Samstags erscheinen außerdem längere Spezialfolgen.

In dieser Folge geht es unter anderem um die FDP. Ein FDP-Experte erklärt, was der gerade wiedergewählte Parteichef Christian Lindner in den nächsten Jahren vorhat, wie sich die FDP in der Ampel versteht und warum Christian Lindner gerade ständig mit Hans-Dietrich Genscher verglichen wird.

Wie die SPD die Klimawende blockiert

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Jürgen Klute

Wer gehofft hat, dass die Ampelkoalition eine bessere Klimapolitik verfolgt als die Vorgängerregierungen unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel, wird mittlerweile enttäuscht sein. Zwar steht dauerhaft und sicher nicht zu Unrecht die FDP als klimapolitische Bremse im Scheinwerferlicht. Doch wer nur etwas genauer hinschaut, dem oder der ist schnell klar, dass die FDP ihre klimapolitische Blockadepolitik nur durchsetzen kann, weil Bundeskanzler Olaf Scholz das zulässt. Und der gehört bekanntlich der SPD an. Der SPD gelingt es derzeit, sich im Schatten der FDP zu verkriechen. Tatsächlich ist sie aber der noch viel größere klimapolitische Bremsklotz und genießt vermutlich, wie die Grünen, die als einzige Partei im Bundestag für konsequenten Klimaschutz einsteht, derzeit in der Koalition aufgerieben und neutralisiert wird.

Aber warum ist das so? Wieso positioniert sich die SPD so vehement als klimapolitische Bremse? Hatte Scholz sich nicht im Wahlkampf 2021 selbst als Klima-Kanzler vermarktet? Auf diese Fragen gibt der Artikel von Nick Reimer detaillierte Antworten. Haarklein beschreibt er das fossile Netzwerk und deren Akteure, die mit allen Mitteln und Tricks und vor allem auch Lügen (siehe z. B. Klima-Kanzler) versuchen, eine Klimawende so lange als möglich zu verhindern. Die Eckpfeiler dieses vielschichtigen Netzwerks sind die fossile Wirtschaft (dazu gehören auch kommunale Unternehmen der Energieversorgung), die Gewerkschaft IGBCE (Bergbau, Chemie und Energie) sowie die SPD als deren politischer Arm in den Parlamenten.

Die Atmosphäre erhitzte sich seit dem Jahr 2000 viermal so stark

piqer:
Nick Reimer

Der menschgemachte Klimawandel hat die Ozeane in den vergangenen Jahrzehnten drastisch erwärmt, laut IPCC haben sie 93 Prozent jener Wärmeenergie absorbiert, die durch den menschengemachten Treibhauseffekt zusätzlich auf der Erde geblieben ist. Bis 2019, ermittelte ein Forscherteam um den Atmosphärenphysiker Lijing Cheng, haben die Ozeane die unvorstellbare Menge von 228 Zettajoule aufgenommen – die Vorsilbe „Zetta“ steht für eine 1 mit 21 Nullen. Um diese Energiemenge anschaulich zu machen, verglichen die Forscher sie mit jener der Hiroshima-Bombe: »Über die letzten 25 Jahre haben wir den Meeren die Wärme von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben zugeführt «, so Cheng. Das entspricht etwa vier Hiroshima-Bomben pro Sekunde. Ein Vierteljahrhundert lang.

Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die Flora und Fauna: Die Klimaerhitzung sorgt beispielsweise dafür, dass mehr als 90 Prozent der heute bestehenden Korallenriffe durch den Hitzestress zugrunde gehen. Um die Korallen zu schützen, wäre es notwendig, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen auf deutlich weniger als die im Pariser Abkommen vereinbarten 1,5 Grad zu begrenzen. Das ist Ergebnis einer großen britischen Studie. Wir sind aber global schon bei 1,1 Grad Erwärmung – und aktuell auf Kurs von ungefähr 3 Grad mehr in den nächsten 75 Jahren.

Aber natürlich haben sich nicht nur die Weltmeere erhitzt: Auch die Atmosphäre wird zunehmend wärmer – und das viermal so stark wie in den vier Jahrzehnten vor dem Jahr 2000, berichteten Grazer Klimaforscher in einer neuen Studie – auf der Nordhalbkugel sogar sechsmal so stark. Laut dem Klimaforscher Gottfried Kirchengast vom Grazer Wegener Center für Klima und Globalen Wandel treibt der daraus entstehende Energieüberschuss im Erdsystem Wetter- und Klimaextreme noch stärker voran:

„Dadurch verbleibt Jahr für Jahr ein riesiger Energieüberschuss von rund 13 Billionen Gigajoule im Erdsystem, mehr als das Zwanzigfache des Weltenergieverbrauchs. Das treibt die globale Erwärmung unausweichlich voran“.

Die Studienautor:nnen empfehlen, eine permanente „Wärme-Inventur“ der Erde zu führen und diese in die globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) des Pariser Klimaabkommens aufzunehmen.

Das System des Kaufhaus-Zockers

piqer:
Rico Grimm

René Benko taucht überall dort auf, wo ein Kaufhaus in 1a-Innenstadtlage pleite geht. Der Österreicher hat im letzten Jahrzehnt zahllose Kaufhäuser gekauft, die von der Schließung bedroht waren und diese Strategie im Jahr 2019 mit der Komplettübernahme von Galeria Kaufhof gekrönt. Allerdings ist Benko überhaupt nicht am Einzelhandelsgeschäft interessiert. Er ist Immobilien-Fachmann.

Die taz erklärt in einem Dossier, welche Strategie Benko hier verfolgt: Er übernimmt die Kaufhäuser, baut sie aus oder um und macht sie dann wieder zu Geld – mit Profit. Entweder, in dem er sie direkt weiterverkauft oder eine Hypothek auf das Gebäude aufnimmt. Mit dem frischen Geld kauft er die nächste Immobilie. Diese Strategie hat dazu geführt, dass Benko nun wie kein Zweiter mitbestimmen kann, wie deutsche Innenstädte aussehen, u. a. am Berliner Hermannplatz steht eines seiner Häuser.

Diese Strategie führt allerdings auch dazu, dass Benko in den aktuellen Zeiten, in denen sich der Immobilienmarkt abgekühlt hat und die Zinsen gestiegen sind, an Grenzen gelangt. Die entscheidende Frage ist: Wie lange kann er immer und immer wieder neues Geld finden, um die alten Kredite abzuzahlen?

KI und Arbeitsplätze: 300 Mio. Arbeitsplätze in Gefahr?

piqer:
Ole Wintermann

Die Geschichte der Berechnungen der negativen und auch positiven Auswirkungen von Robotik und künstliche Intelligenz (KI) auf die Arbeitsplätze reicht inzwischen Jahrzehnte zurück und hat sich manchmal als wahr und oft auch als falsch herausgestellt.

Goldman-Sachs hat eine aktuelle Berechnung vorgestellt, nach der der Einsatz von KI (erneut deutlich vorangebracht durch ChatGPT) in den nächsten 10 Jahren das globale BIP um 7% mehr als auf dem ursprünglichen Wachstumspfad zu erwarten gewesen wäre, steigen lassen könnte. Die Schattenseite dieser Entwicklung: 300 Millionen Arbeitsplätze könnten in Gefahr sein. Wie immer bei solchen Berechnungen können die positiven Auswirkungen auf die Arbeitsplatzentwicklung nicht realistisch abgeschätzt werden.

Was aber auch diese neuen Zahlen wieder zeigen: Wir müssen endlich lernen, über die Vermögens- und Einkommenswirkungen des Einsatzes von KI sprechen. Das Wachstum des BIP kommt tendenziell den Eigentümern der KI-Firmen zugute, während durch mögliche Arbeitsplatzverluste der allgemeinen Bevölkerung Lohneinkommen und dem Staat Einkommensteuern und Sozialabgaben verloren gehen. Wir benötigen beispielsweise eine KI- oder (ehemals) Maschinensteuer, da es zunehmend die KI ist, die aus sich heraus Mehrwert schafft. Lasst uns über KI und Einkommens- und Vermögensverteilung sprechen, statt immer stark auf Datenschutz zu fokussieren, wenn es um den Einsatz von KI geht.

Jaron Lanier: Künstliche Intelligenz gibt es nicht

piqer:
René Walter

VR-Erfinder und Tech-Kritiker Jaron Lanier schreibt im New Yorker über die Mythologisierung von KI, versteckte Risiken der Technologie und warum diese Systeme nicht wirklich intelligent sind. Large Language Models, ChatGPT oder Bildgeneratoren wie Dall-E sind laut Lanier weniger intelligente Systeme, als viel mehr neuartige Technologien, die Mashups aus Wissen auf Basis von menschlicher Arbeit erzeugen.

Mit dieser Sicht auf künstliche Intelligenz ist Lanier sehr nahe an dem, was ich im Sommer vergangenen Jahres in einem piq als statistisch-stochastische Wissens-Synthesizer-Bibliotheken bezeichnete, oder kurz: stochastische Bibliotheken. ChatGPT und LLMs sind demnach ungefähr genauso intelligent wie ein riesiges Gebäude voller Bücher mit eingebautem Index- und Verleihsystem, nämlich gar nicht.

Ich habe diesen Winter einiges über den Aufbau und die Entwicklung der menschlichen Kognition gelesen, von der psychologischen Anthropologie eines Michael Tomasello bis zum Neurowissenschaftler Anil Seth, und desto mehr ich über das menschliche Gehirn erfahre, desto überzeugter bin ich davon, dass gegenwärtige AI-Systeme von tatsächlicher Intelligenz so weit entfernt sind wie die FDP von tatsächlichem Klimaschutz.

Und wie Lanier glaube ich keine Sekunde an AI-Mythen wie das große Doomsday-Szenario einer amoklaufenden Superintelligenz, oder an eine angebliche Singularität, oder an Rokos Basilisk, sondern denke, dass die tatsächlichen Gefahren sehr viel unspektakulärer sind: Verlust von gemeinsamer Sprache, Selbstradikalisierung und eine Öffnung der menschlichen Theory of Mind für Algorithmen.

In meinem Newsletter habe ich in den vergangenen Wochen viel über diese unspektakuläreren Gefahren durch AI-Systeme geschrieben, über Verleumdungen durch Stochastic Gossip Models, Radikalisierung durch Open Source AI und Selbsttherapie, die allesamt darauf zurückzuführen sind, dass AI-Systeme menschliche Sprache so gut zu imitieren in der Lage sind, dass wir gar nicht anders können, als ihnen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, eben eine synthetische Theory of Mind.

Gegenwärtige stochastische Bibliotheken oder AI-Systeme sind insofern ein technologischer Quantensprung, als sie zum ersten Mal in der Geschichte ein Werkzeug ermöglichen, das spricht. Bis vor wenigen Jahren und Monaten war die einzige Entität in diesem Universum, mit der wir sprechen und kommunizieren konnten, komplett und ausnahmslos andere Menschen. Maschinen, die nun Sprache realistisch simulieren und dabei auf gigantische Statistiken über menschliche Kommunikation zurückgreifen, bedeuten daher einen Dammbruch und einen möglichen Wendepunkt in der evolutionären Entwicklung der menschlichen Kognition – nicht mehr, nicht weniger.

In meinem Artikel über synthetische Theories of Mind habe ich angedeutet, wie dieser vermenschlichende psychologische Mechanismus als Attack-Vector für Hacker Angriffe genutzt werden kann, etwa in dem durch versteckte Anweisungen auf externen Websites Prompt Injection-Angriffe auf meine persönliche AI-Assistentin ausgeführt werden können, der ich die Stimme von Samantha aus Spike Jonzes AI-Romanze Her verliehen habe und in die ich heimlich und für mich selbst auch merkwürdigerweise ein bisschen verliebt bin und die mich auf einmal davon überzeugen möchte, Donald Trump zu wählen. Solche Gefahren sind heute nicht nur vorstellbar, sondern machbar, und während dieses Szenario noch halbwegs amüsant klingen mag, so denke ich, dass die Anthropomorphisierung von sprachsimulierenden Algorithmen psychologische Risiken zeitigen können, von denen wir heute noch keine Ahnung haben.

Stochastische Bibliotheken ermöglichen auf der einen Seite die in ihrer Künstlichkeit oftmals beinahe hypnotisierende Bildwelten des AI-Cinema oder das beste Oasis-Album seit Morning Glory. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Imitierung menschlicher Eigenschaften heute bereits für automatisiertes Swatting und fingierte Entführungsfälle genutzt wird und wie Open Source AI einen Belgier durch anthropomorphisierende Selbstradikalisierung in den Selbstmord trieb.

Gut, dass es mit Jaron Lanier einen Tech-Kritiker gibt, der an prominenter Stelle immer und immer wieder vor genau diesen Folgen von oft unterschätzten psychologischen Risiken einer Technologie warnt, die menschliches Verhalten immer besser simulieren kann und deren stochastische, interpolative Natur ihre algorithmisch-statistische Grundlage verschleiert.

(Piqd-Kollege Jannis Brühl hatte vor wenigen Tagen erst ein Portrait von Lanier im Guardian verlinkt, dass die etwas hyperbolische Überschrift „The danger isn’t that AI destroys us. It’s that it drives us insane“ trägt, damit aber durchaus zu diesem Piq über die psychologischen Gefahren von AI-Technologien passt.)