In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Studie: Wirtschaftswachstum widerspricht Klimaschutz
piqer:
Nick Reimer
Kein Land mit hohem Einkommen hat das erreicht, was man zu Recht als „grünes Wachstum“ bezeichnen könnte – ein Wirtschaftswachstum, das mit Emissionsreduzierungen im Einklang mit dem Pariser Abkommen einhergeht. Das ist Ergebnis einer Studie, die im Fachjournal „The Lancet Planetary Health“ veröffentlicht wurde. Darin verglichen die Autoren Jefim Vogel (University of Leeds) und Jason Hickel (Universität Barcelona) die im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Reduktionsziele von 36 Industriestaaten mit ihren tatsächlichen Emissionen. Nur elf von ihnen schafften im Untersuchungszeitraum 2013 bis 2019 eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und den Treibhausgasemissionen: Australien, Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, Schweden, das Vereinigte Königreich und Österreich.
„Nichts an dem wirtschaftlichen Wachstum dieser Länder ist grün“, so Hauptautor Vogel. Die Diskrepanzen zwischen den Klimazielen und den derzeitigen Trends sind enorm: Im Schnitt würde es laut Studie noch rund 220 Jahre dauern, bis die Emissionen dieser Staaten um jene 95 Prozent reduziert werden, die im Pariser Klimaabkommen bis 2050 beschlossen sind. Auf dem Weg dahin würden die Staaten 27-mal so viel emittieren, wie im Pariser Abkommen vereinbart. Durchschnittlich wäre eine Entkopplung notwendig, die zehnmal so hoch ist wie jetzt – erst eine solche könnte als „grün“ bezeichnet werden.
Die Autoren stellen die wiederholten Behauptungen von Medien und Politikern infrage, dass das Wirtschaftswachstum in Ländern mit hohem Einkommen „grün“ gemacht werden kann, und widerlegen Behauptungen, dass „grünes Wachstum“ bereits stattfindet.
Passend zu der Studie ist eine Analyse des NewClimate Institute, das den Climate Action Tracker betreibt: Demnach ist die aktuelle Klimaschutzpolitik der Bundesregierung insgesamt „ungenügend“. Niklas Höhne vom NewClimate Institute:
„Die Koalition müsste angesichts der nahenden Klimakatastrophe an einem Strang ziehen, wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen und in den Notfallmodus schalten, anstatt sich in Parteipolitik zu verfangen.“
Ist ein föderales Europa möglich und wenn ja, wie?
piqer:
Thomas Wahl
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Europa einige Schockwellen ausgelöst. Viele Vorstellungen über die Zukunft unseres Kontinents und der Welt erwiesen sich schlagartig als Wunschdenken. Der hier empfohlene Artikel ist Teil der Diskussionsreihe bei EUROZINE „Lessons of war: The rebirth of Europe revisited„. Die Reihe knüpft an eine Initiative an, die Jürgen Habermas vor 20 Jahren, inmitten der Proteste gegen den Krieg der USA im Irak, startete. Das ehrgeizige, aber wohl unrealistische Ziel war u. a. die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit.
Dies, so argumentierte er, würde eine gründliche Erneuerung der EU und die Entstehung einer gemeinsamen europäischen Identität auslösen. Das Unternehmen trug den Titel „Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas“.
Aus dem Scheitern kann und soll gelernt werden. Das würde bei mir schon bei der Überschrift anfangen. Wer oder was soll da wiedergeboren werden? Eine neue Königstochter, die auf den Stier wartet? Ist das nicht schon die falsche Metapher? Richtig ist:
Die Europäische Union ist das Ergebnis von Kriegen. Von zwei Weltkriegen, die dem Europa, wie wir es kennen, beinahe ein Ende bereitet hätten. Eines kalten Krieges, der scheinbar für immer einen eisernen Vorhang durch Europa gezogen hat.
Aus dieser Nahtoderfahrung entstand die Idee (bzw. wurde sie wiederbelebt) eines neuen, vereinigten Europas. In einem schwierigen und widersprüchlichen Prozess entwickelte sich die Europäische Union. Ein Produkt aus gemeinsamen und auch unterschiedlichen Interessen, Wertvorstellungen und Ausgangsbedingungen ihrer Partner. Also stimmt es wirklich, dass Europa vor allem eine Idee ist?
… die Idee von den vielen Völkern, Sprachen und Kulturen, die auf einer lückenhaften Halbinsel am westlichen Rand der asiatischen Landmasse zusammengedrängt sind und eine gemeinsame Heimat und ein gemeinsames Schicksal teilen.
Ist Europa nicht viel mehr schon Produkt eines konkreten Entwicklungspfades (mit Irrungen und Wirrungen). Auch dann ist dem Autor Göran Rosenberg zuzustimmen:
Die multikulturellen Wallungen sind kein neues Merkmal Europas (auch wenn die jüngsten Migrationswellen sicherlich dazu beigetragen haben), sondern seine geopolitische Zwangslage und Herausforderung.
Folgt aus dem oben beschriebenen Zustand wirklich das „Ziel einer immer engeren Union“, das nur dann realistisch ist, „wenn Europa ein klares Verständnis dafür hat, was eine Föderation ist und sein kann“? Muss die Union nicht viel mehr nur in einigen wesentlichen Belangen enger sein und in anderen weniger eng? Muss sich eine funktionierende Föderation, oder wie auch immer die zukünftige Struktur Europas genannt wird, nicht schrittweise durch Versuch und Irrtum herausbilden, entwickeln? Ist die Kritik des Autors berechtigt, wenn er meint:
…. Europa hat ein Problem mit sich selbst, da seine Bewohner es noch nicht geschafft haben, entweder ein gemeinsames Zuhause oder ein gemeinsames Schicksal zu teilen. Viele Völker haben ihre Häuser in Europa gebaut, manchmal auf den Ruinen anderer, aber Europa selbst hat es nicht geschafft, jemandem die Heimat zu werden. Die EU ist ein Projekt geblieben, bei dem nur die konstituierenden Nationalstaaten in der Lage waren, das Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität zu fördern, das mit dem Begriff der Heimat verbunden ist.
Ist die Hoffnung in absehbarer Zeit realistisch, die EU für ihre Bürger zu einer Heimat zu machen? So sehr die meisten von uns ein Europa ohne Grenzen befürworten – die Loyalitäten, die Zugehörigkeitsgefühle scheinen nach wie vor eher bei den Nationalstaaten zu liegen. Der Übergang von einer europäischen Gesellschaft, in der die Beziehungen „Mittel zum Zweck“ sind, zu einer Gemeinschaft, ist, wie der Autor konstatiert, nicht gelungen. Eine Gemeinschaft, in der die Menschen ihre Bande auf Basis von „Liebe, Freundschaft, Nachbarschaft oder Blut“, also „auch auf einem breiteren Spektrum gemeinsamer Erinnerungen und Erfahrungen sowie auf gemeinsamen religiösen, beruflichen oder intellektuellen Traditionen und Affinitäten“, aufbauen, erscheint mir für eine Union aus Hunderten Millionen Menschen eher unrealistisch.
Die Hoffnung, dass der gemeinsame europäische Markt und die gemeinsame europäische Währung eine gemeinsame europäische Bürgerschaft auf der Grundlage einer aufstrebenden europäischen Identität fördern würden, hatte sich als schwer fassbar erwiesen. Immer wieder waren die Befürworter einer kohärenteren Europäischen Union und einer stärkeren europäischen Politik auf die politische Schwierigkeit gestoßen, demokratische Legitimität, Vertrauen und formale Macht von nationalen auf transnationale Institutionen zu übertragen.
Und es war m. E. nicht das „Gespenst eines europäischen Superstaates, der die nationale Selbstverwaltung mit Füßen tritt und die demokratische Kontrolle schwächt“, das dies verursachte. Es war die Art und Weise, wie eine umfassende Feinsteuerung in weiten Bereichen der Mitgliedsstaaten versucht wurde, die Subsidiaritäten ausschaltete und doch viele Probleme der Mitgliedsländer nicht wirklich löste. Nicht lösen konnte, ohne dabei letztendlich die „Nationalstaatengemeinschaft“ abzulösen. Es stimmt daher vermutlich:
Die Herausforderung für jede europäische Gesellschaft besteht also darin, Autorität und Legitimität in einer großen Anzahl von Nationalstaaten zu erlangen, in denen eine Vielzahl von gemeinschaftsbasierten Beziehungen weiter bestehen und entstehen. Die Beamten der Europäischen Union – die Kommissare in Brüssel, die Richter in Luxemburg und die Parlamentarier in Straßburg – mögen die legitimste transeuropäische Gesellschaftselite bilden, die je geschaffen wurde, aber sie waren eindeutig nicht in der Lage, die Autorität und Legitimität zu schaffen, die für die Einführung und Durchführung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik erforderlich ist. Dies wird höchstwahrscheinlich das Schicksal jeder europäischen Ordnung bleiben, die auf einem zwischenstaatlichen Konsens beruht.
Der Ausweg, den Göran Rosenberg vorschlägt, ist eine Föderation. Richtig verstanden als vertragliche Vereinigung von Nationen, um die vielen Gemeinschaften Europas im Rahmen einer gemeinsamen und einigermaßen legitimen sozialen Ordnung zusammenzubringen.
Föderationen sind vielleicht die raffinierteste Form der menschlichen Gesellschaft. Sie beruhen auf der Annahme von Vielfalt und Konflikten und nicht auf der Annahme von Homogenität. Die amerikanische Föderation wurde ausdrücklich auf der Grundlage inhärenter Konflikte in der Gesellschaft errichtet und schuf eine weitreichende Gewaltenteilung – um „Ehrgeiz gegen Ehrgeiz“ zu setzen, wie James Madison in The Federalist schrieb. Die amerikanische Föderation sollte keineswegs ein Superstaat sein. Der Begriff „Staat“ war seinen Bestandteilen vorbehalten. Die Bundesregierung sollte nur die Befugnisse haben, die sie von den Staaten ausdrücklich in einem verbindlichen Verfassungsvertrag delegiert haben.
Eine Föderation europäischer Staaten sollte daher den Umfang der supranationalen Entscheidungsfindung beschränken. Und zwar auf Felder, in denen die Notwendigkeit einer gemeinsamen kohärenten Politik klar erkannt und legitimiert werden kann. Ein Feld, das angesichts des Ukraine-Krieges eine viel engere Zusammenarbeit erfordert, ist sicher die europäische Sicherheitspolitik.
Angesichts der gegenwärtigen brutalen Erfahrung der inhärenten geopolitische Schwäche und Verwundbarkeit Europas wird die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik vielleicht besser verstanden und akzeptiert.
In einem anderen Diskussionsbeitrag der Reihe betont Volodymyr Yermolenko, ein ukrainischer Philosoph, dass die Kritik Habermas und Derridas an Bush gerechtfertigt und ihr Vorschlag, dass Europa die Welt in eine postimperiale Zukunft führen könnte, damals eine sympathische Idee war.
Heute jedoch, angesichts der völkermörderischen Invasion Russlands in die Ukraine, stellt sich die Frage, ob eine solche postimperiale Welt durch die von den beiden Philosophen vorgeschlagenen Mitteln erreicht werden kann. Das Europa, das sie sich vorstellten, war ein Europa des Dialogs, der Konversation und der Umarmung von Differenzen. Dies ist sicherlich eine würdevolle Idee. Das Problem ist, dass es machtlos ist, wenn man mit dem Bösen konfrontiert ist.
Es geht also weniger um eine Wiedergeburt als um einen Pfadwechsel für Europa, ein Pfad näher an die Realität.
Die Geld-Maschine – warum das Bloomberg-Terminal so erfolgreich ist
piqer:
Jannis Brühl
Seit der Digitalisierung fragen sich Verlage, wie sie Gewinne wie einst erzielen könnten. Was oft vergessen wird: Michael Bloomberg hat schon 1981 ein digitales Erfolgsmedium geschaffen, für das ein Fachpublikum seitdem Milliarden ausgegeben hat (ein Erfolg, den übrigens drei Jahrzehnte später auf etwas andere Weise Politico im Politikbetrieb wiederholte). Dieser Artikel aus dem Wahlkampf 2020, als Bloomberg versuchte, Präsidentschaftskandidat zu werden, hat mich noch einmal neu zum Nachdenken über die aktuellen Fragen von Technologie und Medien gebracht. Er beschreibt, wie das Bloomberg-Terminal die Welt der Börse eroberte. Das Terminal ist jene altmodische Spezialsoftware samt Keyboard, über die praktisch alle Finanzmenschen schnelle News und Daten beziehen und auch über allerlei Unfug chatten. Bis heute zahlen Profis 2.000 Dollar im Monat dafür, obwohl die Konkurrenz (z. B. von Thompson Reuters) billiger ist. Dass die Technologie ein Erfolg wurde und blieb, hat mehrere Gründe:
it’s generally a good tool for financial markets, and there aren’t competitors that are significantly better. But beyond that, it persists because it’s popular. Because there are so many people on the terminal, it keeps people there so they can get prices, order and execute trades, and send messages. And while the terminal can be hard to learn — it’s not very intuitive — once they pick it up, a lot of people don’t want to learn a new tool and run the risk of making a mistake. Making an error with a keystroke or function could cost valuable seconds and millions of dollars. The terminal is sticky.
Eine Geschichte über Medien und Technologie, die der Mainstream gerne übersieht (was eventuell auch daran liegt, dass viele traditionellere Menschen sich an alles was „Börse“ schreit, nicht rantrauen).
Die Energiewende als wirtschaftliche Chance für Afrika
piqer:
Jürgen Klute
Die Energiewende ist im Kern nichts anderes als eine tiefgreifende Umstrukturierung der globalen Wirtschaft. Das haben die teilnehmenden Staaten des afrikanischen Klimagipfels, der kürzlich stattfand, verstanden. Afrika verfügt über viele Ressourcen, die für eine globale Energiewende von zentraler Bedeutung sind. Deshalb böte es sich an, Afrika zu einem klimaverträglichen Industriestandort zu entwickeln.
Darum wissen afrikanische Politiker und Politikerinnen. Entsprechend selbstbewusst bringen sie sich in die globale Debatte um die Energiewende ein. Allerdings sind hohe Verschuldungen für einige afrikanische Staaten ein großes Problem. Deshalb liegt der Vorschlag auf dem Tisch, Schulden gegen Energie zu tauschen. Taz-Redakteurin Simone Schlindwein gibt mit dem hier verlinkten Artikel einen guten Einblick in den afrikanischen Energiegipfel und in das Pro und Contra des Vorschlages, Schulden gegen Energie zu tauschen.
Rahmstorf erklärt: Das „Wasserdampf-Katastrophengesetz“
piqer:
Ralph Diermann
Wenn sich Luft erwärmt, kann sie mehr Wasserdampf aufnehmen. Steigen die Luftmassen auf, können sie das Wasser nicht mehr halten – es regnet. Mit zunehmender Erderhitzung fallen die Regengüsse immer heftiger aus, wie Messreihen zeigen. Und das besonders stark, wo Meere oder große Seen angrenzen, da sie den Luftmassen zusätzlich Wasser bereitstellen.
Der dem zugrunde liegende Mechanismus der Wasseraufnahme heißt „Clausius-Clapeyron-Gesetz“, kurz CC-Gesetz – für Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ein „Katastrophengesetz“. Warum? Das erläutert er in seiner Kolumne für den „Spiegel“.
Denn neben dem Starkregen ist das CC-Gesetz auch (mit)verantwortlich für die zunehmenden Dürren, da erwärmte Luft Feuchtigkeit aus dem Boden zieht. Und: Der Wasserdampf wirkt wie ein Treibhausgas, trägt also auch direkt zur Erderhitzung bei.
All das erklärt Rahmstorf mit einer sehr angenehmen Informationstiefe: Er stellt die Zusammenhänge so komplex wie nötig, aber so einfach wie möglich dar – und das in einer sehr verständlichen, angenehm zu lesenden Sprache.
Sollten wir von uns gemachte Inhalte zum KI-Training hergeben?
piqer:
IE9 Magazin
Um seine großen Sprachmodelle, auf denen auch der KI-Chatbot ChatGPT beruht, weiterzuentwickeln, braucht die KI-Firma OpenAI – genau wie ihre Konkurrenten – immer mehr und immer bessere Daten. Die Daten müssen von Menschen erstellt sein, denn werden Künstliche Intelligenzen mit KI-generierten Daten trainiert, degenerieren sie. Fachleute sprechen sogar von „digitalem Rinderwahn“.
Um frische, menschengemachte Inhalte zu bekommen, hat OpenAI vor ein paar Wochen einen Webcrawler gestartet, der das Internet nach brauchbaren Datensätzen durchforstet, ähnlich wie es Google für seine Suchmaschine macht. Doch das konfrontiert all diejenigen, die Texte ins Internet stellen, mit dem Problem, das Kreative, deren Arbeiten ungefragt für das Training von Bildgeneratoren verwendet wurden, bereits seit vielen Monaten umtreibt: Soll man das Ergebnis der eigenen Kreativität einfach so für die Entwicklung kommerzieller KI bereitstellen?
Technisch ist es möglich, Crawler „auszusperren“. Und Medien wie die New York Times, aber auch die Süddeutsche Zeitung tun dies bereits. Der Artikel diskutiert, was dafür spricht, es ähnlich zu halten – und wie KI-Firmen ihre Datenlieferanten honorieren könnten.