Fremde Federn

Kalter Frieden, Permafrost, Günstlingskapitalismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Deutschland trocknet langsam aus, eine Übersicht über das Fit-for-55-Programm der EU und wie die Abkehr von einem überholten ökonomischen Leistungsindikator aussehen könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Energieökonom zu den Auswirkungen eines Gas-Embargos

piqer:
Daniela Becker

In Deutschland hat man sich anscheinend politisch gegen einen Importstopp von Energieressourcen entschieden und bezahlt brav weiter Geld nach Russland, während von dort aus ganze Städte ausradiert werden.

Ich halte das für moralisch verwerflich und denke auch, dass uns diese Entscheidung sowohl völkerrechtlich als auch ökonomisch noch einholen wird. Eine Wirtschaftskrise wird es nur hinauszögern – insbesondere wenn man jetzt den Menschen weiterhin „Normalität“ vorgaukelt mit solchen Irrsinns-Maßnahmen wie der debattierten Benzinpreisbremse. Mich regt das Thema derart auf, dass es besser ist, jemanden nüchtern darüber sprechen zu hören. Daher dieser piq.

Rund zwei Wochen nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine haben die Scientists for Future mit dem Energie-Ökonom und IPCC-Leitautor Prof. Andreas Löschel zum Thema „Energieautonomie“ aufgenommen.

Es ist ein 80-minütiger Rundumschlag über Fehler der Energiepolitik in der Vergangenheit, wie es aus energieökonomischer Sicht zur jetzigen Situation kam, wie Sanktionen sich auswirken könnten und was die aktuelle Notlage für die deutsche Klimapolitik bedeuten kann.

Herr Löschel kommt – unter Vorbehalt aller Unsicherheiten, die dieses Thema nun mal mit sich bringt – zu der Einschätzung, dass ein Gas-Embargo natürlich ein heftiger Einschnitt für die energieintensive Industrie wäre, gesamtwirtschaftlich aber zu bewältigen.

Ökonomischer Niedergang Russlands: Ursache und Folge des Krieges

piqer:
Michael Hirsch

Der Beitrag aus dem Onlinemagazin Sidecar der englischen Zeitschrift New Left Review ist eine sehr kompakte und erhellende Zusammenfassung der letzten 30 Jahre politökonomischer Entwicklung Russlands. Die postsowjetische Ära wird in drei Entwicklungsphasen unterteilt: 1991 bis 1998, 1999 bis 2008, und 2009 bis 2022.

Es wird sehr präzise erklärt, wie der Aufstieg Putins zustande kam. Er basiert auf den traumatischen Erfahrungen mit der ersten Phase des Übergangs: In den 90er Jahren war der Umbau des russischen Wirtschafts- und Eigentumssystems mit einer brutalen Privatisierung unter dem Einfluss US-amerikanischer Berater und Banker verbunden. Die mit diesem Modell verbundenen damaligen Eliten wurden von Putin als ‚liberal‘ und ‚westlich‘ gebranded und zum Feind erklärt.

Their shock therapy reforms caused industrial involution and soaring poverty rates, inflicting a national humiliation and imprinting a deep suspicion of the West on Russia’s cultural psyche. Given this traumatic experience, the most popular motto in Russia remains ‘the nineties: never again’.

Die Erfolgsgeschichte der frühen Regentschaft Putins hatte viel mit der wirtschaftlichen Erholung ab 1999 zu tun, die spätestens 2008 mit dem Finanzcrash zusammenbrach. Die darauf folgende dritte Phase war von vielfältigen Krisen und Erschütterungen geprägt. Dazu gehört vor allem eine auf die ökonomische Stagnation folgende beispiellose Kapitalflucht:

Russia’s developmental failure could also be seen in its high levels of financialization. As early as 2006, its capital account was fully liberalized. That measure, along with entry to the WTO in 2012, indicated a double allegiance: first, to the process of US-led globalization, whose keystone was the free circulation of capital; second, to the domestic economic elite, whose lavish lifestyle and frequent clashes with the regime required them to stash their fortunes and businesses abroad. Putin encouraged this outflow of domestic capital, even as he simultaneously adopted macroeconomic policies designed to bring foreign investment into Russia.

Die andere Seite dieses Prozesses war:

Hence, in the decade preceding the invasion of Ukraine, the Russian economy was characterized by chronic stagnation, an extremely unequal distribution of wealth, and relative economic decline compared to China and the capitalist core.

Die politischen Folgen waren unausweichlich:

In 2018, mass demonstrations against neoliberal pension reforms forced the government into a partial climbdown. They also revealed the increasing fragility of Putin’s regime, which is unable to deliver on its promises of economic modernization and adequate welfare policies. For as long as this trend continues to undermine his legitimacy, the president’s reliance on nationalist revanchism – and its military expressions – will become all the more intense.

Die Aussichten sind daher eher düster für Russland, mit einer absehbaren Dialektik von ökonomischem Abstieg und wachsender politischer Repression:

Facing economic hardship and political isolation after its adventure in Ukraine, the prospects for Russia are bleak. Unless it can secure a rapid victory, the government will falter as ordinary Russians feel the economic costs of war. It will likely respond by ramping up repression.

Das Übel fängt mit Rohstoff-Spekulationen an

piqer:
Silke Jäger

An den Finanzmärkten darf seit der Clinton-Administration unbegrenzt auf Rohstoffe spekuliert werden. Getreide, Öl, Gas, seltene Metalle – alles, was ein Land einführen muss, um die Bevölkerung mit Essen und lebenswichtigen Produkten zu versorgen, kann in Windeseile teurer werden (oder billiger). Die Unsicherheit, die dadurch entsteht, sorgt dafür, dass selbst kleinste Veränderungen im Marktpreis verheerende Auswirkungen haben können.

Beispiel Venzuela. Weil das Land ausschließlich auf Rohöl als Exportgut setzte, lohnte es sich kaum noch, andere lebensnotwendige Güter im eigenen Land zu produzieren. Venezuela wurde in fast allem abhängig vom Ausland. Als der Ölpreis abstürzte, stürzte das ganze Land mit ab. Heute lassen sich viele junge Venzuelanerinnen sterilisieren, weil sie sich nicht leisten könnten, Kinder aufzuziehen.

Der Dokumentarfilm reist zu Orten, die ganz unterschiedliche Katastrophen erlebt haben: Venezuela, Irak, Kenia, Guatemala und die Ukraine. Überall haben die Spekulationen, die in einem ganz anderen Teil der Erde statfinden, nämlich an den Börsen in New York und Tokio, zu schlimmsten Situationen geführt – auch zum Krieg in der Ukraine.

Ich empfehle den Film ganz dringend anzusehen, weil er hilft zu verstehen, was wir genau ändern müssten, um Kriege und Elend in Zukunft abzubauen.

Eine Übersicht über das Fit-for-55-Programm der EU

piqer:
Dominik Lenné

Durch diese schlimme Invasion und die massiven, kurzfristig nötigen Maßnahmen ist die mittelfristige Klimapolitik etwas in den Hintergrund geraten. Dies ist quasi ein Service-piq für Menschen, die sich für die EU-Anstrengungen in der Richtung interessieren, die durchaus weiterlaufen. Der Text ist nicht kurz, aber auch nicht zu lang und enthält viele Links zum Weiterlesen.

Das Ziel der EU ist es, bis 2030 die Netto-Treibhausgasemissionen auf 45% des Werts von 1990 abzusenken. Einen Teil des Weges haben wir schon geschafft; wir sind ungefähr bei 75%. Hinter dem neckischen Namen „Fit for 55“ verbergen sich eine ganze Reihe von Gesetzesprojekten, die in unterschiedlichen Bereichen dazu beitragen sollen, das Ziel zu erreichen.

Die m. M. n. wichtigste Komponente ist die sinkende Emissionsobergrenze für CO2, und zwar sowohl für Industrie und Elektrizität (das bekannte, laufende EU-Emissionshandelssystem EU-ETS), wie auch für Gebäude und Verkehr. Für Letztere ist ein zweites Obergrenzensystem in Planung, das EU-ETS 2. Die Motivation dafür, ein zweites System zu kreieren, ist, dass in einem einzigen System mit einem einzigen Preis die Dekarbonisierung in den verschiedenen Bereichen nacheinander erfolgen würde – in der Reihenfolge ihrer Dekarbonisierungskosten. Diese werden aber im Bereich Verkehr und Gebäude als deutlich höher angesehen als im bisherigen EU-ETS-Bereich, der deshalb einem ungesund hohen Umwandlungsdruck ausgesetzt wäre. Mit dem Zwei-Preise-Ansatz verspricht man sich eine gleichmäßigere, harmonischere Dekarbonisierung.

Bei allen Emissionspreissystemen entstehen deutlich höhere relative Belastungen für die ärmeren Schichten und die ärmeren Staaten. Um diese abzufangen, ist der Klima-Sozialfonds vorgesehen.

Eine weitere sehr wichtige Komponente ist der Grenzausgleich CBAM (carbon border adjustment mechanism). Aus Konkurrenzangst-Gründen erhält die EU-Industrie bisher die meisten ihrer Emissionsrechte gratis – sie könnte sonst von Importen aus Ländern ohne Emissionsabgabe verdrängt werden, die dann die Produktion übernähmen (carbon leakage – Problem). Sie wird nur auf Massengüter wie Stahl, Zement, Chemikalien, Strom angewandt, bei denen der Aufwand zur Berechnung der Abgabe vertretbar ist. Erst vor Kurzem wurde der CBAM vom EU-Rat Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) grundsätzlich beschlossen, auch wenn viele Details noch umstritten sind.

Auf die anderen Elemente gehe nicht weiter ein, sondern liste sie hier nur auf:

  • Land- und Forstwirtschaft soll mehr Kohlenstoff binden.
  • Anteil der regenerativen Energie soll auf 40 % steigen.
  • Der Endenergieverbrauch soll auf 64 % sinken durch höhere Energieeffizienz.
  • Konzept für Betankungsinfrastruktur mit „alternativen Kraftstoffen“ für Straßen-, Luft- und Schiffsverkehr. (Anmerkung: Straßenverkehr dürfte komplett über Elektrizität laufen.)
  • Emissionsfreiheit für Neuwagen ab 2035
  • Reform der Energiebesteuerung
  • Umstellung aller Flugzeugtreibstoffe auf emissionsneutrale Varianten
  • Senkung der Schiffsemissionen auf 25 % des Werts von 1990 bis 2050

Inwieweit der Krieg in der Ukraine diese Pläne beschleunigt oder behindert, vermag ich nicht zu sagen.

Permafrost: Das Auftauen lässt sich nicht mehr verhindern

piqer:
Nick Reimer

Permanent gefroren: Fast ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel taut nie auf – insgesamt 23 Millionen Quadratkilometer Boden. Alaska, Nordkanada, weite Teile Sibiriens, aber auch Nordskandinavien: In diesem Boden sind gigantische Mengen organischer Substanzen eingefroren, abgestorbene Pflanzenreste, die wie in einer riesigen Tiefkühltruhe festgehalten sind. Noch, denn die Klimaerhitzung sorgt für ein Auftauen des Bodens, Bakterien werden dann diese Pflanzenreste zersetzen und in die Treibhausgase Kohlendio­xid oder Methan umwandeln – ein sogenanntes Kippelement, das den Klimawandel weiter anfacht, ohne dass der Mensch darauf noch Einfluss nehmen könnte.

Das Schwinden großer Teile der Permafrostlandschaft wird sich in Europa nicht mehr aufhalten lassen. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam um Richard Fewster von der University of Leeds, das die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Böden simulierte. Demnach werden schon im Jahr 2040 Permafrostböden an den nördlichen Rändern Europas unwiderruflich geschmolzen sein – selbst im Fall eines entschlossenen weltweiten Klimaschutzes. Verantwortlich dafür sind steigende Temperaturen und vermehrte Niederschläge.

Insgesamt, so schreiben die Forschenden, seien in den untersuchten Permafrostböden Nordeuropas und Westsibiriens bis zu 39 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gebunden – doppelt so viel wie in allen europäischen Wäldern zusammen. Selbst im optimistischen Unter-zwei-Grad-Szenario würde sich die für Permafrostböden geeignete Fläche um fast 60 Prozent verringern, ergo die Treibhausgase frei.

Die Dauerfrost-Regionen in Sibirien und Nordamerika haben sich schon um bis zu 100 Kilometer nach Norden verschoben. In der dauergefrorenen Erde sind aber nicht nur Treibhausgase „festgehalten“, sondern auch Zombieviren oder Sporen des Bacillus anthracis, die nun von den hohen Temperaturen wieder zum Leben erweckt wurden.

Der Transitions-Performance-Index der EU – Abschied vom BIP?

piqer:
Ole Wintermann

Die Europäische Kommission hat Mitte März 2022 den sogenannten Transitions-Performance-Index 2021 (TPI) veröffentlicht. Der Index, der 27 EU-Staaten sowie 45 weitere Staaten und damit 76 % der Weltbevölkerung umfasst, fokussiert sich auf die Transitionen im Bereich Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Er bezieht sich hierbei auf den Zeitraum 2011–2020 und hat das methodische Ziel, den veralteten, methodisch zweifelhaften und eindimensionalen BIP-Indikator als Instrument der politischen Steuerung abzulösen, um damit die fehlende Nachhaltigkeit in der politischen und wirtschaftlichen Sphäre zu adressieren.

Mit den vier Themenfeldern der Ökonomie, der sozialen Ungleichheit, der Umwelt und der Regierungsweise möchte er zugleich einen großen Teil der Sustainable Development Goals SDG abdecken.

  • Die ökonomische Transformation soll gemessen werden anhand der Variablen Wohlstand, Bildung, Digitalisierung (Infrastruktur und Kompetenz), Arbeitsproduktivität, Ausgaben für F&E.
  • Die soziale Transformation wird beschrieben mit dem Indikatoren Gesundheit, Arbeit(-smarkt) und Inklusion, frei verfügbare Zeit und (gleiche) Einkommensverteilung.
  • Die ökologische Transformation soll sich widerspiegeln in Emissionen, Energieeffizienz, Biodiversität, Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft.
  • Die Regierungsweise soll beurteilt werden nach der Garantie fundamentaler Rechte, Sicherheit, Transparenz des Regierungshandelns und öffentliche Finanzen.

Ziel ist letztlich, die Entwicklung zu einer nachhaltigen Lebens- und Arbeitsweise zum Gegenstand der politischen Steuerung zu machen und damit zu nachhaltigen Lösungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu führen.

Die Ergebnisse sind in vielen Punkten überraschend.

Führend in den Rankings auf den ersten drei Plätzen sind in der ökologischen Transformation UK, Malta und Italien, in der ökonomischen Transformation die Schweiz, Irland und Südkorea, in der sozialen Transformation Island, Slowenien und Norwegen sowie in der Regierungsweise Norwegen, Neuseeland und Luxemburg. Den größten Gesamtsprung nach vorn gemacht haben im untersuchten Zeitraum Kroatien, Griechenland und Estland.

Der TPI schließt damit an eine Entwicklung an, die sich auch schon durch und in dem neuen Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung angedeutet hatte. Dies ist die Abkehr von einem überholten Leistungsindikator. Ebenso wie schon der Jahreswirtschaftsbericht schließen sich aber auch im Falle des TPI weitergehende Fragen an:

  • Wie können die Indikatoren pragmatisch und konkret in die politische Steuerung übernommen werden?
  • Was sagt es über diesen neuen Indikator aus, wenn zwei Diktaturen bzw. autoritäre Regime auf Platz 4 (Indonesien) und Platz 5 (UAE) im Fortschrittsindex auftauchen?
  • Werden die Menschen in den jeweiligen Ländern zufrieden sein, wenn zwar die Einkommensverteilung ausgeglichen ist, ihr eigenes Einkommen aber kaum ansteigt?
  • In welcher Weise könnten Negativentwicklungen (Schadschöpfung) besser gegengerechnet werden?

Aber vielleicht wird der TPI ja methodisch noch weiterentwickelt werden.

Deutschland trocknet langsam aus

piqer:
Daniela Becker

Auswertungen, die sich auf Satellitendaten stützen, zeigen, dass Deutschland in 20 Jahren Wasser im Umfang des Bodensees verloren hat. Das ist eine sehr große Menge. Deutschland gehört damit zu den Regionen mit dem höchsten Wasserverlust weltweit.

Ein Grund ist die Klimakrise: Zum einen führen höhere Temperaturen zu mehr Verdunstung, zum anderen fließt mehr Wasser in Starkregenereignissen einfach ab und kommt erst gar nicht in den Grundwasserkörpern an. Außerdem steigt der Wasserverbrauch aus der Landwirtschaft und den privaten Haushalten seit Jahren immer weiter an.

Noch sind das Probleme, die in einzelnen Jahren oder an einzelnen Orten auftreten. Doch der Hydrologe Prof. Martin Grambow, oberster Wasserwirtschaftler des bayerischen Umweltministeriums, warnt angesichts der Daten der Grace-Mission: „Es sind Sachen, die bei uns noch nicht veröffentlicht sind, die aber eigentlich allesamt dieses Bild leider stützen. Dass wir letztendlich ein systemisches Defizit haben. Und das Unangenehme dabei ist: Das geht lange, lange Zeit gut. Und wenn es dann aber so quasi merkbar wird, dann ist es bei Weitem zu spät.“

Hydrologen fordern deshalb schon jetzt Vorsorge zu treffen. Neue Wassergewinnungsgebiete müssten geschützt werden. Und größere Versorgungsverbünde könnten sicherstellen, dass die zunehmend knappe Ressource Wasser auch in Jahrzehnten noch überall zur Verfügung steht.

Günstlingskapitalismus – ein Index

piqer:
Thomas Wahl

Rent-Seeking (Günstlingswirtschaft) meint den Versuch von Unternehmen, aus den Beziehungen und Vernetzungen mit dem Staat einen Extraprofit zu generieren:

Technically speaking, an economic rent is the surplus remaining once capital and labour have been paid a market price. With perfect competition that surplus would not exist. But rents can be artificially elevated if firms win contracts at beneficial prices, form cartels to stitch up consumers or lobby governments for favourable rules. Most rent-seeking businesses are operating perfectly legally.

Der Economist hat dazu einen Index entwickelt, der auf den Forbes-Listen der Milliardäre der Welt aus den letzten 25 Jahren basiert. Im Jahr 2021 listete Forbes 2.755 Personen als Milliardäre. Der Economist hat die Vermögen dieser Milliardäre, je nach der Hauptquelle des Reichtums, jeweils in Günstlings- und Nicht-Günstlings-Sektoren eingeteilt.

Our crony sectors include a host of industries that are vulnerable to rent-seeking because of their proximity to the state, such as banking, casinos, defence, extractive industries and construction. We have aggregated the data according to billionaires’ country of citizenship expressed as a share of its gdp.

Nicht ganz überraschend, dass Russland in diesem Index sowohl beim Anteil des „wealth equivalent“ aus „Rent-Seeking“ am BIP führend ist, als auch bei dem Anteil der Milliardäre aus diesem Sektor:

Some 70% of the 120 Russian billionaires, who together hold 80% of its billionaire wealth, fall within our crony-capitalist definition. Wealth equivalent to 28% of Russia’s gdp in 2021 came from crony sectors, up from 18% in 2016.

Überraschenderweise hat auch Singapur auf Platz drei einen Rent-Seeking-Anteil von über 10 %.

By contrast, around four-fifths of American billionaires, accounting for 90% of total wealth, operate in non-crony sectors. Led by a boom in tech valuations, wealth in non-crony sectors rose from 11% to 17% of gdp between 2016 and 2021. But in recent years America has opened investigations into the firms of its behemoth-building billionaires. Tech firms do exhibit some of the cosseted characteristics of crony industries: they spend heavily on lobbying to defend their juicy market shares, for instance. Reclassifying technology firms as crony would increase America’s crony wealth from 2% to 7% of gdp.

Erwartungsgemäß sind autoritär regierte Länder besonders anfällig für „Rent Seeking“. Wobei Russland ganz klar besonders herausragt. Allerdings sieht man auch, dass der Reichtum aus der Günstlingswirtschaft als Anteil an der Gesamtsumme weltweit zurückgegangen ist. Teilweise durch die dramatischen Wertsteigerungen im Technologiesektor.