In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Kinderkriegen und Wirtschaft:
Es ist kompliziert
piqer:
Antje Schrupp
Lange Zeit galten Familienplanung und Reproduktion als Privatsache, die in volkswirtschaftlichen Überlegungen weitgehend unbeachtet bleiben kann. Dieser sehr lange, aber lesenswerte Artikel zeigt jedoch, wie stark persönliche Lebensentscheidungen, insbesondere die, Kinder zu haben, von ökonomischen Erwägungen beeinflusst sind. Die Autorin vergleicht dabei ihre eigene Situation in den USA mit der in Dänemark und in China – also drei ganz unterschiedlichen Wirtschaftssystemen, die aber gemeinsam haben, dass die Menschen deutlich weniger Kinder bekommen, als sie eigentlich wollen: Laut Umfragen ist die ideale Kinderzahl etwa 2,3 Kinder pro Frau, in Wirklichkeit liegt die Fertilitätsrate aber nur bei etwa 1,6. Und das eben nicht nur in den USA, wo es kaum staatliche Strukturen gibt, die Schwangere und Eltern kleiner Kinder unterstützen, sondern eben auch in Dänemark, wo diese Infrastruktur vorbildlich ist, und in China, wo vor einigen Jahren die Ein-Kind-Politik aufgegeben wurde, aber nur wenige Paare die neue Möglichkeit, ein zweites Kind zu haben, nutzen.
Das Phänomen lässt sich nicht mit einer einzelnen Ursache erklären, sondern ist komplex: Lebensstil-Entscheidungen spielen ebenso hinein wie Angst vor Armut und unsichere ökologische Zukunftsperspektiven. Der verbindende Faktor ist aber die Tatsache, dass die Entscheidung, schwanger zu werden oder nicht, heute prinzipiell (auch) eine ökonomische, rationale Abwägung ist. Es wird Zeit, dass dies systematischen Eingang in politische und volkswirtschaftliche Analysen findet.
Was Deutschland aus der Energie- und Klimapolitik Großbritanniens lernen kann
piqer:
Ralph Diermann
Dass Großbritannien heute beim CO2-Ausstoß pro Einwohner so viel besser dasteht als Deutschland, ist letztlich der Verdienst von Margaret Thatcher: Sie hat Ende der Siebziger die Macht der Bergarbeiter-Gewerkschaft gebrochen. Es gab deshalb später landesweit keinen nennenswerten Widerstand gegen das schrittweise Ende der Kohleverstromung.
So beschreibt es zumindest Adam Tooze in „Prospect“, einem proeuropäischen und laut BBC linksliberalen Publikumsmagazin. Der Autor sucht nach den Gründen, warum die Bundesrepublik als Land mit dem Copyright für die Energiewende bei den nackten Emissionszahlen so sehr der einstigen Kohlenation Großbritannien hinterherhinkt. Und findet sie unter anderem in der SPD, die als Regierungspartei immer wieder als Anwalt der Kohle aufgetreten ist. Als zum Beispiel um 2010 herum viele Kohlekraftwerke aus den Siebzigern ersetzt werden mussten, hat die damalige große Koalition mit Sigmar Gabriel als Bundesumweltminister den Neubau zahlreicher Meiler durchgewinkt – während in Großbritannien Gaskraftwerke gebaut wurden.
Ein anderer Faktor, so Tooze, ist der CO2-Zertifikatehandel. Großbritannien hat früh einen Mindestpreis eingezogen, der die Effektivität des Systems sicherstellte. In Deutschland geschah das nicht, aus Sorge um die großen Energiekonzerne (und um die Industrie, die hierzulande eine größere gesamtwirtschaftliche Bedeutung hat als auf der Insel).
Tooze weist jedoch auch darauf hin, dass „Renewables á la UK“ nicht zu tun hat mit der Vision einer dezentralisierten, demokratisierten Energieversorgung – die Erneuerbaren sind fest in der Hand von Energiekonzernen, die etwa riesige Offshore-Windparks errichten. Zumindest in diesem Punkt hat Deutschland mit den vielen Hausdach-Anlagen und Bürgerenergiegesellschaften die Nase vorn.
Was bei der KI tatsächlich auf uns zukommt
piqer:
Was wäre wenn Magazin
47% der Arbeitsplätze in den USA seien davon bedroht, durch künstliche Intelligenz (KI) ersetzt zu werden, behaupteten die beiden Forscher Frey und Osborne in ihrer Studie von 2013. Warum ihre Prognose wenig taugt, erläutert der KI-Experte Frank Jäkel im Interview mit Asal Dardan.
Tatsächlich sei das Bild komplexer. Jeder Job setze sich aus einer Vielzahl von Tätigkeiten zusammen, von denen bei Weitem nicht alle technologisch ersetzbar seien, wie er mit Beispielen belegt. Und auch dort, wo die Möglichkeit bestehe, vollziehe sie sich nicht automatisch. Stattdessen hebt Jäkel die Frage hervor, mit welchen Bewertungen über menschliche Arbeit und KI diskutiert wird:
„Ein Problem der aktuellen Diskussion ist, dass wir den Menschen als Fehlerquelle sehen und denken, es gehe darum, ihn zu ersetzen. Ich wünsche mir, dass man KI mehr als kognitives Werkzeug sieht, das den Menschen bei seiner Arbeit unterstützt.“
Ein gutes Beispiel sei der Taschenrechner, der gar nicht den Anspruch habe, den Menschen zu ersetzen, sondern zu unterstützen und so kognitive Ressourcen für neue Tätigkeiten freisetzt. Die Lust an spekulativen Fragen sei vielmehr problematisch, wo sie die relevanten Fragen in den Hintergrund drängt.
Statt apokalyptischer Szenarien und als naturgesetzlich sich vollziehender Prozesse setzt Jäkel daher auf eine reflektierte und aufgeklärte Auseinandersetzung und Ermächtigung:
„Der Wandel wird nicht von heute auf morgen kommen. Das gibt uns Zeit, das alles zu diskutieren und oft sind es genau diese Diskussionen, die verhindern, dass Dinge von heute auf morgen eingeführt werden. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass da nichts über uns hereinbricht. Aber wir müssen uns da auch selbst behaupten und die Dinge in die Hand nehmen und sagen, wir möchten die Zukunft gestalten.“
Am Ende lautet die Moral also gleich dem Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy: Keine Panik! Die KI ist kein Schicksal, so lange wir uns weiterhin trauen, unseren menschlichen Verstand zu benutzen – sapere aude!
Werden Minijobs endlich abgeschafft?
piqer:
Michael Hirsch
Der Beitrag aus dem Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung zeigt, wie die politische Windrichtung in Deutschland langsam dreht. Jahrzehntelang gab es eine weit über das Regierungslager hinausgehende große Koalition von Befürwortern von Minijobs – dieser großangelegten Aktion der organisierten staatlichen Beihilfe zum Sozialversicherungsbetrug. Die Ära des vulgären neoliberalen Credos „Hauptsache Beschäftigung“ dürfte bald vorbei sein, da nun auch die Grünen die Abschaffung sozialversicherungsfreier Minijobs fordern.
Falls die Grünen dies ernst meinen, dann könnten die nächsten Wahlen vielleicht wirklich interessant werden, und zu einem wirtschafts- und sozialpolitischen Paradigmenwechsel führen. Dann könnten auch die Gewerkschaften, welche die Praktiken des legalen Lohndumpings und Sozialhilfebetrugs schon lange kritisieren, nach langem wieder einmal eine produktive Rolle in der deutschen Wirtschaftspolitik spielen. Dann beginnt vielleicht wieder eine neue Ära des demokratischen Kampfes um gute Arbeit, faire Entlohnung, und einen Sozialstaat, der den Namen verdient hat.
Siehe auch den Leitartikel der Autorin in derselben Ausgabe der SZ.
FAQ: Klimawandel und die australischen Buschfeuer
piqer:
Daniela Becker
Je mehr die australische Regierung wegen ihres Mismanagements bei der Brandbekämpfung unter Beschuss gerät, desto mehr tobt in den (sozialen) Medien ein Infokrieg über die Interpretationshoheit, die Ursachen der Buschfeuer und welche Rolle der Klimawandel dabei spielt.
Umfassend, verständlich und mit vielen Quellen versehen ist hingegen der Beitrag auf Klimafakten.
Waldbrände in Australien sind üblich. „Feuer gehört zu Australiens Natur: Eukalyptusbäume treiben nach Waldbränden neu aus, manche Pflanzen blühen erst nach Feuern“, erklärt Kirsten Thonicke vom PIK. Derart extreme Feuer aber wie in diesem australischen Sommer sind außergewöhnlich. Betroffen sind beispielsweise auch die Regenwälder in den südöstlich gelegenenen Bundesstaaten New South Wales und Victoria, in denen ausgedehnte Waldbrände alles andere als normal sind. Laut Chris Hardman, Leiter des Forest Fire Management Victoria, können sich die Brandbekämpfer nicht länger darauf verlassen, dass – wie früher – einzelne Regenwaldstreifen und vernässte Böden die Feuer an ihrer Ausbreitung hindern.
Wie außergewöhnlich sind die aktuellen Buschbrände?
Kirsten Thonicke sagt, die aktuelle Buschfeuersaison sprenge „alle Rekorde“. Aufgrund der Brände seien in den betroffenen Regionen in den vergangenen Wochen mehr Waldflächen verlorengegangen als insgesamt in den vergangenen 14 Jahren. Seit Beginn der großen Buschfeuer im Oktober sollen laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters mehr als 10 Mio. Hektar verbrannt sein. Das entspricht zum Beispiel etwa der Fläche von Bayern und Baden-Württemberg zusammen.
Betrifft das Thema auch Deutschland und die EU?
Ja, sagt Feuerwehr-Experte Jens Motsch. „Wir haben jetzt schon Vegetationsbrände, aber diese werden sich künftig eher verstärken. Die Niederschläge gehen aus, und deshalb bleibt es eher zu trocken.“ Waldbrände, wie man sie bisher aus der Mittelmeer-Region kennt, würden sich „nach Norden verschieben“, so Motsch.
Darauf müssen sich die Länder noch besser vorbereiten.
Eine Gleichsetzung mit der Linkspartei stärkt die AfD
piqer:
Ruprecht Polenz
Man wende sich gegen jeden Extremismus, sagt die Union, gleichgültig, ob er von links oder von rechts komme. Diese Position ist demokratisch richtig, darf aber nicht zu einer stumpfen Gleichsetzung führen. Es bleibt notwendig, sich die jeweiligen Ränder des politischen Spektrums genauer anzusehen. Christian Bangel hat das im empfohlenen Artikel getan. Seine Überlegungen könnten der Union helfen, schwierige Situationen zu meistern, wie sie sich etwa nach der thüringischen Landtagswahl ergeben haben.
Gestern & Heute: Wie verändert sich der Homo Migrans?
piqer:
Achim Engelberg
Der Philosoph Oliver Schlaudt sieht die Migration nicht als Systemfehler, sondern als grundlegend für die Menschheit. Beispielsweise steht die Eroberung der Neuen Welt am Anfang des modernen Europa. In drei großen Linien zeichnet er sie nach, zuerst war der
Genozid an der indigenen Bevölkerung, die von etwa 60 auf 6 Millionen Individuen dezimiert wurde; Raub und Umsiedlung von über 10 Millionen afrikanischen Arbeitskräften im organisierten Sklavenhandel auf die Plantagen der Neuen Welt vom 16. bis ins 19. Jahrhundert; die Auswanderung vieler Europäer (1,5 Millionen von 1500 bis 1800 und vor allem 30 Millionen in den Auswanderungswellen des 19. und 20. Jahrhunderts).
Im Einzelnen ist das bekannt, aber zusammengedacht erklären sie die atlantische Welt. Solche Bewegungen und Prozesse, die extrem gewalttätig sein können, sind für den kamerunischen Historiker Achille Mbembe grundumstürzend für die „globale Neuverteilung der Weltbevölkerung“.
Entgegen einem Zeitgeist, der Kultur als Gegensatz zur Migration deutet und dadurch begründet, warum der Islam nicht zu „uns“ gehört, plädiert Schlaudt für eine andere Haltung.
Will die Menschheit die heutigen Herausforderungen meistern, ist sie wohlberaten, den homo migrans als Teil ihres Wesens anzuerkennen. … Wie der einstige expansive Mensch, der sich immerfort neue Umweltbedingungen erschloss, muss sie die Kultur wieder als eine Ressource entdecken, die ihr Lösungen erlaubt, statt sie in identitäre Scheinkonflikte zu verstricken.
Gleichzeitig meint er, dass die Menschheit wieder sesshaft werden soll und begreift:
dass man auf einer Kugel keine Probleme hinter sich lassen kann, … den nächsten Kontinent entdeckt, den nächsten Markt erobert, neue Ressourcen erschließt (Ökonomen, Politiker und Ingenieure träumen heute von der Tiefsee oder vom Weltraum).
Den Titel borgt sich Oliver Schlaudt von einem wegweisenden Buch von Klaus Bade, dem Nestor der Migrationsforschung, der in dieser Vorlesung zum Homo Migrans Zwänge und Chancen aufzeigt.