Jahrestagung von IWF und Weltbank

Wer schuldet eigentlich wem?

Die Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank gehört zu den wichtigsten Terminen im wirtschaftspolitischen Kalender. Gleichzeitig bildet sie einen Rahmen für zivilgesellschaftliche Gruppen, die ihre Frustration über westliche Entwicklungspolitik zum Ausdruck bringen. Wirklich miteinander in Berührung kommen diese beiden Welten aber kaum. Eine Reportage aus Marrakech von Pao Engelbrecht.

Foto: Pao Engelbrecht

„End fossil finance! End austerity! End imperialism! End neocolonialism!“, ruft El Hadji Mame Moussa Sarr, kurz Moussa, zum Ende seiner Rede. Eine gekonnte Pause und dann: „What do you we want instead?“ – „Climate justice!“, antwortet die Menge.

Der Protest direkt vor dem Eingang der Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Marrakech verläuft friedlich. Ein Wasserwerfer steht zwar bereit, die Personalien der Demonstrant:innen werden genauestens geprüft und bei ihrer Ausreise werden sie teilweise intensiv befragt, doch immerhin gibt es keine Auflagen für die Inhalte der Reden wie noch bei der jüngsten COP27-Klimakonferenz in Sharm el-Sheikh. Heikel wird es, als sich zwei Polizeipferde gegenseitig treten und im Kreis drehen. Doch das Chaos ist schnell wieder im Griff.

Moussa, ein 27-jähriger Menschenrechts- und Klimaaktivist von Actionaid und Global Platforms, ist aus Dakar nach Marrakech gekommen, um seinen Protest vor der Tür derjenigen Institutionen kundzutun, die er maßgeblich in der Verantwortung für die dramatischen Zustände in Senegals öffentlichem Sektor sieht: Überall fehlten Lehrer:innen und Stühle in den Schulen. Die Gesundheitsversorgung sei völlig unzureichend für weite Teile der Bevölkerung, sagt Moussa. Und warum? „Because our government is cutting our public spendings to service the IMF debt.“

Menschenrechts- und Klimaaktivist Moussa. Foto: Pao Engelbrecht

Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor sind auch nach einer Abkehr von den viel kritisierten Strukturanpassungsprogrammen weiterhin eines der Patentrezepte, die Weltbank und IWF  verschuldeten Ländern im Globalen Süden verschreiben. Draußen auf der Demo nennt Moussa das Austerität. Drinnen in den Konferenzräumen nennt man es Fiskaldisziplin.

Sporadische Begegnungen zweier Parallelwelten

In diesem Sinne finden in Marrakech eine Woche lang Veranstaltungen in zwei Parallelwelten statt. Während Vertreter:innen der multilateralen Institutionen auf dem großen Gelände außerhalb des Stadtzentrums über institutionelle Reformen und Anreize für Privatkapital diskutieren, treffen sich in der Altstadt Menschen auf zivilgesellschaftlichen Foren, um den entwicklungspolitischen Ansatz von Weltbank und IWF grundsätzlich zu kritisieren. Diese beiden Welten treffen nur bei der Demo vor dem Konferenzgebäude und in jenen Veranstaltungen auf der Jahrestagung, in denen es explizit um die Zivilgesellschaft geht, aufeinander.

Der neue Weltbankpräsident, Ajay Banga, stellt sich an einem Abend den Fragen aus der Zivilgesellschaft, zeigt sich offen für Kritik. Insbesondere auf eine Publikumsfrage zu Entschädigungszahlungen an von Klimaschäden besonders betroffene Länder gibt er zu, dass er nicht ausreichend informiert ist – und schlägt ein Treffen mit Vertreter:innen der philippinischen NGO, von der die Frage gestellt wurde, vor: „We have to work together. I promise I will call you and ask you more“, verspricht Banga. Nach Angaben der Philippine Movement for Climate Justice (PMCJ) erhalten sie am Ende der Woche tatsächlich eine E-Mail vom Büro des Präsidenten: „Eine gute Geste, doch was wirklich zählt sind nicht Worte, sondern Taten. Wir warten auf handfeste Maßnahmen“, kommentiert Aaron Pedrosa von PMCJ. Auf anderen Events für die Zivilgesellschaft fehlen die relevanten Teilnehmenden hingegen oftmals: „Die Abwesenheit der Bretton Woods-Institutionen auf vielen Panels wirkt symptomatisch für die generell mangelhafte Selbstreflexion der Bank und des Fonds, die die Stimmen, Belege und Vorschläge aus der Zivilgesellschaft wortwörtlich ungehört lassen“, sagt Friederike Strub vom Bretton Woods Project.

Foto: Pao Engelbrecht

Ebenjene Stimmen, Belege und Vorschläge werden beispielsweise auf dem Global Counter Summit of Social Movements in Marrakechs vom Erdbeben erschütterter Altstadt vorgestellt und diskutiert. Dort werden Redebeiträge in vier verschiedenen Sprachen von professionellen Übersetzer:innen simultan übersetzt. Das Programm ist dicht, der Ablauf gut organisiert. Ein Protestmarsch und eine Reihe von Paneldiskussionen finden zwischen zwei bedeutenden Jahrestagen statt: vom 12. Oktober, dem Tag des indigenen Widerstands anlässlich Kolumbus´ Ankunft in Amerika, bis zum 15. Oktober, dem Todestag des antikolonialen Revolutionärs und erstem Präsidenten Burkina Fasos, Thomas Sankara. Der stand bis zu seiner Ermordung dafür ein, dass Länder des Globalen Südens die Rückzahlung von Schulden an den Globalen Norden verweigern sollten.

Die Schuld(en)frage

Sankaras Forderung aus den 1980ern ist heute wieder ein zentrales Anliegen der meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich in Marrakech versammeln. Denn die Schuldenkrise spitzt sich in vielen Ländern des Globalen Südens immer weiter zu, mit verheerenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen. Laut Development Service International handelt es sich um die schlimmste Schuldenkrise überhaupt. Für 2024 werden beispielsweise in Ägypten, Ghana, Pakistan und Sri Lanka 50-65% der jährlichen staatlichen Ausgaben für Zinstilgungen von Schulden erwartet. Für Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur oder gar eine Anpassung an die Klimakrise mangelt es hingegen an den nötigen Mitteln.

Diesen Zusammenhang zwischen Schulden- und Klimakrise, auf den die betroffenen Staaten eindringlich  hinweisen, hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bereits im Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz explizit anerkannt. Weltbankpräsident Banga benennt die Gefahr der Schuldenkrise ebenfalls: „Debt [is] doubling in Africa, shackling countries to the ground, just as they are trying to rise.“ Auf der Jahrestagung werden Lockerungen für Schuldenrestrukturierungen und ein konkreter Deal mit Zambia beschlossen. Ein zusätzlicher Sitz im  Vorstand der Weltbank wurde für afrikanische Staaten geschaffen. „Die Reform der Weltbank ist ein bedeutsamer Prozess, den man nicht unterschätzen sollte“, erklärt Deborah Düring, entwicklungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. „Diese Reform verpflichtet jedoch auch zur Umsetzung weiterer Maßnahmen. Es müssen konkrete Schritte folgen.“ Im Vergleich zur zivilgesellschaftlichen Forderung nach Schuldenstreichungen sind die Entscheidungen aus Marrakech laut dem zivilgesellschaftlichen Netzwerk Eurodad lediglich „baby steps„.

Schuldenstreichungen sind aus Perspektive der Counter Summit-Zivilgesellschaft die einzig gerechte Lösung der Schuldenkrise. Viele der Redner:innen verweisen auf einen Bericht von Global Financial Integrity, der vorrechnet, dass das Geld netto von Süd nach Nord fließt – und zwar jährlich rund zwei Billionen US-Dollar. Hinzu käme die wohl kaum in Geld berechenbare Schuld des Globalen Nordens, die durch die Verbrechen der Kolonialzeit und durch die Klimakrise entstanden sei: „Die bedingungslose Streichung der finanziellen Schulden ist das Mindeste, was getan werden muss, um dieser Schuld gerecht zu werden“, sagt Lukas Hufert von Debt for Climate. „IMF and World Bank should support debt cancellation that is equitable, rapid, comprehensive, and sizable, so that debt service does not reduce resources for health, education, other public services and climate action“, fordert Moussa.

Ein Artikel in Nature Sustainability hat dieses Jahr versucht, die Klimaschuld des Globalen Nordens zu beziffern und kommt auf 192 Billionen US-Dollar. Selbst auf dem Blog des IWF werden Berechnungen zu einer solchen Climate Debt angestellt – die allerdings zu weniger dramatischen Zahlen für Europa und die USA kommen, dafür mehr Schuld bei China sehen. Gleichzeitig sind die versprochenen 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr ab 2020 für Klimaanpassungsmaßnahmen immer noch nicht geflossen. Für die Bewegungen auf dem Counter Summit folgt daraus eine konsequente politische Haltung, ganz im Spirit von Thomas Sankara. Auf Bannern steht in verschiedenen Sprachen: „Wir schulden nicht, wir zahlen nicht.“ Ein globaler Schuldenschnitt müsse her. Dass dies möglich ist, zeige die großzügige Streichung von Westdeutschlands Schulden im Jahr 1953.

Die von Graswurzelbewegungen im Globalen Süden initiierte und getragene Bewegung Debt for Climate stellt diese Forderung an erste Stelle und führt anlässlich der Jahrestagung in der vergangenen Woche Aktionen auf der ganzen Welt durch – unter anderem in Berlin. Am Donnerstagmorgen, dem 13. Oktober 2023, stehen dort vor dem Finanzministerium plötzlich zwei Betonklötze. Einer davon ist eine Tonne schwer und trägt die Aufschrift: „Klima- und Kolonialschuld des Globalen Nordens“. Der andere wiegt gerade einmal 100 Kilogramm, ist wesentlich kleiner und ist betitelt mit: „Finanzielle Schuld des Globalen Südens“.

Foto: Jonas Gehring / Debt for Climate

Laut Estebán Servat soll damit eine offensichtliche Frage veranschaulicht werden: Wer schuldet hier eigentlich wem? Servat ist einer der Mitbegründer:innen von Debt for Climate. Nachdem er als Umweltaktivist in Argentinien Morddrohungen bekam, flüchteten er und seine Familie nach Berlin. In seiner Heimat, erzählt Servat, wurden Forderungen nach einer Energiewende oft mit der Begründung abgelehnt, dass sich Argentinien keine grüne Investitionen leisten könne, weil der Staat erst die Schulden beim IWF bedienen müsse. Als eines der am höchsten verschuldetsten Länder veranschauliche Argentinien, wie Verschuldung beim IWF und die damit einhergehenden Sparmaßnahmen dringend nötige Klimaschutzmaßnahmen blockieren. So lasse sich Klimapolitik mit den Interessen der Arbeiter:innen in Argentinien verbinden: Sowohl die Gewerkschaften als auch Umweltverbände sehen den Einfluss des Internationalen Währungsfonds auf die Haushaltspolitik in Argentinien extrem kritisch, so Servat.

Während das Klimathema relativ neu ist, ist das Aufbegehren gegen multilaterale Institutionen, die die Wirtschaftspolitik souveräner Staaten beeinflussen, älter als die Weltbank und der IWF selbst. Wie der Harvard-Historiker Jamie Martin in seinem Buch The Meddlers eindrucksvoll zeigt, haben bereits nach dem Ersten Weltkrieg einige Organe des Völkerbundes innenpolitische Entscheidungen in formal souveränen Staaten beeinflusst, ohne direkte koloniale Kontrolle auszuüben. Das hat von Anfang an zu Widerstand geführt. Mit der populären Idee einer New International Economic Order in den 1970ern und 80ern erreichte dieser Widerstand einen Höhepunkt. Martin schlussfolgert, dass es deutlichen Druck von sozialen Bewegungen braucht, um internationale Wirtschaftsinstitutionen gerechter und zielführender zu gestalten.

Foto: Pao Engelbrecht

Die weltweiten Proteste anlässlich der Jahrestagung von Weltbank und IWF verkörpern diesen Druck von sozialen Bewegungen. Sie zeugen von der Frustration über westliche Entwicklungspolitik, die Betroffene im Globalen Süden hier lautstark zum Ausdruck bringen. Auf dem Counter Summit gibt es zahlreiche Möglichkeiten für die Teilnehmenden, ihre Geschichte mit einem Mikrofon in der Hand zu erzählen. Oft mit Wut, zum Beispiel als eine Frau aus dem Kongo ihren Redebeitrag damit beendet, dass ihr Heimatland „keine Deponie für europäischen Müll“ sei und sich unter großem Applaus verabschiedet. Oft mit Angst, wie der Familienvater aus Madagaskar, der jetzt in Marokko lebt und schaudernd vom wachsenden Ausmaß der Armut in seiner Heimat berichtet. Oft mit Enttäuschung, wie der Aktivist Moussa es in einem Gespräch mit mir ausdrückt: „My first feeling right now is a feeling of disappointment, because I see that they just come with their own agenda and then they disappear.“

Es ist fraglich, ob diese Stimmen letztlich viel Gehör bekommen werden. Ajay Banga, der neue Präsident der Weltbank, ist zumindest gut darin, nicht nur die Klimakrise, sondern auch die Zivilgesellschaft rhetorisch ernst zu nehmen: „The Global South’s frustration is understandable. In many ways they are paying the price for the prosperity of others.“ Doch für grundlegende Veränderungen müsste er sich auch gegen amerikanische Interessen stellen. Wenn es nach der Abschlusserklärung des Counter Summits ginge, bräuchte es sogar völlig neue Institutionen mit Sitz in und unter der direkten Kontrolle von Ländern des Globalen Südens. Statt der World Bank also eine Bank of the South.

Realistischer sind jedoch weitere „baby steps“, zum Beispiel in Richtung einer stärkeren Repräsentanz des Globalen Südens in den Abstimmungsverhältnissen, in Form von größeren Investitionssummen durch Entwicklungsbanken, oder durch die kurzfristige Schaffung finanzieller Spielräume in Form von erweiterten Schuldenrestrukturierungen, Special Drawing Rights und Debt-for-Climate-Swaps. Die weitreichenden Forderungen der Zivilgesellschaft sind dennoch wichtig, denn sie erweitern den Diskurs und die Denkhorizonte.

Auf dem Global Counter Summit of Social Movements in Marrakech kommen zivilgesellschaftlich organisierte Menschen aus dem Globalen Süden zusammen und zu Wort. Foto: Pao Engelbrecht

Problematische Alternativen

Und der Druck auf die Bretton Woods-Institutionen kommt noch von woanders: Die BRICS plus-Länder bieten schon längst Alternativen zu westlichen Entwicklungsinstitutionen an. In einer Paneldiskussion auf dem Counter Summit wird jedoch detailliert analysiert, dass die vermeintlichen Alternativen aus dem Südosten ähnliche oder sogar mehr Probleme mit sich bringen wie viele der von der Weltbank finanzierten Entwicklungsprojekte: „They bring their own machines, their own labour, their own food. Our economy does not really benefit from Chinese investment. Instead, we end up paying for their employment“, sagt beispielsweise ein pakistanischer Forscher. Die brasilianische Abgeordnete Fernanda Melchionna beschreibt Brasilien als Lateinamerikas „Mini-Imperialist“.

Dennoch zeigt die folgende Diskussion, dass einige im Publikum weiterhin die BRICS plus-Institutionen vorziehen würden – alleine schon aus Protest gegen die lange, schmerzhafte Geschichte westlicher Unterdrückung im Globalen Süden: „We all agree that the AIIB is not better than the World Bank, but if I had to choose, I would still prefer the AIIB“, lautet ein Kommentar aus dem Publikum.

Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Entwicklungsinstitutionen hat zumindest das Potenzial, eine treibende Kraft für progressive Reform zu sein. Auch im Weißen Haus ist man sich bewusst, dass es – gerade im Wettbewerb mit China – darum geht, dem Globalen Süden etwas „anzubieten„. Um zu verstehen, wie das am besten geht, können die Entscheidungstragenden von der aktiven Zivilgesellschaft lernen. Als erstes geht es um die Haltung, denn wie Moussa sagt: „Loss-and-damage is not a request. Loss-and-damage is not a call for help. Loss-and-damage is a matter of justice.“

 

Zum Autor:

Pao Engelbrecht arbeitet als Mercator Fellow in verschiedenen Institutionen zu Reformvorschlägen der internationalen Finanzarchitektur angesichts der Klimakrise. Auf X: @paolivenoel