In der Volkswirtschaftslehre gab es schon immer eine „herrschende“ Meinung und die Meinungen von Abweichlern – unterschiedliche Interpretationen und kontroverse Debatten gehören praktisch zur DNA der VWL. Eine gute volkswirtschaftliche Ausbildung sollte angehenden Ökonomen also vermitteln, dass es eben gerade nicht nur eine „richtige“ ökonomische Sichtweise gibt, die einen Sachverhalt so und nicht anders beurteilt.
Leider kommt diese Erkenntnis gerade in der deutschen Berichterstattung oftmals zu kurz. Ein Lehrbuchbeispiel dafür lieferte in der vorletzten Woche die Berichterstattung zum Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, jenes Gremiums, das die Bundesregierung in ökonomischen Fragen beraten soll. Seine Mitglieder werden umgangssprachlich auch als die „fünf Wirtschaftsweisen“ tituliert.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass man sie eigentlich als die „4 gegen 1“-Weisen bezeichnen müsste. So ist das Gremium mit vier angebotsorientieren Ökonomen (Christoph Schmidt, Lars Feld, Isabel Schnabel, Volker Wieland) besetzt, die sich in der Regel für eine Entlastung der Unternehmensseite aussprechen (z. B. gegen den gesetzlichen Mindestlohn). Peter Bofinger ist dagegen der einzige Ökonom, der seinen Fokus eher auf die Nachfrageseite legt – und regelmäßig zu völlig anderen Erkenntnissen als seine vier Kollegen kommt.
Bofinger macht schon seit mehreren Jahren extensiven Gebrauch von der Möglichkeit, „eine andere Meinung“ (so die Überschrift für dieses Instrument der Protokollnotiz) zu vertreten. Allein im jüngsten Jahresbericht äußert Bofinger in sieben der zwölf Hauptkapitel eine explizit andere Position als der Mainstream. So ist Bofinger unter anderem der Auffassung, dass eine Senkung der Unternehmenssteuern nicht sinnvoll sei, der Mindestlohn bisher keine erkennbar negativen Effekte gehabt habe und die Geldpolitik der EZB durchaus angemessen sei.
In den Medien wird das Jahresgutachten allerdings in der Regel so präsentiert, als wenn es „den“ Sachverständigenrat gäbe. Entsprechend prominent werden die Meinungen der vier Angebotsökonomen thematisiert, während Bofingers Minderheitenvoten – wenn überhaupt – dann eher in den letzten Absätzen erwähnt werden. Dieses Ungleichgewicht zeigt sich auch darin, dass beispielsweise die jährlichen Memoranden, die von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik als Gegengutachten veröffentlicht werden, nicht einmal ansatzweise die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie die Ergebnisse der „4 gegen 1“-Weisen – obwohl sie fachlich nicht weniger fundiert sind.
Diese Gewichtung kann man jedoch auch als ein Spiegelbild der Kräfteverteilung in der deutschen Ökonomenszene bezeichnen: An den deutschen Hochschulen dominieren mit großem Abstand die Modelle der Neoklassik. Viele Studierende und Lehrende fordern seit geraumer Zeit eine stärkere Öffnung der VWL für alternative Ansätze. Der größte und prominenteste Vertreter dieses Unmuts ist das Netzwerk Plurale Ökonomik, dem es durchaus gelungen ist, die Anliegen der Bewegung auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Aber ist die Volkswirtschaftslehre aufgrund dieses Drucks tatsächlich pluraler geworden? Eine in der letzten Woche veröffentlichte Studie meint: eher nein.
588 Ökonominnen und Ökonomen an 54 deutschen Universitäten beantworteten im vergangenen Sommer im Rahmen der „EconPLUS“-Studie Fragen rund um das Thema Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre. Insgesamt zwei Jahre lang forschte das Team von Frank Beckenbach (Universität Kassel) in Kooperation mit dem Netzwerk Plurale Ökonomik und finanziell gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung an dieser Standortbestimmung der deutschen Volkswirtschaftslehre. Neben der Befragung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde auch eine ausführliche Analyse von Modulhandbüchern der entsprechenden Studiengänge sowie der Lehrmaterialien vorgenommen.
Ihre Erkenntnisse:
- 77,2% der Befragten sind der Auffassung, dass es einen „Mainstream“ in der Lehre gebe, der im Gedankengerüst der neoklassischen Ökonomik verortet sei. Dieses Gerüst wiederum charakterisiere sich durch das Menschenbild des Homo oeconomicus sowie die damit verbundenen Optimierungsansätze und Gleichgewichtsannahmen.
- Gleichzeitig stimmen 92,8% der Befragten – 34,7% sogar stark – der Aussage zu, dass es wichtig ist, Studierende mit verschiedenen Lehrmeinungen vertraut zu machen. Und 84% wären tendenziell bereit, ihre Lehre auch entsprechend plural auszugestalten und andere ökonomische Theorien und Konzepte aufzugreifen.
Die Kritik an der Einseitigkeit der Wirtschaftswissenschaften findet also durchaus Gehör bei den Lehrenden, wie die Forscher schreiben – so weit, so gut. Allerdings: 69,7% der Befragten gaben an, in den Bachelor-Grundlagenfächern eher Mainstream-Ökonomik zu lehren, in den fortgeschrittenen Bachelorfächern sind es noch 47,2%. Das bedeutet: Gerade in den Grundlagenfächern, in welchen die tragenden Säulen des weiteren Studiums gelegt und die Art und Weise, ökonomische Vorgänge wahrzunehmen, geprägt werden, findet eine einseitige Ausbildung statt.
Dieses Umfrageergebnis bestätigte sich auch durch die Auswertung der Modulhandbücher, die ebenfalls eine starke Dominanz des Mainstreams in den untersuchten Grundlagenfächern zeigen würden. „Besonders deutlich wird dieser Umstand, wenn nach einer in der Studie entwickelten Unterscheidung in orthodoxe und heterodoxe Begriffe ausgewertet wird: Dann findet sich etwa in den Modulbeschreibungen der Mikroökonomik an 46 der 52 untersuchten Studiengänge – also knapp 90% – kein einziger Begriff, welcher auf heterodoxe Lehrinhalte hindeutet“, wie es in der EconPLUS-Studie heißt.
Kurz gesagt: Der Geist der Lehrenden ist durchaus willig (oder hat zumindest offene Ohren) – aber das Fleisch (bzw. die Lehrpläne) ist schwach. Hier zeigt sich eine Erkenntnis, die man auch regelmäßig in der Lehrer-Forschung im Schulbereich findet: It’s the teacher, stupid!
Die Studie kommt wenig überraschend dann auch zu dem Schluss: „Je größer die subjektive Relevanz von Pluralität und Interdisziplinarität ist, umso höher ist die Bereitschaft zur pluralen Lehre.“ Als ein Hinderungsgrund erweise sich der Umstand, dass plurale Inhalte nicht in den relevanten wissenschaftlichen Fachzeitschriften untergebracht werden könnten. Ein weiterer Hinderungsgrund bestehe in dem Umfang des Pflichtstoffes, den die Lehrenden zu absolvieren hätten.
Um sich nicht auf die individuelle Begeisterung einzelner Lehrender verlassen zu müssen, gibt es in Deutschland auch Studiengänge, die sich bereits im Namen einer höheren Pluralität verschrieben haben. An der Universität Siegen gibt es zum Beispiel jetzt einen Masterstudiengang, der sich „Plurale Ökonomik“ nennt und offensiv mit alternativen Ansätzen wirbt – was momentan noch ein Alleinstellungsmerkmal ist. „Wer sich traut, hat allerdings einen Vorteil. Man hat weniger Konkurrenz“, wie die Süddeutschen Zeitung schreibt.
So ein Studiengang ist sicherlich ein wichtiger Ansatz, um etwas mehr Vielfalt in die ansonsten eher (mit Blick auf die inhaltliche Breite) als Lehr-Wüste zu bezeichnenden deutsche Hochschullandschaft zu bekommen. Dennoch darf und muss man natürlich kritisch anmerken, dass ein oder selbst zwei oder drei solcher Studiengänge mit einer stärkeren Gewichtung „abweichender Ansätze“ auch Gefahr laufen, als Außenseiter und Orchideen marginalisiert zu werden, wenn sich in der Ausbildung angehender Volkswirte flächendeckend nichts ändert. Insofern gibt es noch eine Menge zu tun.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell die Portale Aktuelle Sozialpolitik und Aktuelle Wirtschaftspresse, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.