In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
USA – eine reiche Gesellschaft mit einigen sehr armen Menschen?
piqer:
Thomas Wahl
Wie beurteile ich, möglichst differenziert, die Wohlstandssituation eines Landes? Wann ist es als reich oder arm zu beschreiben? Noah Smith geht dem in seinem Blog mit vielen interessanten, beeindruckenden statistischen Vergleichen (unbedingt mal ansehen!) nach und fragt: Sind die USA eine „schlechte Gesellschaft mit einigen sehr reichen Menschen“ oder eine reiche Gesellschaft mit einigen sehr armen Menschen?
Es ist unbestreitbar wahr, dass Amerika ungleicher ist als die meisten anderen reichen Nationen. Wir haben ein sehr reales Armutsproblem; die unteren 10% unserer Bevölkerung leiden viel mehr, als sie sollten. Und ja, mehr Umverteilung von oben würde dazu beitragen, dies zu lösen, obwohl das bei weitem nicht das Einzige ist, was wir brauchen – um echten Wohlstand für die Armen und die Arbeiterklasse zu schaffen, müssen wir das Angebot an Dingen wie Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung erhöhen sowie die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit verbessern.
Was sind aber die Maßstäbe, um die Situation des Landes als Ganzes zu beurteilen? Es sind schließlich die Menschen zwischen dem 10. und dem 90. Perzentil der Einkommensverteilung, die die große Mehrheit der Bevölkerung stellen. Und ihre wirtschaftliche Situation prägt weitgehend die Stimmung des Landes. Aber die wirtschaftliche Situation der breiten Mitte der amerikanischen Klassenstruktur ist nach den Statistiken, die Smith anführt, besser als in anderen reichen Ländern. Er argumentiert weiter, dass das insgesamt höhere durchschnittliche Einkommen in den USA die schädlichen Auswirkungen höherer Ungleichheit teilweise aufheben.
Nimmt man als Maß für Ungleichheit die relative Armutsrate (Prozentsatz der Bürger, die mit oder unter der Hälfte des mittleren Einkommens leben), waren das in den USA im Jahr 2019 17,8% – mehr als in anderen wohlhabenden Staaten. Das bedeutet, dass ein Mitglied der Arbeiterklasse, das am Rande der (relativen) Armut steht, in einem Haushalt lebte, der 21.400 Dollar pro Jahr verdiente. Das entspricht ungefähr dem mittleren Einkommen der Haushalte in Japan und etwa 84 % des mittleren Einkommens der Haushalte in Großbritannien.
Mit anderen Worten, ein Amerikaner der Arbeiterklasse am Rande der Armut verdient so viel wie ein Mensch aus der Mittelschicht in einigen anderen reichen Ländern.
All die im Artikel angeführten umfangreichen Beispiele und Statistiken zeigen: Der typische amerikanische Mittelschichtler lebt materiell ein verschwenderischeres Leben als seine Kollegen in Europa oder anderen reichen Nationen. Noah Smith zieht daraus den Schluss:
Die amerikanische Mittelschicht hat viele Probleme – abnehmende Aufwärtsmobilität, Waffengewalt, Alkoholismus, Opiate, Familienzusammenbruch und soziale Spaltungen. Aber sie sind keine armen Menschen, nach den Maßstäben einer Nation. Und sie als solche zu charakterisieren – sich vorzustellen, dass die Probleme der amerikanischen Mittelschicht weitgehend durch eine Umverteilung der Einkommen des 90% Perzentil behoben werden können – ist eine Ablenkung von den wirklichen Problemen und den wirklichen Lösungen.
Umverteilung kann sicher helfen, Amerikas hohe Armutsrate zu verringern. Aber für die sozialen Probleme der Mittelschicht sieht Smith keine so einfachen Lösungen. Leider bleiben seine Vorschläge vage und unscharf. Er sieht schon die höhere Lebensqualität in europäischen Sozialstaaten – z. B. weniger Kriminalität, niedrigere Fettleibigkeitsraten und kürzere Arbeitszeiten. Aber so richtig es ist, nicht allein auf die Armutsquote zu schauen, so sehr fehlt ein Konzept für die „wirklichen Probleme“, die Noah Smith auch gar nicht klar benennt. Vielleicht ist es ja gerade der überbordende materielle Wohlstand, der ohne viel Bewusstsein und Sinn konsumiert wird?
Warum so wenige Italiener:innen gewählt haben
piqer:
Theresa Bäuerlein
Bei der Wahl am Sonntag in Italien war Giorgia Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia die Wahlsiegerin. Dieser Artikel will einordnen, wie es so weit kommen konnte. Gleich zu Beginn wird dabei klar: Besonders mächtig waren bei dieser Wahl die Stimmen der Nichtwähler. Ganze 36 Prozent der Italiener:innen gaben am Wahlsonntag keine Stimme ab – obwohl es in Italien sogar eine Wahlpflicht gibt. Der Artikel nennt vier Gründe aus Sicht der Wählenden, warum sich so viele enthalten haben.
1. Meine Stimme hat auf die Regierungsbildung keinen Einfluss
Italien hatte in den letzten Jahren zu oft eine Regierung, die so eigentlich niemand gewollt hatte. Bei den letzten Wahlen kam es immer wieder zu Pattsituationen und die Parteien bildeten Koalitionen, die sie vorher ausdrücklich abgelehnt hatten. Zuletzt führte Mario Draghi eine Notstandsregierung, an der fast alle Parteien beteiligt waren.
2. Die Regierung hat keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge
Die Parteien versprachen immer wieder viel – z. B. Steuersenkungen, die Verdopplung des Kindergelds, höhere Lehrgehälter und milliardenschwere Entlastungen bei den Energierechnungen – konnten ihre Versprechen aber nicht einhalten. Italiens Staatsverschuldung beträgt 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und das Wachstum lahmt seit Jahren. Das wissen die Bürger:innen.
3. Der arme Süden hat sowieso nichts zu erwarten
Im armen Süden Italiens ging die Wahlbeteiligung besonders dramatisch zurück, um bis zu 15 Prozentpunkte. Vor vier Jahren hatte die Fünf Sterne bei der Parlamentswahl eine Grundsicherung versprochen – für viele der Armen im Süden griff sie aber nicht. Sie könnten jetzt vielfach ins Lager der Nichtwähler gewechselt sein.
Außerdem ist in Italien keine Briefwahl möglich, es kann nur am Erstwohnsitz gewählt werden. Viele von denen, die den verlassen haben, behalten ihren Erstwohnsitz am alten Heimatort bei.
4. Das Wahlergebnis stand von vornherein fest
Laut der Meinungsforschungsinstitute war sowieso klar: Die Rechte geht ohne jeden Zweifel auf einen klaren Sieg zu, das Mitte-links-Lager auf eine ebenso klare Niederlage. Der Rechtsblock ist geeint, dessen Gegner gespalten, das Ergebnis stand daher ohnehin schon so gut wie fest, obwohl letztlich die Mitte-links-Kräfte fast 50 Prozent der Stimmen, die Rechte dagegen nur 44 Prozent holen konnten.
Giorgia Meloni konnte in dieser Situation nicht zuletzt deshalb innerhalb des Rechtslagers triumphieren, weil sie als einzige Hoffnungsträgerin übrig blieb, die in den vergangenen zehn Jahren immer in der Opposition gesessen hatte. Doch auch ihr droht jetzt wie vor ihr den Fünf Sternen oder auch Matteo Salvinis Lega, die noch bei der Europawahl 2019 34 Prozent geholt hatte und jetzt auf neun Prozent abgestürzt ist, die Entzauberung an der Regierung – und damit ein weiterer Rückgang der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der nächsten Parlamentswahl.
Eine neue fossile Infrastruktur entsteht in Deutschland
piqer:
Nick Reimer
Baubeginn zum ersten komplett privat finanzierten Flüssigerdgasterminal in Deutschland: Wie der Betreiber „Deutsche ReGas“ mitteilt, soll schon ab 1. Dezember in der Nähe von Greifswald LNG ins deutsche Stromnetz eingespeist werden. Geplant ist eine Kapazität von bis zu 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas, das jährlich ins deutsche Gasfernleitungsnetz gepumpt werden soll. Den Plänen zufolge soll das Flüssigerdgas nicht direkt in Lubmin angelandet werden, wo die russisch-deutschen Erdgaspipelines Nordstream 1 und Nordstream 2 Deutschland erreicht, sondern 450 Meter vor der Küste in der Ostsee. Von dort aus werden drei Shuttle-Schiffe als „virtuelle Pipeline“ das LNG zum Industriehafen Lubmin transportieren, wo aus dem flüssigen Erdgas gasförmiges gemacht werden soll.
Ein fataler Schritt für den Klimaschutz in Deutschland: Seit dem Sommer wird bereits im niedersächsischen Wilhelmshaven an einem Flüssigerdgasterminal gebaut, auch in Stade soll solch ein Hafen entstehen, weitere sind geplant. In der Regel werden derartige Investitionen über 30 Jahre lang abgeschrieben, das heißt, sie werden betrieben – also bis 2052. Deutschland will aber spätestens 2045 klimaneutral sein, also auch kein Erdgas mehr verbrennen.
Das verflüssigte Erdgas galt den Bündnisgrünen jahrelang als Übel, weil es in der Klimabilanz noch schlechter ist als konventionelles Erdgas und obendrein in Kanada und den USA zu einem Großteil durch Fracking gewonnen wird, wogegen die Grünen jahrelang gekämpft haben, weil man dem Erdreich nichts Schlimmeres antun kann. Jetzt ist es ausgerechnet die grüne Führungsmannschaft um Wirtschaftsminister Robert Habeck, die mit großem Tempo Flüssigerdgasterminals aufbauen lässt und dabei auch noch Umweltstandards wie die FFH-Richtlinie außer Kraft setzt. Unter anderem dies sorgt an der bündnisgrünen Basis für Unmut, der sich auf dem Parteitag im Oktober entladen könnte.
Deutschland versagt beim Klimaschutz im Verkehrssektor
piqer:
Daniela Becker
Verkehrsminister Wissing (FDP) hat am 17.09.22 in Stuttgart den „Metropolkongress: Zur Zukunft der Mobilität“ besucht. Ein Mitschnitt seines Redebeitrags sorgt für großes Entsetzen unter Verkehrswende-Aktiven. Unter anderem stellt sich der Minister gegen Kommunen, die Parkplätze zurückbauen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und City-Maut einführen möchten. Wie immer wird auch die Notwendigkeit von Autos für die Mobilität „der Landbevölkerung“ ins Feld geführt. Als Zuständiger für das Verkehrsressort gehört es ins Aufgabenfeld des Ministers, für bezahlbare Mobilität für alle zu sorgen, also die einseitige Abhängigkeit von teuren Autos zu reduzieren, aber das scheint Wissing grundlegend anders zu sehen. Mit Blick auf den Klimaschutz muss man solche Aussagen nahezu als Arbeitsverweigerung deuten.
Im gepiqten Beitrag wird aufgedröselt, wie schlecht die Klimabilanz des deutschen Verkehrssektors ist. Nähme die Regierung ihre internationalen Klimaziele ernst, dürfte sie ab 2025 keine neuen Benziner mehr zulassen.
Natürlich lässt sich auch ein Teil der Flotte durch Elektroautos ersetzen. Aber die Elektromobilität lässt sich nach Einschätzung der Fachleute nicht schnell genug ausbauen, um die Verbrenner komplett zu ersetzen. Es fehlt an Rohstoffen und Fabriken für die Batterien; an der Infrastruktur, um diese Batterien zu laden; an den Windrädern, um den nötigen Ladestrom klimaneutral zu erzeugen. Auch bei synthetischen Kraftstoffen, sogenannten E-Fuels, ist das Wachstum begrenzt. „Die derzeitige Fahrleistung der Verbrenner lässt sich mit Elektroautos und E-Fuels auf absehbare Zeit nicht erbringen“, sagt Niklas Höhne: „Es geht nur mit einem Umstieg aufs Fahrrad und den öffentlichen Personenverkehr.“ Tatsächlich hat die Ampel im Koalitionsvertrag vereinbart, den Zugverkehr bis 2030 zu verdoppeln. „Aber es passiert fast nichts, um dieses Ziel zu erreichen“, sagt Höhne.
Die große Rückkehr in die Büros bleibt (zu Recht) weiter aus
piqer:
Ole Wintermann
Warum sollten Beschäftigte zurück ins Büro kommen? Diese Frage stellt sich Rani Molla, nachdem sie aktuelle Studien zum Stand von Remote Work gelesen und etliche Interviews mit Beschäftigten geführt hat. Oder wie es eine Person in diesen Interviews auf den Punkt gebracht hat:
“Mir bringt das gar nix, außer einen längeren Arbeitsweg.”
Der Text wurde zwar schon im Sommer geschrieben, ist aber nach wie mehr als aktuell.
Die Beschäftigten sind aus Sicht der Autorin in drei Gruppen aufteilbar. Die erste Gruppe hat schon immer lieber remote gearbeitet, da Mitglieder dieser Gruppe sachlich keinem Zwang unterliegen, ins Büro kommen zu müssen, sozial eher zurückhaltend agieren oder ganz allgemein mit Remote Work produktiver sein können.
Die zweite Gruppe besteht aus Beschäftigten, die während der Pandemie sehnlichst darauf gewartet hatten, endlich wieder face2face agieren zu können, denen also das unmittelbare soziale Miteinander besonders wichtig ist. Die Mitglieder dieser Gruppe erleben nun aber, dass zwar das Wiederkommen zu Anfang spannend gewesen ist, um sich über die letzten zwei Jahre auszutauschen, dieser Austausch ist jetzt aber beendet und sie müssen erleben, dass in den Büros gar nicht die Menge an Beschäftigten vorzufinden ist, mit denen sie sich austauschen könnten.
Die dritte Gruppe von Menschen besteht aus Beschäftigten, die sich fest vorgenommen hatten, hybrid arbeiten zu wollen. Diese Menschen müssen nun feststellen, dass ihre eigenen Vorstellung von Büro- und Remote-Tagen aber nicht zwangsläufig mit den Vorstellungen ihrer Kolleg:innen übereinstimmen müssen, so dass sie seit letztem Jahr wieder verstärkt zu Remote Work tendieren.
In Summe bedeutet dies letztlich, dass keine der drei Gruppen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, einen wirklichen Grund darin erkennen kann, zurück ins Büro zu kommen.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben inzwischen kein geteiltes Verständnis mehr darüber, wozu ein Büro eigentlich gut ist. Wenn, wie heutzutage in großen Firmen üblich, das Modell „Desk Sharing“ gelebt wird, macht es einfach deutlich mehr Sinn, in einem Coworking-Space, in einem Café oder zuhause als von einem anonymen, langweiligen Büroarbeitsplatz aus zu arbeiten. Arbeitgeber kämpfen zudem um Fachkräfte und werden daher kein Interesse daran haben, den Beschäftigten vorschreiben zu wollen, eine feste Anzahl von Tagen pro Woche ins Büro zu kommen. Der Anteil der Video-Meetings steigt nach Angaben der Meeting-Softwarehersteller seit 2021 dementsprechend auch wieder deutlich an – obgleich es die partielle Rückkehr ins Büro gegeben hat.
Arbeitgeber glauben deutlich häufiger als die Beschäftigten selbst, dass es für die Kreativität der Mitarbeitenden wichtig sei, dass sie im Büro anwesend sind. Paternalismus und Scheinheiligkeit in den Chef-Etagen scheinen grenzenlos:
„Slack’s Future Forum survey found that while executives were more likely to say people should come into the office full time, they are less likely to do so themselves.“
Für die Beschäftigten in den Büros scheinen also gute Zeiten anzubrechen:
„It seems like, for now, office workers have the upper hand. Many don’t expect to be penalized by management for not working from the office when they’re supposed to, partly because they don’t think management believes in the rules themselves.“
Das Bahnfahren in Europa macht Fortschritte
piqer:
Squirrel News
Während das Bahnfahren in Deutschland immer noch zu großen Teilen aus Verspätungen besteht, haben unsere Nachbarländer zuletzt fast wöchentlich positive Schlagzeilen damit gemacht.
Bei den Nachtzügen etwa geht Österreich voran und zeigt mit einer neuen Generation der NightJets (siehe auch Link unten), dass Nachtzugfahren nicht zwangsläufig in rumpeligen, veralteten Kabinen statt finden muss, in denen man durch das Schnarchen der Mitreisenden geweckt wird. Stattdessen haben die Österreichischen Bundesbahnen investiert, ein modernes Design entwickelt und gleichzeitig mit neuen Einzelkabinen eine mögliche Lösung für mehr Privatsphäre eingeführt. Insgesamt sollen die Nachtzüge der ÖBB so noch besser mit Kurzstreckenflügen konkurrieren können.
Ebenfalls interessant ist ein neuer Hochgeschwindigkeitszug, der Madrid und Barcelona verbindet. Die Züge sollen die schnellsten, leisesten und nachhaltigsten in Europa sein, nicht nur weil sie mit erneuerbarer Energie betrieben werden, sondern auch weil sie „fast vollständig aus recycelbaren Materialien bestehen, wie es heißt“.
Dazu kommt der Preis: Tickets für die mehr als 600 Kilometer lange Strecke Madrid – Barcelona soll es schon ab 18 Euro geben. Auch daran könnte sich die Deutsche Bahn ein Beispiel nehmen; nicht zuletzt, weil ein möglicher Nachfolger für das 9-Euro-Ticket ja vor allem auf den Nahverkehr zielt.
Und dann wäre da noch das Baltikum: Dort soll eine neue Schnellzugstrecke die Hauptstädte Litauens, Lettlands und Estlands mit Warschau und dem übrigen Europa verbinden.
„Das größte Infrastrukturprojekt in der baltischen Region ist ein Jahrhundert-Projekt“, schreibt Euronews.
Durch die Umstellung von der sowjetischen auf die europäische Gleisbreite halbiert sich die Fahrtzeit auf manchen Abschnitten. Gleichzeitig werden die baltischen Staaten so unabhängiger von Russland, was ebenfalls nur gut sein kann, wie viele andere Entwicklungen des Jahres eindrücklich zeigen.
Fairerweise muss man aber hinzufügen: Was die Nachtzugverbindungen angeht, ist man auch mit sowjetischer Gleisbreite noch deutlich besser bedient als in Deutschland. Womöglich traut sich die Deutsche Bahn ja erst dann, das Nachtzugfahren in Angriff zu nehmen, wenn sie ihr Verspätungsproblem in den Griff bekommen hat.
Gute Rente? Einfach das Auto abschaffen
piqer:
Rico Grimm
Was kostet eigentlich Autofahren? Also klar: Wir kennen die Kosten fürs Tanken, für Versicherungen, für Reparaturen, aber was kostet ein Auto gesamt? Forschende haben es für die drei populärsten Modelle, einen Corsa, einen Golf und einen Mercedes GLC, ausgerechnet: mindestens 380.000 Euro, wenn man 50 Jahre Autofahren unterstellt. Und das sind wirklich nur die Kosten, die die Fahrzeughalter haben. Nicht mit eingerechnet sind die zahllosen Subventionen, die alle Steuerzahler mitfinanzieren.
Dieser Text arbeitet dabei das eigentliche Problem gut heraus: All dieses Geld kann nirgendwo anders hinfließen. Autos sind Geldgräber.
Welche Rolle spielt Geld bei medizinischen Entscheidungen?
piqer:
Silke Jäger
Der Film von Claudia Ruby sucht nach Antworten auf diese Frage. Dabei schaut die Dokumentation aus der Perspektive derjenigen auf das Problem des kommerzialisierten Gesundheitssystems, die wegen des Geldes in einen Interessenskonflikt geraten: Ärzt:innen, Pflegefachleute und Verwaltungsmitarbeiter:innen von Krankenhäusern. Die Doku zeigt, wie sehr sie unter wirtschaftlichem Druck stehen, der auf ihren Arbeitgebern lastet. Dabei geht es immer auch um die Frage, was das für die Patient:innen bedeutet.
Beispiel Frühchen: Je weniger ein Frühchen wiegt, desto mehr Geld überweisen die Krankenkassen an die Krankenhäuser. Je nach Geburtsgewicht können es über 100.000 Euro sein. Für eine verhinderte Frühgeburt wird circa fünfmal weniger Geld gezahlt. Der Aufwand für den Erhalt einer Schwangerschaft mag ein anderer sein, aber der Film zeigt, das Frühchen für ein Krankenhaus sehr lukrativ sind und andere Bereiche sozusagen querfinanzieren müssen. Entscheiden Ärzt:innen mit diesem Wissen im Hinterkopf anders? Werden Frühchen früher auf die Welt geholt, weil das Krankenhaus dann mehr Geld bekommt?
Beispiel künstliche Beatmung. Je nach Beatmungsdauer bekommen Krankenhäuser stufenweise Geld. Verlängert sich die Beatmungszeit nach den ersten 24 Stunden nur um eine Stunde, kann das Krankenhaus mehr als doppelte abrechnen. Eine Intensivpflegerin berichtet im Film, dass es in ihrer Abteilung genaue Anweisungen dafür gebe, wie lange Beatmungen dauern sollen.
Claudia Ruby hat für den Film auch mit Codierfachkräften gesprochen, also mit Mitarbeiter:innen, die die Abrechnung von Kliniken mit Krankenkassen organisieren. Sie erklären, mit welchen Änderungen bei der Codierung die Klinik mehr Geld aus einem Behandlungsfall herausholen kann.
Claudia Ruby sagte mir im Gespräch über den Film: „Es war sehr schwer, Ärzt:innen und Pflegefachleute zu finden, die vor der Kamera darüber reden wollten, wie sehr sich der ökonomische Druck auf ihre Entscheidungen auswirkt. Aber alle, mit denen wir bei unserer Recherche gesprochen haben, haben uns gesagt, dass das Abrechnungssystem die Behandlung im Krankenhaus beeinflusst. Oft zum Nachteil der Patient:innen.“
Was den Film sehr sehenswert macht ist zum einen die Perspektive. Sie verdeutlicht, wie sehr dieses System für alle, die damit zu tun haben, ein Problem ist. Zum anderen erklärt der Film sehr anschaulich und praxisnah, wie sich der ökonomische Druck auswirkt. Animationen und Grafiken helfen, die komplexen Hintergründe besser zu verstehen.