Außenwirtschaft

Ist mehr Freihandel eine wirksame Antwort auf Trump?

Oft wird gefordert, dass die EU ihre Freihandelspolitik in Reaktion auf Trumps Zölle und Anfeindungen vorantreiben sollte. Eine neue Studie hat untersucht, ob und welche makroökonomischen Effekte dies haben könnte. Ein Beitrag von Thieß Petersen.

Allerspätestens seit dem letzten Wochenende dürfte klar sein, dass die Europäische Union von Donald Trump – gelinde gesagt – nicht mehr sonderlich viel zu erwarten hat. In einem Politico-Interview holte der US-Präsident zum Rundumschlag aus und bezeichnete die EU als eine „verfallende“ Gruppe von Ländern, die von „schwachen“ Personen regiert würde. Diese Haltung reiht sich ein in die Entscheidungen, die Trump seit Beginn seiner zweiten Amtszeit getroffen hat. Wirtschaftspolitisch sind dies vor allem die von Trump angedrohten und teilweise auch umgesetzten Importzölle. Sie bremsen das Wachstum in Deutschland und vielen anderen exportstarken Volkswirtschaften spürbar.

Eine oft propagierte Antwort der EU auf die US-Zollpolitik könnte darin bestehen, die Handelsbeziehungen mit anderen Ländern zu intensivieren. Das umfasst den Abschluss neuer und den Ausbau bereits bestehender Freihandelsabkommen. Um die potenziellen Wachstumseffekte abzuschätzen, die sich aus einer umfassenden Freihandelsinitiative der EU ergeben könnten, hat das Kiel Institut für Weltwirtschaft im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entsprechende Simulationsrechnungen erstellt. Zentrale Ergebnisse dieser Berechnungen sowie deren Bewertung werden in diesem Beitrag vorgestellt.

Die Szenarien im Überblick

Ausgangspunkt ist ein Basisszenario, in dem eine vergleichsweise moderate US-Zollpolitik angenommen wird. Die USA erheben Importzölle in Höhe von 25% auf Stahl, Aluminium und Autos. Außerdem wird angenommen, dass sich die amerikanische Zollpolitik primär gegen China wendet. Die Zollsätze auf chinesische Produkte betragen 30%.

Im ersten Szenario schließt die EU neue Freihandelsabkommen mit knapp 30 Ländern. Zu ihnen gehören die Länder der „Association of Southeast Asian Nations“ (ASEAN), Indien, Australien, die MERCOSUR-Staaten sowie die Länder der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Freihandelsabkommen haben unterschiedliche Tiefen. Die Design of Trade Agreements Database (DESTA) ordnet Abkommen in 7 Kategorien ein, von 1 für „sehr flach“ bis 7 für „sehr tief“. Werden lediglich Importzölle weitgehend abgeschafft, haben die Abkommen eine geringe Tiefe. Die in dem ersten Szenario simulierten Freihandelsabkommen sind flach, weil solche Abkommen schneller verhandelt und umgesetzt werden können.

Im zweiten Szenario wird angenommen, dass die EU ihre bereits bestehenden Freihandelsabkommen vertieft. Gegenwärtig hat die EU mit 47 Ländern solche Abkommen. Nur 7 Länder erreichen die höchste Stufe: Südkorea, Japan, Singapur, Vietnam, Chile, Kolumbien und Peru. In diesem Szenario werden die Abkommen der verbleibenden 40 Länder auf die höchste Stufe angehoben. Das dritte Szenario fasst die beiden ersten Szenarien zusammen.

Wie sind die Ergebnisse zu interpretieren?

Die Simulationsrechnungen werden mit dem „Kiel Institute Trade Policy Evaluation“-Modell (KITE) durchgeführt, das speziell für die Analyse handelspolitischer Maßnahmen entwickelt wurde. Es berechnet die Auswirkungen entsprechender Maßnahmen auf die Produktionskosten und das Konsumverhalten, die internationalen Handelsströme und schließlich das Bruttoinlandsprodukt.

Das Modell berechnet diese Effekte sowohl für die kurze als auch für die lange Frist. Kurzfristige Effekte decken einen Zeitraum von 12 Monaten ab. Die lange Frist umfasst 4 bis 5 Jahre. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Freihandelsabkommen ihre volle Wirkung erst nach einigen Jahren entfalten.

Die nachfolgend präsentierten Simulationsergebnisse sind wie folgt zu interpretieren: Sollte das deutsche BIP im ersten Szenario in der kurzen Frist 0,3% höher ausfallen, bedeutet dies: Die sofortige Umsetzung der in dem ersten Szenario angenommenen neuen EU-Freihandelsabkommen hätte zur Folge, dass das deutsche BIP im ersten Jahr nach Abschluss der Abkommen um 0,3% höher wäre als im Fall des Basisszenarios, in dem es die neuen Freihandelsabkommen nicht gibt. Es handelt sich also um einen einmaligen Niveau-Effekt.

Langfristige ökonomische Folgen für Deutschland und die EU

Der gleichzeitige Abschluss aller in Szenario 1 genannten neuen Freihandelsabkommen würde in Deutschland in der langen Frist zu einem um 0,36% höheren realen BIP führen. Um ein Gefühl für die absolute Höhe dieses Anstiegs zu erhalten, bietet sich folgende Überschlagsrechnung an: Im Jahr 2024 betrug das deutsche BIP 4.305 Milliarden Euro. Der simulierte Zuwachs entspräche 15,5 Milliarden Euro. Für die EU liegt der BIP-Zuwachs bei rund 0,3%. Bezogen auf das EU-BIP des Jahres 2024 wären das etwas über 54 Milliarden Euro.

Die in Szenario 2 angenommene Vertiefung der bestehenden Freihandelsabkommen der EU führt zu langfristigen BIP-Zuwächsen, die für die 27 EU-Länder zwischen 0,2 und knapp 1% liegen. Deutschland schneidet in diesem Szenario mit einem leicht unterdurchschnittlichen BIP-Zuwachs ab. Das gilt grundsätzlich für die großen Volkswirtschaften wie beispielsweise Frankreich und Italien. Viele kleine Länder erreichen in diesem Szenario überdurchschnittliche BIP-Effekte. Das liegt vor allem daran, dass Außenhandelsbeziehungen für kleine Volkswirtschaften relevanter sind als für große Länder, die über einen großen Binnenmarkt verfügen und deshalb weniger stark auf außenwirtschaftliche Beziehungen angewiesen sind.

Die Kombination aus dem Abschluss neuer und der Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen in Szenario 3 hätte die stärksten Wachstumseffekte. Langfristig wäre das deutsche BIP knapp 0,7% höher als im Basisszenario. Bezogen auf das BIP des Jahres 2024 ergäbe sich ein Absolutbetrag in Höhe von etwas mehr als 29 Milliarden Euro. Für die EU liegen die langfristigen Werte bei etwas mehr als 0,6% bzw. knapp 114 Milliarden Euro.

Einordnung der Simulationsergebnisse

Für die Bewertung der Simulationsresultate bieten sich zwei Aspekte an: die Höhe der BIP-Effekte und die Wahrscheinlichkeit, dass die Szenarien tatsächlich umgesetzt werden.

BIP-Effekte

Deutschland und die EU sind bereits tief in die Weltwirtschaft integriert. Dies ist vor allem auf den massiven Abbau von Zöllen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Abschluss zahlreicher Freihandelsabkommen zurückzuführen. Von weiteren einzelnen Abkommen ist daher nur noch ein moderater Wachstumseffekt zu erwarten. Dazu zwei Beispiele:

  • Die EU und Kanada einigten sich 2013 auf das umfassende bilaterale Freihandelsabkommen CETA. Eine 2014 veröffentlichte Studie kam zu der Einschätzung, dass dies das langfristige reale Einkommen sowohl in der EU-27 als auch in Deutschland um rund 0,2% erhöhen würde. Die bloße Abschaffung von Zöllen hätte hingegen kaum wahrnehmbare Effekte zur Folge: In Deutschland und in der EU läge der langfristige reale Einkommenszuwachs bei lediglich 0,01%.
  • Verschiedene Simulationen zu den Wachstumseffekten eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den MERCOSUR-Staaten berechnen langfristige BIP-Zuwächse, die für die EU ebenso wie für die EU-Mitgliedstaaten in den meisten Studien bei 0,1% und weniger liegen.

Diese Schätzungen verdeutlichen, dass – ausgehend von dem bisher erreichten Stand der internationalen Arbeitsteilung – Freihandelsabkommen der EU mit einzelnen Ländern oder mit wenigen Ländern lediglich begrenzte Wachstumseffekte haben. Zudem sind spürbare BIP-Effekte erst möglich, wenn auch nicht tarifäre Handelshemmnisse reduziert werden. Signifikante Wachstumsimpulse sind also nur bei ambitionierten Freihandelsinitiativen zu erwarten.

In den hier durchgeführten Simulationsrechnungen bezieht sich das hohe Ambitionsniveau auf die große Anzahl der Länder, mit denen die EU entsprechende Abkommen schließt, sowie im zweiten Szenario auf die Tiefe der Abkommen.

Realisierungschancen der angenommenen Szenarien

Der Abschluss neuer und die Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen sind mit hohem Aufwand verbunden. Das betrifft sowohl die Dauer der Verhandlungen als auch den dafür erforderlichen personellen Aufwand. Beides bezieht sich neben den Verhandlungen zwischen der EU und den beteiligten Partnerländern auch auf die Abstimmungsprozesse innerhalb der EU.

So gibt es beispielsweise in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Ausgestaltung der europäischen Handelspolitik. Das bremst das Tempo bei Verhandlungen über neue bzw. die Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen.

Deutschland hat wegen seiner hohen Exportorientierung ein großes Interesse am Abschluss neuer Freihandelsabkommen. Frankreich setzt sich hingegen stärker für einen Schutz des europäischen Binnenmarktes vor ausländischer Konkurrenz ein, allen voran im Bereich der Landwirtschaft.

Zur Reduktion der Import- und Exportabhängigkeiten baut Deutschland u. a. auf eine Diversifizierung der außenwirtschaftlichen Beziehungen. Frankreich plädiert hingegen auch bei diesem Ziel stärker für handelspolitische Schutzinstrumente.

Das hohe Ambitionsniveau der hier simulierten Freihandelsinitiative hat also einen Preis: Die Realisierungschancen sind geringer. Dies gilt insbesondere für die Vertiefung der bestehenden EU-Szenarien, also Szenario 2 und damit auch Szenario 3: Eine Anhebung aller bestehenden Abkommen auf das höchstmögliche Niveau ist letztendlich nicht realistisch. Hinzu kommt der zeitliche Aspekt der erforderlichen Verhandlungen. Eine gleichzeitige Umsetzung aller in den Szenarien betroffenen Abkommen ist daher nicht zu erwarten.

Trotz dieser Restriktionen hinsichtlich der politischen Umsetzbarkeit der Szenarien geben die Berechnungen einen Orientierungsrahmen für die langfristig möglichen Potenziale einer umfassenden EU-Freihandelsinitiative.

Weitere Vorteile von EU-Freihandelsabkommen

Neben den reinen BIP-Effekten haben Freihandelsabkommen weitere Vorteile. Sie können die Versorgungssicherheit mit Energie, Rohstoffen und Vorleistungen aus dem Ausland erhöhen und somit die Lieferkettenresilienz steigern. Das kann auch einen wachstumserhöhenden Effekt haben:

  • Wenn deutsche Unternehmen weniger Ressourcen aufwenden müssen, um sich gegen drohende Ausfälle von importierten Vorleistungen abzusichern, reduziert das ihre Produktionskosten.
  • Die damit einhergehenden möglichen Preissenkungen steigern die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und verbessern so ihre Exportchancen.
  • Sinkende Güterpreise erhöhen die Kaufkraft der Verbraucher:innen, was über eine steigende Konsumgüternachfrage die heimische Produktion zusätzlich erhöhen kann.
  • Schließlich steigert eine höhere Versorgungssicherheit die Standortattraktivität eines Landes. Das kann die Investitionstätigkeiten ankurbeln.

Dies alles führt zu einem höheren Wirtschaftswachstum, das jedoch im Rahmen des hier verwendeten Simulationsmodells nicht abgebildet werden kann. Die tatsächlichen Wachstumseffekte der simulierten Freihandelsabkommen dürften also höher ausfallen als die ausgewiesenen Ergebnisse.

Schließlich sind noch die Effekte zu berücksichtigen, die jenseits einer Erhöhung des Wirtschaftswachstums zu erwarten sind. Das betrifft vor allem die Stärkung der geopolitischen Position der EU sowie des sogenannten „Brüssel-Effekts“, der die faktische Übernahme von europäischen Rechtsnormen, Regulierungsmaßnahmen und Standards durch Nicht-EU-Staaten bezeichnet. Diese Vorteile lassen sich schwer in Geldeinheiten ausdrücken. Dennoch sollten sie bei der Bewertung der Vorteilhaftigkeit des Abschlusses neuer bzw. der Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen berücksichtigt werden.

Schlussfolgerungen

Unter Berücksichtigung der Realisierungschancen der hier simulierten Freihandelsszenarien lassen sich folgende Schlussfolgerungen festhalten:

  • Realistischerweise werden der Abschluss neuer und die Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen lediglich moderate direkte Wachstumseffekte haben, weil viele der hier simulierten Handelserleichterungen wegen politischer Widerstände aufseiten der EU und der involvierten Handelspartner nicht umgesetzt werden können.
  • Wegen der skizzierten Hürden bei der politischen Umsetzung ist zudem keine rasche Umsetzung zu erwarten. Für ein schnell wirkendes Konjunkturprogramm eignen sich Freihandelsabkommen daher nicht.
  • Maßnahmen zum Abbau von Handelshemmnissen sollten dennoch nicht vernachlässigt In Zeiten eines schwachen Wirtschaftswachstums ist auch eine Erhöhung des BIP-Niveaus um wenige Prozentpunkte höchstwillkommen. Zudem sei daran erinnert, dass die einmalige Erhöhung des BIP-Niveaus zu kumulierten BIP-Effekten im Zeitablauf führt.
  • Schließlich sind die zusätzlichen Vorteile von Freihandelsabkommen zu berücksichtigen, vor allem die Reduktion von Import-, aber auch Exportabhängigkeiten, die Stabilisierung der Lieferkettenresilienz und die Stärkung der geopolitischen Position.

Alles in allem kann die EU mit dem Abschluss neuer und der Vertiefung bestehender Freihandelsabkommen somit eine konstruktive Antwort auf die US-Zollpolitik geben. Es könnten moderate Wachstumseffekte generiert, die geopolitische Position der EU gestärkt und ökonomische Abhängigkeiten reduziert werden.

 

Zum Autor:

Thieß Petersen ist Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung und Autor volkswirtschaftlicher Lehrbücher.

Hinweis:

Dieser Beitrag basiert auf dem Focus Paper „Wachstumseffekte von  Freihandelsabkommen für Deutschland und die EU“.