Fremde Federn

Irreguläre Migration, britische Misere, soziale Energie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Welche Klimapolitik von Trump zu erwarten ist, warum wir so erschöpft sind und was geschieht, wenn man Smartphones an Schulen verbietet.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

EU-Projekt will irreguläre Migration untersuchen

piqer:
Jürgen Klute

Das Thema Migration lässt In der Europäischen Union und in etlichen ihrer Mitgliedsländer seit Jahren die Emotionen hochkochen. Das Erregungspotential erhöht sich noch einmal, wenn es um irreguläre Migration geht. Dabei ist die Datenlage über letztere – also über irreguläre Migration – äußerst dürftig. Derzeit gibt es nur eine grobe Schätzung des US-amerikanischen PEW Research Center für das Jahr 2017 zur irregulären Migration in der EU.

Das soll sich nun ändern. Das Zentrum für Migrations- und Globalisierungsforschung an der Universität für Weiterbildung Krems hat 2022 das EU-Horizon-Projekt „Measuring Irregular Migration and Related Policies“ (kurz: MIrreM) gestartet. Dieses Projekt soll genauere Daten liefern und auch politische Handlungsempfehlungen.

Sarah Kleiner stellt dieses Projekt und seine Ziele im Wiener Standard vor und benennt sowohl die Probleme bei der Zusammenstellung der Daten im Rahmen dieses Projektes als auch die Schwachstellen der für 2017 erfolgten Untersuchung zur irregulären Migration des PEW Research Center.

Welche Klimapolitik von Trump zu erwarten ist

piqer:
Ralph Diermann

In seiner ersten Amtszeit hat Donald Trump längst nicht so viel Porzellan zerschlagen wie es ihm möglich gewesen wäre, wenn er nicht so dilettantisch regiert hätte. Um zu verhindern, dass sich das nach seiner Wiederwahl wiederholt, hat der einflussreiche rechte Think Tank Heritage Foundation einen umfangreichen Fahrplan für das Regierungshandel in einer zweiten Amtszeit Trump erarbeitet. Ella Müller, in Washington für die Heinrich-Böll-Stiftung tätig, beschreibt in einem kostenlos zugänglichen Gastbeitrag für Tagesspiegel Background Energie & Klima was darin zur Klimapolitik steht. Sie geht davon aus, dass der Fahrplan Regierungsprogramm wird, wenn Trump die Wahl gewinnt.

Das Thema Energie nimmt einen sehr hohen Stellenwert ein in diesem Konzept, gehört die aggressive Verteidigung der fossilen Welt doch zu den Säulen der rechten Propaganda. Die Zukunft der USA liegt auf Bohrinseln, in Kohleminen und in Erdgasförderanlagen, schreibt Müller, die Helden dieser rechten Erzählung seien Bauern und Trucker. Bidens Klima- und Industriepolitik werde abgewickelt, die Umweltbehörde EPA kaltgestellt, der Inflation Reduction Act – ein üppig ausgestattetes Programm, das Investitionen in klimaschonende Technologien anreizt – rückgängig gemacht. Für all das liefert das Dokument detaillierte Pläne.

Im Kern gehe es darum, die fossile Welt mit allen Mitteln zu verteidigen. Dazu zählt auch, Klimaschützer als Staatsfeinde, als Extremisten zu brandmarken, sie aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, sie gar zu kriminalisieren. Der Tonfall ist paranoid, schreibt Müller, maximal alarmistisch und aggressiv. Sie zitiert aus dem Programm:

„Conservatives have just two years and one shot to get this right. With enemies at home and abroad, there is no margin for error. Time is running short. If we fail, the fight for the very idea of America may be lost.“

Staats- und Eliteversagen in Großbritanien – da wie hier?

piqer:
Thomas Wahl

Deutschland wird gerade mal wieder als der „kranke Mann Europas“ tituliert. Aber wir sind nicht allein. England geht es seit Jahren ähnlich oder schlimmer – Infrastrukturen und Unternehmen siechen dahin:

Heute ähnelt Britannien dem, der es in den siebziger Jahren schon einmal gewesen war. Die Reallöhne liegen tiefer als vor der Finanzkrise von 2008/09. Die Inflation hält sich hartnäckiger als in vergleichbaren Ländern. Die Zahl der Armen, die auf Nahrungsmittelspenden angewiesen sind, wächst. Streikwellen lähmen Eisenbahnen und Spitäler.

„Der Spiegel“ hat vor einigen Monaten eine eindringliche Reportage (hier der Podcast) dazu gebracht.

Lebensmittel werden knapp, Wohnungen verschimmeln, Pflegekräfte flüchten: Ein Sturm fegt über Großbritannien, Millionen Menschen rutschen in die Armut. Eine Reise an den Rand des Erträglichen.

Und natürlich wird allgemein das Problem einseitig darauf zurückgeführt, das die Reichen immer reicher werden und der Neoliberalismus sich eben auswirkt. Der Brexit hat sicher ebenfalls seinen Anteil. Aber wie ist es mit dem Staat, den politischen Eliten und auch mit der Demokratie? Die politische Lage in GB ist permanent instabil. So haben die Torys, seit über 13 Jahren an der Macht, in sieben Jahren zwei Premierminister und zwei Premierministerinnen verschlissen.

Kürzlich haben zwei Akteure des konservativen Regierungslagers ihre politischen Memoiren veröffentlicht. Das ist einmal Theresa May, Innenministerin von 2010 bis 2016 und danach drei Jahre Premierministerin. Der zweite Autor ist der frühere konservative Abgeordnete Rory Stewart, eine Zeit lang Entwicklungshilfeminister im Kabinett von Theresa May.

Unabhängig voneinander schildern sie Innenansichten vom Zentrum der Macht und ringen nach Erklärungen für das britische Malaise. ….. May reiht über ein Dutzend Beispiele von «Staatsversagen» aneinander.

Die NZZ schildert diese Analysen des eigenen Polit-Handelns in den Netzwerken der Macht und das individuelle Erleben der politischen Strukturen. Beide Akteure zeigen, wie schwer es ist, solche alten, traditionell gewachsenen politischen Strukturen zu verändern und wie stark diese zu Unterlassungen und zu Fehlhandlungen beitragen.

May schildert etwa Fälle von Übergriffen durch Amtsträger – Spesenskandale oder sexuelle Belästigungen und Mobbing durch Abgeordnete. Gewichtiger sieht sie wohl Fälle von Machtmissbrauch, bei denen Amtsträger und Institutionen die eigenen Interessen höher gewichten als das Gemeinwohl. Immer wieder geht es darum,

dass Autoritäten untätig geblieben sind, wenn sie hätten eingreifen müssen. Ein Beispiel ist die Brandkatastrophe im Wohnhochhaus Grenfell in Westlondon im Sommer 2017, die mehr als siebzig Todesopfer forderte. Wie man mittlerweile weiss, waren bei der Renovation des Gebäudes Bauvorschriften missachtet worden, und Hausverwaltung und Behörden hatten nicht auf Warnungen der Bewohner reagiert. ..… So kritisiert sie das Versagen der Polizeiorganisation in Rotherham im Norden Englands. Zwei Jahrzehnte lang blieben die Ordnungshüter untätig, während eine Bande pakistanischstämmiger Männer Hunderte von Mädchen sexuell missbrauchte und zur Prostitution zwang. Die Angst, als rassistisch verleumdet zu werden, lähmte das Pflichtbewusstsein der Polizisten.

Dabei liegen die Skandale oft an strukturellen Schwächen des politischen Systems in England, auf die May nicht eingeht – so die Kritik von Markus M. Haefliger in der NZZ. Etwa der britische Zentralismus:

Vielfach – immer für die 85 Prozent von Briten, die in England leben – laufen die Fäden wie seit je im Londoner Regierungsbezirk Westminster zusammen, auch wenn sich die Macht über die Jahrhunderte in vielen kleinen Schritten vom Königshaus zum Parlament und dort vom Besitzadel hin zu den gewählten Volksvertretern verschoben hat.

Das führt dazu, das Subsidiarität der britischen Gesellschaft fremd geblieben ist. Es wird nicht auf der Ebene entschieden, die für das Problem die höchste Kompetenz hat, sondern Westminster hat meist das erste und letzte Wort. Die 400 Gemeindebehörden des Landes sind eher Londons Ausführungsorgane.

In gewissem Sinn sind die Briten Untertanen geblieben. Angestellte und Beamte scheuen sich, nach eigenem Wissen und Gewissen über einen Sachverhalt zu verfügen. Die Folgen sind Schlendrian und Stümperei, die durch ein tiefes Berufsbildungsniveau im Tieflohnsektor verstärkt werden. In England kann man es sehen: ohne Ausbildung kein Berufsstolz, ohne Berufsstolz kein Pflichtbewusstsein.

Dafür gibt es immer wieder Beispiele. Wahrscheinlich muss man letztendlich auch den Brexit und seine Durchführung dort einordnen – viel stümperhafter ging es kaum. Das passt auch zu dem Sittenbild, das Rory Stewart schildert. Der charakterisiert die Torys in seiner Unterhausfraktion als „eitle Schaumschläger“, die lieber intrigieren als ernsthaft politische Ziele zu verfolgen. Irgendwelche Selbstzweifel sind ihnen dabei aber grundsätzlich fremd, Kompetenz scheint kaum eine Rolle zu spielen. So hätten nur wenige Politiker die technischen Aspekte des EU-Austritts-Vertrags verstanden. Aber es wurde laut für oder gegen sie argumentiert. Ein Volk, das solche Politiker wählt, braucht keine Feinde. Dazu kommt – so Stewart – die ungeeignete Struktur der demokratischen Mechanismen:

Der bei Unterhauswahlen geltende einfache Majorz – pro Wahlkreis gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen – verstärkt den Konkurrenzdruck und die Duckmäuserei. Dazu kommt, dass die Exekutive die Gesetzgebung weitgehend allein bestimmt. Der Anreiz für parteiübergreifende Vorstösse fällt entsprechend gering aus. Grossprojekte, über die ein Konsens herrschen sollte, damit sie in der Ausführungsphase von der Politik verschont bleiben, geraten zum Spielball enger Parteiinteressen.

Was dazu führt, das Reformen nur schlecht gelingen, Kompromisse nicht zustande kommen, ständige politische Richtungswechsel an der Tagesordnung sind. Was auch zeigt, dass es für eine funktionierende Demokratie nicht reicht, ordentliche Wahlen durchzuführen. Auch die Moral, Kompetenz und die Interessen der politischen Klasse und die Struktur der politischen Institutionen sind enorm wichtig. Der Artikel diskutiert daher einige Schritte zu einer Verfassungsreform, die das verbessern soll. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Reform gelingt, bevor die britische Insel politisch und wirtschaftlich endgültig versinkt.

Leben wir in einer Simulation?

piqer:
Ole Wintermann

Ich würde euch gern diesen überaus spannenden LongRead des norwegischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks und TV NRK zur Frage empfehlen, ob wir in einer Simulation leben. Für alle, die des Norwegischen, Schwedischen oder Dänischen nicht mächtig sind, seien die Browser-Übersetzungen empfohlen.

Der NRK-Wissenschaftsredakteur hat sich intensiv mit zwei der bekanntesten norwegischen ForscherInnen und PhysikerInnen unterhalten (ein fast 2-stündiger Podcast ergänzt den LongRead), um die Ausgangsfrage ausgewogen und Pro- sowie Contra-Argumente umfassend darzustellen.

Die Metaphern und Gedankenexperimente sind zu komplex und umfänglich (mehrmaliges Lesen sei empfohlen), um sie hier in kurzer Form nachzuerzählen. Nur soviel vorab: Gott, die Lichtgeschwindigkeit, das Leben in Höhlen, die Auflösung eines Monitors und die Gleichsetzung der 17 Elementarteilchen mit Minecraft spielen eine wichtige Rolle.

Der Autor lässt uns am Ende mit seinem abschließenden Gedanken zurück. Aber hätten wir wirklich erwartet, nach Lektüre des Textes der Antwort näher gekommen zu sein? Oder ist diese Beschränkung nicht bereits Ausdruck der Simulation?

„Ich glaube nicht, dass wir simuliert sind, aber ich wäre vielleicht ein wenig klüger geworden, wenn ich untersucht hätte, ob ich das denke.“

Lesenswert!

Was geschieht, wenn man Smartphones an Schulen verbietet?

piqer:
René Walter

Tik Root schreibt im Guardian einen Erfahrungsbericht über das Verbot von Smartphones am Buxton Internat in Massachusetts. Die Schule hatte in einem Experiment vor einem Jahr Smartphones am Campus untersagt und stattdessen ein „Light Phone“ verteilt, das mit rudimentären Funktionalitäten wie SMS ausgestattet ist, aber keinen Zugang zu Sozialen Medien und keine Kamera bietet.

Die Effekte des Verbots sind eindeutig: Soziale Real Life Kontakte und Interaktionen sind „through the roof“, die Kids interessieren sich auf einmal für analoge Fotografie und hängen wieder miteinander rum. Der akademische Effekt lässt sich an dieser Schule aufgrund eines „narrative evaluation system“ nur schwer ermitteln, aber ich denke, auch hier sind positive Entwicklungen mehr als wahrscheinlich.

Ich schreibe hier auf piqd seit langem gegen den Digitalisierungswahn der Bildung an, zuletzt hier und hier, und erinnere immer wieder daran, dass ein Großteil der wissenschaftlichen Studien eindeutig zeigt, „dass digitale Umgebungen das eigentliche Bildungsziel – zur Erinnerung: Lernen – untergräbt“, und Smartphones an Schulen sind nur ein Aspekt dieses Digitalisierungswahns, der meines Erachtens nicht zu einem geringen Teil von wirtschaftlichen Interessen und lukrativen Staatsaufträgen für Tech-Unternehmen befeuert wird.

Eine weitere neue Studie hat jüngst (wieder einmal) gezeigt, dass Lesen auf Papier „deep Reading“ ermöglicht, während an Bildschirmen nur oberflächlich gelesen wird. Die letzte Pisa-Studie hat auch in Deutschland einen eindeutigen Trend angezeigt: Seit 2012 schneiden Schüler unter anderem in Lesekompetenz immer schlechter ab. Zufälligerweise ist 2012 ebenfalls das Jahr, in dem die vieldiskutierte Teenage Mental Health Crisis ihren Anfang nahm, während gleichzeitig die Sozialen Medien ihren Siegeszug um die Welt antraten.

Erfahrungsberichte wie dieser und die jüngste Studie bestärken mich einmal mehr in meiner generell ablehnenden Haltung gegenüber digitaler Technologie für Heranswachsende, in meiner Einschätzung, dass Soziale Medien sehr wohl als hormonell wirksame Drogen angesehen werden können, und dass Bildschirme mit dem Bildungsauftrag der Schulen praktisch nicht vereinbar sind.

Digitale Medien, Smartphones und Computer haben, außer in dedizierten Unterrichtseinheiten zu Tech- und Medienkompetenz, im Unterricht nichts verloren, und ich halte es sehr viel mehr mit der Lehrerin Nina Marks, die im Artikel zitiert wird: „I would give every kid a journal and some really nice paint markers.“

Vielleicht klappt’s dann wieder mit Pisa.

Hängen Hexenverfolgung und Kapitalismus doch nicht zusammen?

piqer:
Antje Schrupp

Vor zwanzig Jahren erschien Silvia Federicis Buch „Caliban und die Hexe“, in dem sie die Hexenverfolgungen in Europa als „Krieg gegen die Frauen“ beschreibt und in einen Zusammenhang bringt mit der Entstehung des Kapitalismus und der Kolonialisierung. Das Buch ist immer noch ein feministischer Hit, insbesondere in Zusammenhang mit der Care-Krise und dem Bemühen, Haus- und Sorgearbeit in ökonomische Analysen einzubeziehen.

Doch aus historisch-wissenschaftlicher Perspektive sind die grundlegenden Thesen Federicis nicht haltbar, meint die Baseler Historikerin Claudia Opiz Belakhal. Zumal diese bereits zu Zeiten der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre entwickelt worden seien und für das Buch nicht wirklich einer Revision unterzogen wurden.

So lasse sich nicht belegen, dass Hebammen – und damit jene Frauen, die Wissen über Geburten und Schwangerschaften hatten – besonders stark verfolgt worden seien. Die Vermutung, bei den Hexenverfolgungen sollte weibliches Wissen über die Reproduktion zerstört werden, um die Geburtenraten zu steigern, lasse sich nicht erhärten. Auch die Bezeichnung „Krieg der Frauen“ findet Opitz Belakal falsch – zwar seien mehr Frauen als Männer unter den Opfern gewesen, auf der Seite der Ankläger*innen standen aber ebenfalls viele Frauen.

Federici werte die Quellen selektiv aus und differenziere nicht genug, so Opitz Belekal.

Da werden Zusammenhänge behauptet, die man nicht beweisen kann. Phänomene, die zeitgleich passieren, müssen eben nicht dieselbe Ursache haben. Das ist eine der Hauptschwächen von Federicis Buch: Es wird alles passend gemacht.

Und:

Sie kommt aus ihrem gedanklichen Gerüst, demzufolge alles zusammenhängen und auf den heutigen Zustand der Welt und des Kapitalismus herauslaufen muss, nicht heraus. Und das ist ohne jeden Zweifel aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ein Problem. Weil wir als Historiker*innen ja davon ausgehen, dass Geschichte immer offen ist, dass es immer Alternativen und Widersprüche im gesellschaftlichen System oder im Handeln der Menschen gab.

Lesenswert!

Warum wir so erschöpft sind

piqer:
Theresa Bäuerlein

Neues von Hartmut Rosa: In diesem Artikel schreibt der bekannte Soziologe über Energie, genauer: Wie menschliches Miteinander Energie schenken kann. Und warum so viele Menschen heutzutage Erschöpfung spüren.

…wie zur Hölle tankt man Energie? Was ist das überhaupt, Energie, wenn es sich nicht um das physikalische Phänomen handelt? Und wieso haben von Jahr zu Jahr mehr Menschen das Gefühl, ihnen gehe die Energie aus, sie seien nur noch erschöpft? Geben wir uns nicht mit pseudowissenschaftlichen oder esoterischen Erklärungen zufrieden, ist die Suche nach einer Antwort nicht einfach.

Rosas Diagnose für die deutsche Gesellschaft und Politik ist ziemlich düster:

So wie sich ein Mensch im Burn-out kaum mehr eine Treppe hochzugehen traut, so scheint jedes wirkliche Reformprojekt unerreichbar. Die politische Einsicht lautet, wir müssten (endlich) mehr Energie in die Digitalisierung, mehr Energie in die Bildung stecken; mehr Energie für die Verteidigung, für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit, der ökonomischen Stagnation und des Klimawandels aufwenden – aber die politische Wahrnehmung sagt uns: Wir haben keine Kraft mehr dazu. Zugleich sind wir individuell wie kollektiv unfähig, auch nur langsamer zu machen, den Energieumsatz zu reduzieren, aufzuhören, uns selbst und die Umwelt zu zerstören. Kein Zweifel, wir haben eine gewaltige, doppelte Energiekrise (…)

Die individuelle wie die kollektive Burn-out-Pandemie hat ihren Ursprung gerade darin, dass sich unsere privaten und politischen Aktivitäten in wachsendem Maße wie Tätigkeiten anfühlen, bei denen wir immer mehr Energie verbrauchen, aufwenden, investieren müssen und immer weniger zurückerhalten. Wir müssen immer mehr leisten, um uns etwas leisten zu können. Dies ist das Gefühl oder die Erfahrung, die Menschen in den Populismus treibt. Sie berechnen, was nach Abzug aller Investitionen als Gewinn für sie übrig bleibt: Input, Output.

Sein Lösungsvorschlag:

…eine Konzeption zirkulierender sozialer Energie (…) Ein zirkulierender Energiestrom, was, bitte schön, soll das sein? Mein Vorschlag lautet, dass wir uns darunter keine metaphysische Substanz vorstellen sollten, sondern den Begriff zunächst nur als Metapher für etwas verwenden, was zwischen Menschen und vermutlich auch zwischen Menschen und Dingen möglich ist: Es kommt durchaus vor, dass wir nicht mit Freunden ausgehen, sondern Klavier spielen oder wandern und auch dabei in der Verausgabung von Energie neue Kraft gewinnen.

Rosa greift dafür auf indische, afrikanische und chinesische Ideen zurück:

So unterschiedlich diese Konzepte auch sind, was sie gemeinsam haben, ist die Überzeugung, dass Energie im psychosozialen Sinn nicht individueller Besitz ist, nicht etwas, das wir haben oder gar aufbringen müssen, sondern etwas, an dem wir partizipieren, dem gegenüber wir uns öffnen oder verschließen können. Die Fruchtbarmachung eines solchen Konzeptes für die Soziologie könnte ein erfolgversprechender Weg dazu sein, deren eurozentrische Engführungen zu überwinden (…) Meine kurz gefasste, provokative These lautet: Anstrengung führt zu Energiegewinn, wenn ihr subjektiver Fokus auf der Tätigkeit selbst, auf dem „Throughput“ liegt, und sie führt zu Erschöpfung, wenn er auf der Input-Output-Beziehung ruht.