In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Ein Streik, in dem es nicht um mehr Gehalt geht
piqer:
Rico Grimm
Pflegekräfte – Diskussionen über Rente und Grundeinkommen, über Leistung und Gerechtigkeit landen sehr oft bei dieser Berufsgruppe. Weil wohl nirgendwo die Diskrepanz zwischen emotionaler Bedeutung eines Berufs und tatsächlich gelebtem Alltag so groß ist. Der aktuelle Streik einiger Pflegerinnen und Pfleger macht das nochmal deutlich. Wie schon vor zwei Jahren verlangen die Pflegekräfte in erster Linie nicht mehr Geld, sondern mehr Personal. Sie sind so stark überlastet, dass die Situation selbst dann noch untragbar wäre, wenn sie mehr Lohn bekommen würden. Das finde ich erstaunlich und erschreckend zugleich. Dieser Text gibt einen in meinen Augen guten Überblick über die Situation der Pflegenden in Deutschland. Wer noch mehr wissen will, hier entlang: Daniel Drepper hatte sich dem Thema intensiv gewidmet.
Staatsmonopolkapitalismus in der Late-Night-Show
piqer:
Georg Wallwitz
Es wird seit einer ganzen Weile darüber gerätselt, warum das Wachstum in der westlichen Welt immer weiter abnimmt. Ein Grund, der immer wieder genannt wird, ist die zunehmende Konzentration der Marktmacht in wenigen Händen. Wo es wenig Konkurrenz gibt, gibt es wenig Innovation, geringe Auswahl, schlechten Service und hohe Preise – es ist wie in der DDR, sozusagen.
Jüngstes Beispiel für die Konzentration der Marktanteile ist der Untergang der Air Berlin, welcher dazu führen wird, dass die Lufthansa auf vielen Strecken wieder konkurrenzlos fliegt. Es lässt sich absehen, dass der Passagier dadurch das Nachsehen hat.
Viele der Oligopolisten (oder Monopolisten, wie z.B. Google oder Facebook) sind noch dazu staatsnah, was die Sache für niemanden besser macht (außer für das Management und den Staat).
Ein wichtiges Thema, aber auch ein schwieriges Thema. Umso erfreulicher ist es, dass John Oliver in seiner Late-Night-Show es brillant auf den Punkt bringt. So müsste Wirtschaft immer dargestellt werden!
Was Deutschland von Österreich im Umgang mit Rechtspopulismus lernen kann
piqer:
Theresa Bäuerlein
Österreich hat 30 Jahre Erfahrung mit Rechtspopulisten. Es ist also eine gute Idee, sich anzusehen, was Österreich in den letzten drei Jahrzehnten über den Umgang mit ihnen gelernt hat. Denn, so schreibt Christoph Schattleitner in diesem Artikel…
…dass die AfD ein Spiel spielt, davon bin ich überzeugt, weil die FPÖ in den 90er und 00er-Jahren nichts anderes gemacht hat. Sie brauchte die Provokation. Zum einen, um medial überhaupt vorzukommen, und zum anderen, um eine Stammwählerschaft (ja, leider im braunen Sumpf) aufzubauen. 1991 sprach der damalige FPÖ-Parteichef Jörg Haider noch von „einer ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich”.
Rechtspopulismus lebt von Aufmerksamkeit und Polarisierung. Genau das schafft auch die AfD mit Aussagen, die jeden Menschen, der einigermaßen bei Sinnen ist, entsetzen müssen. Genau so hat in Deutschland soeben eine Partei, die 13 Prozent der Stimmen bekommen hat, es geschafft, die Medien stärker zu dominieren als die Kanzlerin. Die Empörung ist geplant, die Weigerung „normaler Parteien“, mit ihr zu reden, geschweige denn zu koalieren, spielt ihr in die Hände.
„Die AfD will sich – so wie die FPÖ – als Herausforderin des aktuellen Systems sehen. Sie will der Feind all dessen sein, was in Deutschland unter das Wort Elite fällt. Jede Person, die sich – aus löblichen Gründen – über die AfD empört, nährt ihr Narrativ. „Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist“, hat Jörg Haider bereits 1994 plakatiert.“
Die Opferrolle, sagt Schattleitner, hat der FPÖ genau in die Hände gespielt.
Das beste Mittel gegen die AfD sei daher, sie ernst zu nehmen, in sachlichem Ton zu differenzieren. „Das heißt nicht, sie zu relativieren. Es ist nur der erfolgversprechendere Weg, sie zu kritisieren.“
Weniger Wachstum und Konsum, dafür nachhaltig und stabil
piqer:
Maximilian Rosch
Das Konzept der Postwachstumsökonomie fordert dazu auf unseren Konsum und unser Wirtschaften nachhaltig zu überdenken. Von Wissenschaft und Praxis wird dieser Ansatz jedoch kaum berücksichtigt. Dort dominieren das neoklassische Wirtschaftsmodell oder Wachstums- und Gewinnmaximierungsstrategien. Das Netzwerk Plurale Ökonomik kritisiert die eindimensionalen Antworten auf die Probleme der heutigen Zeit und die mangelnde Auseinandersetzung mit der Lösung “realer gesellschaftlicher Probleme” im Rahmen der akademischen Ausbildung.
Niko Paech ist einer der Vordenker der Postwachstumsökonomie. Bis 2016 war er Inhaber einer Professur an der Universität Oldenburg. Auf seiner Webseite erklärt er:
Als „Postwachstumsökonomie“ wird eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum des Bruttoinlandsprodukts über stabile, wenngleich mit einem vergleichsweise reduzierten Konsumniveau einhergehende Versorgungsstrukturen verfügt. Die Postwachstumsökonomie grenzt sich von landläufigen, auf Konformität zielende Nachhaltigkeitsvisionen wie „qualitatives“, „nachhaltiges“, „grünes“, „dematerialisiertes“ oder „dekarbonisiertes“ Wachstum ab.
Wir verlinken hier einen Interviewausschnitt und eine Leseprobe des als Buch erschienenen Streitgesprächs zwischen dem ehemaligen Spitzenpolitiker Erhard Eppler und dem eingangs erwähnten Wissenschaftler Niko Paech über “Wachstum, Politik und eine Ethik des Genug.” Der 90-jährige Eppler ist Sozialdemokrat und hatte als Politiker einige Spitzenämter inne. Er war Entwicklungsminister und Vertrauter Willy Brandts und warnte schon früh vor der Endlichkeit der Ressourcen. Die beiden (Streit-) Gesprächspartner kommen über unterschiedliche Wege und Ansichten zur gleichen Erkenntnis: Ein ungebremstes Wirtschaftswachstum ist nicht (mehr) tragbar, da die Grenzen des Wachstums längst überschritten sind.
Ein weiteres aktuelles Interview mit Niko Paech zur Energiewende gibt es hier.
Die Empfehlung zu diesem Thema sendete uns piqd-Mitglied Pia Lachmann. Vielen Dank dafür!
„Mannomannomann“. Eine Reportage aus dem Innern der Kampagne von Martin Schulz
piqer:
Marcus Ertle
Das muss man dem Spiegel wirklich lassen: Das Genre der Schlüssellochreportagen, bei denen man das Gefühl hat, man säße mit Spitzenpolitikern am Frühstückstisch, beherrscht keiner so gut.
Vom März bis zum Wahlabend begleitete Markus Feldenkirchen Martin Schulz immer wieder.
Wir frühstücken mit Schulz. Lesen die Ratschläge seiner Frau. Ärgern uns über die sture Hannelore Kraft, den arroganten Peer Steinbrück, den doofen Gerhard Schröder, den eigensinnigen Sigmar Gabriel, über die Perfidie Merkels sowieso und abends sitzen wir neben dem Kandidaten, während er in sein Tagebuch schreibt.
Und warum die Kampagne der SPD so war, wie sie war… ja, das erfährt man auch und schwankt ein wenig zwischen sich wundern und Kopfschütteln.
Ganz große Reportagekunst!
Hier der Lieblingssong von Martin Schulz. Ist nicht banal, warum, steht im Text.
„Feigenblätter des Illiberalismus“: Wie die deutsche Wirtschaft Osteuropas Anti-Demokraten stützt
piqer:
Keno Verseck
Gerhard Schröder ist am Freitag zum neuen Aufsichtsratschef des russischen Energiegiganten Rosneft gewählt worden. Das Thema sorgt seit Wochen für Schlagzeilen – parteiübergreifend, auch in der SPD, ist der Ex-Kanzler für sein Engagement in Putins Russland scharf kritisiert worden. Diese Kritik entbehrt nicht eines gewissen scheinheiligen Aspektes, denn Schröder treibt nur auf die Spitze, was viele andere deutsche Politiker sich wünschen und was die deutsche Wirtschaft praktiziert: jenseits aller rechtlichen und moralischen Bedenken gute Geschäfte mit den illiberalen Regimen und Anti-Demokraten in Osteuropa machen. Audi, Mercedes, Siemens, EADS, Telekom sind nur einige der Namen, die dafür stehen.
Das zweifelhafte Engagement der deutschen Industrie in Polen und Ungarn ist Thema eines Kommentars im IPG-Journal der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, verfasst von zwei Vertretern des Berliner Global Public Policy Institute (GPPi). Die beiden Autoren, Thorsten Benner und Wolfgang Reinicke, beschreiben, wie attraktiv die beiden mittelosteuropäischen Länder für die deutsche Industrie sind und warum sich diese bisher nicht zur illiberalen, antidemokratischen Umgestaltung in Polen und Ungarn äußert. Die Forderung von Benner und Reinicke:
Audi, Daimler & Co. sollten innerhalb der EU besondere Maßstäbe anlegen
und
sich nicht wie im Supermarkt bei den Marktfreiheiten bedienen und gleichzeitig wegschauen, wenn Regierungen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen treten.
Eine berechtigte, aber meines Erachtens illusorische Forderung, denn wie die Autoren selbst schreiben, schätzt die deutsche Wirtschaft in Polen und Ungarn (und auch den meisten anderen östlichen EU-Staaten) die niedrigen Lohnkosten, die Rekord-Niedrigsteuern, die schwachen Gewerkschaften und das häufig ultraflexible, arbeitnehmerfeindliche Arbeitsrecht. In Orbáns Ungarn jedenfalls ist diese antisoziale Politik expliziter Teil des illiberalen Projektes.
Gone Baby Gone – der profitable Verfall amerikanischer Städte
piqer:
Dmitrij Kapitelman
Städte wie Detroit, Baltimore oder Phoenix kämpfen mit Leerstand und Verfall. Etwa fünf Millionen Grundstücke sind in den USA derzeit sich selbst überlassen (eine Zahl, die sich zwischen 2000 und 2010 verdoppelt hat). Für die Gemeinden bedeutet das eine gewaltige soziale und wirtschaftliche Abwärtsspirale.
Dabei sind viele dieser Immobilien nicht mal herrenlos. In Baltimore beispielsweise gehören fast alle Bruchbuden einem einzigen, hinter vielen Töchterfirmen und Briefkästen verschanzten Großinvestor, Scott Wizig. Der von Houston aus ein Geschäftsprinzip daraus gebaut hat, verfallende Landstriche aufzukaufen – und sie profitabel weiter verfallen zu lassen.
Wie einfach diese Art von asozialer Immobilienspekulation in den USA möglich und wie schwierig der Kampf dagegen für die Gemeinden ist – davon erzählt diese Reportage von Rachel Monroe für New Republic.
(Kein) Mut zum Risiko
piqer:
Eric Bonse
Manchmal sagt eine URL mehr als die Headline. So auch bei diesem Artikel: Macron setzt auf Risiko, Deutschland merkelt vor sich hin. Es geht um einen Vergleich zwischen dem französischen Präsidenten, der einen Neubeginn in Frankreich und in der EU wagt – und einer deutschen Kanzlerin, die mit jedem Tag mehr an die bleierne Spätzeit von Altkanzler Kohl erinnert.
Zentral ist dabei der Begriff Risiko. Macron geht ein Risiko ein, Merkel geht auf Nummer sicher. Doch genau das könnte sich als größte Gefahr erweisen – für Deutschland, aber auch für Europa. In ihrer vierten und wohl letzten Amtszeit müsste die ewige Kanzlerin endlich etwas wagen, sie müsste Macrons Visionen etwas entgegensetzen – denn nur so kann sie noch gewinnen …
Alles ist OK und wir Deutschen sind KO
piqer:
Ali Aslan Gümüsay
Der Artikel hat die Bundestagswahl zum Anlass genommen, ist aber heute noch genauso relevant wie vor dem 24. September. Wir Deutschen sind zufrieden und depressiv zugleich. Wir glauben, dass es uns gut geht.
Gleichzeitig geht eine soziale Schere auf:
Die Mittelschicht profitiert zwar vom Boom. Während die oberen 60 Prozent teilweise kräftig mehr verdienen, sieht es bei den unteren 40 Prozent anders aus. Sie haben, laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, real weniger als vor zwanzig Jahren.
Wir glauben, wir leben postmateriell, sind aber zutiefst materiell aufgestellt. Wir sind zufriedene Bürger, denen es aber zum Teil gar nicht so gut geht:
Denn ebenso steil wie die Zahlen in den Glücksindexen nach oben weisen, so steil steigen auch der Konsum von Antidepressiva (doppelt so viel wie vor zehn Jahren) und die Krankschreibungen wegen psychischer Störungen an. Burn-out-Diagnosen haben sich in den letzten zehn Jahren fast verzwanzigfacht. Derzeit leiden rund vier Millionen Bürger an einer Depression, der typischen Krankheit der überforderten Ich-Gesellschaft.
Der Soziologe Ehrenberg, den der Autor des Textes zitiert, sieht so die Depression als Nachtseite eines flexiblen Kapitalismus. Das Ergebnis ist ein Verschwimmen von Grenzen zwischen Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung und Selbstüberforderung. Das Motto, sei (einfach) du selbst hat so ein Janus-Gesicht: es ist Versprechen und Joch zugleich.
Das Ideal im flexiblen, hedonistischen Kapitalismus ist nicht mehr der pflichtbewusste Angestellte, der um fünf Uhr nach Hause geht, sondern der Kreative, der sich in seinem Job selbst verwirklichen will und allzeit erreichbar ist. Job und Privates verschwimmen, das Ich wird selbst zur Arbeit.
Die Analyse des Patienten Deutschland ist damit: alles ist OK und wir sind (fast) KO.
Düster endet der Text damit, dass es mit Merkel keine Zukunft gebe, weil es keine grundlegenden Änderungen geben werde.