In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wird Wohlstand in Deutschland ab Mittwoch neu gemessen?
piqer:
Leonie Sontheimer
Was wäre eigentlich, wenn wir anfingen, unser nationales Wohlergehen nicht mehr nur anhand produzierter Waren und Dienstleistungen festzumachen? Wenn wir stattdessen auch messen würden, wie gerecht Einkommen verteilt ist, wie es der Umwelt geht und wie viel Ressourcen verbraucht werden?
Ich habe in diesem Kanal bereits über Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt geschrieben – und warum es diese überhaupt braucht. Jetzt bekommen diese alternativen Ideen politische Bedeutung. Denn diesen Mittwoch wird Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung präsentieren.
Im Koalitionsvertrag haben die Grünen bereits festgehalten, in den Jahreswirtschaftsbericht eine Wohlstandsberichterstattung zu „integrieren, die neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen des Wohlstands erfasst“. Und aus den Entwürfen geht genau dies hervor, wie im empfohlenen FAZ-Artikel zu lesen ist:
Passagen aus dem Entwurfsstadium legen nahe, dass mit Kritik am aktuellen Wirtschaftssystem nicht gespart wird. So war zu lesen, dem Kapitalismus fehle es an einer „systematischen Verankerung von Nachhaltigkeitszielen“. Es bedürfe einer Neugewichtung der wirtschaftspolitischen Ziele. Auch die Botschaft, dass das Konsumniveau nicht immer weiter steigen könne, soll der Bericht enthalten, sofern nicht eines der anderen Ministerien in der finalen Abstimmungsrunde noch Einspruch erhoben hat.
Das Ganze ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Diskussion um alternative Wohlstandsindikatoren nicht gerade neu ist. Wie im Artikel gut zusammengefasst, gab es in Deutschland schon mehrere Anläufe, um sich auf ein neues Indikatoren-Set zu einigen:
- Da war zum einen die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“,
- dann die Regierungskampagne „Gut leben in Deutschland“
- und der Nationale Wohlfahrtsindex.
Alle sind mehr oder weniger in der Schublade versunken. Nur, dass wir uns nicht falsch verstehen: Da sind sie nicht gelandet, weil sie nichts taugen. Natürlich ist es nicht ganz trivial, auf einen neuen Index umzusteigen, zumal, wenn international weiterhin das BIP das Maß aller Dinge ist. Aber es wurde eben auch von den bisherigen Regierungsparteien nicht weiter forciert. Umso spannender ist, was Habeck am Mittwoch präsentieren wird, und was dann (auch medial) daraus gemacht wird.
Ich zumindest bin gespannt!
Aus den USA: der beste Überblick über deutsche Inflationsdebatte
piqer:
Rico Grimm
Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Um diesen Fakt gibt es erwartbarerweise viele Diskussionen gerade in Deutschland. Die Experten und Expertinnen sind sich allerdings nicht einig in der Bewertung der Inflationsfrage, wie dieser wunderbare Überblick des Ökonomen Adam Tooze zeigt. Selbst, wer kein Englisch spricht, findet viele gute Tweets und Texte auf Deutsch in dem Artikel verlinkt.
Ob die Inflation von Dauer sein wird (oder gar steigen wird), wird sich an einer Frage entscheiden; darauf hatte ich vor ein paar Monaten bereits in einem Piq hingewiesen: Steigen parallel auch die Löhne? Kommt es zu einer Spirale, in der erst Preise dann Löhne dann wieder Preise usf. steigen? Zur Zeit sieht es jedenfalls in der Eurozone nicht danach aus.
Europaparlament stimmte über Gesetz über digitale Dienste (DSA) ab
piqer:
Jürgen Klute
Beratungen und Abstimmungen über Gesetze sind dröge und Berichte darüber laden nicht unbedingt zum Lesen ein. Das ändert aber nichts daran, dass Gesetze in das Alltagsleben eingreifen und Grenzen setzen. Manche mehr, manche weniger. Die EU-Richtlinie über digitale Dienste (DSA) gehört zu den Gesetzgebungen, die im Alltag spürbar sein werden.
Bei der DSA geht es um die Regulierung von Internet basierten Diensten. Es geht um Fragen wie Tracking (also das Nachverfolgen des Surfverhaltens von InternetnutzerInnen), um personalisierte Werbung, um Manipulation durch Internet-Medien, Anonymität im Internet, aber auch die Frage, welcher Aufwand auf Unternehmen zukommt.
Das Europäische Parlament hat nun seinen Beratungsprozess abgeschossen und am 20. Januar 2022 über die Richtlinie sowie die Änderungen daran aus dem EP abgestimmt. Luca Bertuzzi hat die wichtigsten Aspekte der Richtlinie sowie die zentralen Verhandlungspunkte und deren Ergebnisse für Euractiv zusammengefasst.
Im nächsten Schritt folgen nun die Trilog-Verhandlungen, in denen zwischen dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission ein abschließender Kompromiss gefunden werden muss. Die Verhandlungen erfolgen unter der Federführung des Europäischen Parlaments.
Warum man noch so viel arbeiten kann und trotzdem nicht reich wird
piqer:
Dirk Liesemer
Gemeint ist natürlich Lohnarbeit, also die tägliche Plackerei als Angestellter, selbst wenn sie sehr gut bezahlt sein sollte. Wie eben in der Schweiz, wo der Text im Magazin Republik erschienen ist. Gut, es gibt rund 25.000 Einkommensmillionäre in Deutschland, aber das ist umgerechnet gerade mal eine Kleinstadt, in der nur ein paar hundert Menschen mehr als in Starnberg leben. Warum man also mit Lohnarbeit partout nicht reich wird, dröselt dieser Beitrag auf. Es geht zwar um die Situation in der Schweiz, aber vieles lässt sich auch auf Deutschland übertragen. Will man trotzdem unbedingt steinreich werden, stehen einem nur wenige Wege offen: Man muss ein erfolgreiches Unternehmen gründen, was aber dummerweise viel Arbeit macht, oder man muss reich heiraten oder ganz viel erben. Oder alles zusammen. Ansonsten kommt man aus dem Teufelskreis nicht raus. Warum nicht? Das hat mit Immobilien und der Politik zu tun.
Soziale Nachhaltigkeit als Teil der Unternehmenskultur verankern
piqer:
Ole Wintermann
Der vorliegende Text im The New Yorker befasst sich mit einem Kernproblem der kapitalistischen Logik in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt: Kann auf Dauer ein sozial engagiertes Unternehmen am Markt bestehen, wenn es beständig unterdurchschnittliche Renditen erzielt, und gleichzeitig aber Kapitalzuflüsse benötigt, um weiter zu expandieren?
„But as long as pro-social companies are vulnerable to acquisition by larger firms and investors who are likely to disregard their social mission, they will remain ephemeral exceptions to the profit-first rule.“
Dies ist eine Frage, die zudem höchst relevant wird, wenn es darum geht, die Unternehmenskultur in inhabergeführten sozialen Unternehmen bei einem Kauf des Unternehmens durch Investierende oder Nachfolger zu erhalten.
Das Trust-basierte Unternehmenskonzept der Purpose Foundation scheint hierfür den richtigen Weg aufzuzeigen:
„By preserving fragile goodness in a lasting institutional form, Purpose Foundation offers a kind of corporate therapy. It rewrites the psychology of companies, changing the deep structures that shape their behavior.“
Anhand mehrerer Beispiele wird im Beitrag gezeigt, wie der Eigentumsübergang zu einem “Trust”, der von mehreren Stakeholdern unterschiedlicher Interessenfraktionen (Mitarbeitende, Investierende, NGO) geführt wird, eine Möglichkeit anbietet, den sozialen Markenkern eines Unternehmens auf Dauer fortzuführen. Beim Eigentumsübergang an den Trust werden Eckwerte der Unternehmenskultur wie die Beteiligung der Mitarbeitenden am Gewinn des Unternehmens oder das Beschäftigen von sozial oder kognitiv benachteiligten Menschen in einer “Ewigkeitsklausel” festgeschrieben. Auf diese Weise können die kulturellen “Gene” des Unternehmens auf Dauer gesichert werden. Investierende können dadurch “belohnt” werden, dass sie vorübergehend deutlich überdurchschnittlich an den Gewinnen beteiligt werden.
Der Ansatz scheint mir von daher von besonderem Interesse, da er das sozial Gewünschte dauerhaft institutionell absichert. Ist also eine andere Art der Marktwirtschaft möglich, wenn wir es nur wollen?
Länger leben und arbeiten – viele wollen das
piqer:
Anja C. Wagner
Es ist seit Langem bekannt: Viele Menschen leben durchschnittlich immer länger. So wird ein Kind, das 2007 in Japan geboren wurde, eine mehr als 50%ige Wahrscheinlichkeit haben, älter zu werden als 107. Auch in anderen Staaten wird diese Realität voraussichtlich eintreffen.
Diese Entwicklung wird verschiedene Auswirkungen haben – nicht zuletzt auf unser bisheriges Verständnis der Bedeutung „der Arbeit“ zur Erwirtschaftung unserer volkswirtschaftlichen Güter und späteren individuellen Spielräume. Die Veränderungen geschehen überall, außer in Deutschland, das können wir dem Koalitionsvertrag der Ampelkoalition entnehmen. Hier wird das alte dreistufige Lebensmodell für alle Menschen dauerhaft versprochen:
Ausbildung => Erwerbsarbeit => Rente/Pension
Zwar wird eine zweite Ausbildung während der Erwerbsarbeitszeit mit einem „Lebenschancen-Bafög“ jetzt in Aussicht gestellt, aber am grundsätzlichen Prinzip der 1889 (!) unter Bismarck eingeführten Alterssicherung ändert sich nichts – auch wenn zwischenzeitlich die Lebenserwartung von 70 auf 100 angestiegen ist.
Viele Menschen zweifeln diese Fortführung jedoch zunehmend an – oder um auf den verlinkten Artikel zurückzukommen:
Überall auf der Welt werden sich die Menschen ihrer immer länger werdenden Lebensarbeitszeit immer bewusster – sind aber von ihrem Arbeitsumfeld frustriert. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Menschen zwar wissen, dass sie ihr Leben und ihre Karriere umstrukturieren müssen, die Unternehmen aber nicht darauf vorbereitet sind.
Und die Politik auch nicht, mag ich hinzufügen …
Zwar bereiten sich geschäftstüchtige Unternehmen durchaus auf solvente Post-60-jährige Konsument:innen vor, sehen sie aber weiterhin nicht als attraktive „Workforce“. Doch dieses alte Mindset fordern jetzt immer mehr Generationen heraus:
- Zum einen die aktuell 60-Jährigen, die länger arbeiten müssen oder wollen – und sich nicht für den Rest ihres Lebens auf das „passive“ Renten-Dasein einlassen können. Manche machen sich noch im „hohen“ Alter selbstständig, um sich weiterhin produktiv einzubringen in den Lauf der Dinge. Oder suchen nach sonstigen Möglichkeiten, sich mit ihren Erfahrungen in die Arbeitswelt einzubringen.
- Zum zweiten die Menschen in ihren 40-ern, die realisieren, dass sie sich kontinuierlich „upskillen“ müssen, um die nächsten 30 Jahre einen attraktiven Arbeitsplatz ausfüllen zu können. Und dieser Bedarf wird wachsen – auch wenn entsprechende Weiterbildungsangebote rar gesät sind.
- Schließlich die Jüngeren, die erst in den Arbeitsmarkt eintreten und genau wissen, dass ihre Erwerbstätigkeit sich grundlegend anders ausgestalten wird als die ihrer Eltern. Sie suchen vielerorts neue Möglichkeiten der Vereinigung von Arbeit, Freizeit und Kreativität, probieren neue Dinge aus in der aufkommenden „Creator Economy“ und bauen sich eine neuartige professionelle Identität auf.
Bei allen Generationen stellt sich die Frage, auf welches Vermögen sie ihr Leben hin gestalten mögen. Neben den finanziellen Ersparnissen kommt es dabei zunehmend auf immaterielle Güter an, die man über die Lebensspanne aufbauen sollte, um ein gutes, langes Leben erstrebenswert zu machen:
- Produktives Vermögen sind Fähigkeiten, Wissen, der Ruf und die beruflichen Netzwerke der Person
- Vitalitätswerte, zu denen eine starke geistige und körperliche Gesundheit gehört, aber auch eine gute Work-Life-Balance und starke, regenerative Beziehungen
- Transformationsfähigkeiten, die Selbsterkenntnis und die verschiedenen Arten von Netzwerken umfassen, die wiederum persönliche Veränderungen und Übergänge unterstützen
Das bedeutet in der Konsequenz, dass es zukünftig einen klugen Mix aus materiellen und immateriellen Gütern braucht, die man im Wechselspiel auf- und ausbauen sollte. Unsere Bildungs- und Arbeitswelt ist auf diesen individuellen Anspruch der nahen wie fernen Zukunft aber nicht ausgelegt. Hier existieren Lücken zwischen individuellem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
Die Autor*innen erwarten drei Spannungspunkte:
(1) der Wunsch der Menschen nach Personalisierung,
(2) ihr Interesse an Flexibilität und
(3) ihr Wunsch, nicht aufgrund des Alters in eine Schublade gesteckt zu werden.
Aus diesen Spannungen heraus ergibt sich also schon heute statt eines 3-stufigen Lebensplanes ein mehrstufiger Ansatz, der vielfältige Folgen für die Unternehmen mit sich bringt:
1. Das Recruiting wird darauf Rücksicht nehmen müssen.
2. Altersbezogene Stereotypen müssen überdacht werden.
3. Es gilt, den Ruhestand neu zu gestalten – auch gesamtgesellschaftlich
All dies führen die AutorInnen im Artikel gut aus – und ersetzen damit nahezu die Lektüre deren Bestsellers über das 100-jährige Leben.
Die EU und die Eidgenossen: Ein kompliziertes Verhältnis
piqer:
Jürgen Klute
Die Schweiz bildet mit seinem kleinen Nachbarstaat Liechtenstein, der zwischen der Schweiz und Österreich liegt, eine politische Insel in der Europäischen Union. Die EU ist der größte Handelspartner der Schweiz und umgekehrt ist die Schweiz der viertgrößte Handelspartner der EU. Gleichwohl lehnt die Schweiz eine Mitgliedschaft in der EU ab.
Allerdings gibt es eine Reihe an Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, die einen unkomplizierten wirtschaftlichen Austausch ermöglichen. Diese Abkommen sind allerdings seit einigen Jahren ein Zankapfel zwischen beiden Seiten. Die in Genf lebende freie Journalistin Ann-Dorit Boy hat das seit Jahren komplizierter werdende Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU in einem Artikel für den Spiegel analysiert und beschrieben. Einerseits benennt sie die Vorbehalte auf Schweizer Seite, andererseits die Erwartungen der an die Schweiz. So richtig es ist, die Beziehungen vertraglich zu regeln, so sehr wird aber auch deutlich, dass die Erwartungen der EU schon fast einer de facto Mitgliedschaft gleichkommen, ohne dass die Schweiz der EU beigetreten ist. Diesen Konflikt zu lösen, das macht Ann-Dorit Boy in ihrem Artikel deutlich und auch nachvollziehbar, wird weiterhin schwierig bleiben.
Von der Leyens neue SMS-Affäre – diesmal in Brüssel
piqer:
Eric Bonse
Die EU-Kommission lehnt es bekanntlich ab, ihre Beschaffungsverträge mit Impfstoff-Herstellern wie Biontech/Pfizer offenzulegen. Das ist an sich schon ein Skandal. Doch nun setzt die Brüsseler Behörde noch einen drauf. Die SMS, in denen Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihre Geschäfte mit Pfizer eingefädelt hat, werden nicht veröffentlicht, teilte Justizkommissarin Vera Jourova mit.
SMS und elektronische Nachrichten über Messenger-Dienste wie WhatsApp und Signal seien grundsätzlich keine Dokumente, die archiviert werden müssten, so Jourova. Solche Nachrichten enthielten nämlich keine wichtigen Informationen über die Politik und Entscheidungen der Kommission. Damit widerspricht die Kommission der EU-Bürgerbeauftragten, die um Einsicht gebeten hatte.
Leyens neue SMS-Affäre, die an ähnliche Skandale in Berlin erinnert, wird also nicht aufgeklärt, die dunkle Seite der Macht nicht aufgehellt. Wer dennoch einen Blick hinter die Kulissen in Brüssel werfen möchte, sollte diesen Artikel lesen. Lohnt sich auch für Lobbyisten 🙂
Fachkräftemangel im Krankenhaus: Schuld ist nicht die Pandemie
piqer:
Silke Jäger
Sechseinhalb Minuten reichen. Und vielleicht ist diese kurze Zeitspanne das entscheidende Indiz dafür, warum sich seit Jahrzehnten kaum jemand um die wichtigste und dringendste Krise im Gesundheitswesen kümmert: den Fachkräftemangel. Man hält schon die kurzen sechseinhalb Minuten kaum aus, in denen hier Pflegefachleute von Situationen erzählen, die sie an den Rand ihrer Kräfte bringen.
Sie erzählen einfach nur und schauen dabei direkt in die Kamera. Die Stimmen, die Blicke, die Worte. Alles wirkt. Man spürt sehr deutlich was die Menschen sagen, ohne es auszusprechen: „Was uns am meisten verletzt, ist, dass sich nichts ändert. Wir schließen daraus: Unsere Schwierigkeiten zählen nicht.“ Genau daraus entsteht moralischer Stress.
Wir haben in den letzten Monaten zigfach Geschichten darüber gehört, wie erschöpft Pflegefachkräfte sind, weil es einfach zu viel zu tun gibt und zu wenige Kolleg:innen vor Ort sind. Bei den meisten Berichten kommt aber nicht rüber, dass die Pandemie nicht daran schuld hat. Sie hat lediglich eine Lage verschärft (zugegeben: deutlich verschärft), die seit Jahren besteht. Krankenhäuser sparen an Personal, um mehr Gewinne zu machen.
Die Pflegeleute aus dem Video arbeiten in den USA, wo die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens noch mal ein anderes Niveau erreicht als in Deutschland. Andererseits ist der Personalschlüssel dort immer noch besser als in deutschen Kliniken. In den USA sind es im Schnitt circa 6 Patient:innen, die eine Pflegfachkraft betreut, in Deutschland im Schnitt 13.
Mit diesen Zahlen im Hinterkopf kommen wir hier in Deutschland gar nicht mehr an der Erkenntnis vorbei, dass die Situation auf vielen Stationen und in vielen Heimen gefährlich ist – für das Personal und die Patient:innen.
Das Personal geht, der Mangel verschärft sich. Weil in den letzten 20 Jahren Worte dort kaum gewirkt haben, wo sie etwas hätten bewirken sollen: bei den Gesundheits- und Landespolitiker:innen. Weil Krankenhäuser gezwungen sind, Gewinne zu machen – und zwar alle, nicht nur die privatisierten Kliniken – laden sie das Problem beim Personal ab. Es soll durch Überanstrengung ausgleichen, was das System nicht mehr gewährleisten kann: sichere medizinische Versorgung.
Die Menschen aus dem Video stehen nicht nur stellvertretend für eine Berufsgruppe (die Pflege ist weltweit in einer prekären Lage). Sie stehen stellvertretend für alle, die in einem System arbeiten, das sie nicht ausreichend wertschätzt.
Die Folgen können jeden treffen. Es ist deshalb wichtig, diesen Menschen zuzuhören. Aber noch wichtiger ist es, die Politik dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Was ist das Ziel? Bestmögliche Versorgung (bestmöglich ist ein Euphemismus)? Oder Versorgung nach medizinischen Standards?
Wenn fachliche Standards eingehalten werden können (weil die Arbeitsbedingungen darauf ausgerichtet sind), schützt das die Gesundheit des Personals und der Patient:innen. Deswegen steht hinter der leeren Phrase „bei uns steht der Patient im Mittelpunkt“ ein ganzes Universum an definierten Prozessen, medizinischem Wissen und Arbeitsschutzauflagen, die tatsächlich eingehalten werden müssen. Nur wenn das klappt, wollen medizinische Teams auch wieder eine Extrameile gehen für die Gesundheit eines ihnen anvertrauten Menschen. Freiwillig. Und weil es ihrem Berufsethos entspricht.
Disclaimer: Ich verlinke in diesem piq auf Texte, die ich selbst geschrieben habe.
Warum stockt der Windkraftausbau in Deutschland?
piqer:
Daniela Becker
Ulf Buermeyer und Philip Banse, Macher des Politik-Podcasts Lage der Nation haben eine kleine Recherchereise unternommen, um der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb der Windkraftausbau in Deutschland in den letzten Jahren so stark abgenommen hat und wie man das verbessern könnte.
Dabei geht es sehr stark um inkonsistente Raumplanungen, die in vielen Bundesländern eher als Verhinderungsinstrument dienen, als dafür geeignet zu sein, Flächen zu definieren und den Ausbau unter klaren Regeln voranzutreiben.
Natürlich geht es auch um das Thema Artenschutz. Im Moment wird von der Bundesregierung angestrebt, von dem im Naturschutzrecht vorgeschriebenen Tötungsverbot von Individuen abzurücken und sich mehr auf den Populationsschutz zu konzentrieren. Im Podcast kommt unter anderem ein Vertreter der Naturschutzseite zu Wort, der sehr verständlich erläutert, warum viele Naturschützer dem grundsätzlich zustimmen könnten, aber dennoch extrem skeptisch sind. Denn: In der Vergangenheit wurde in Deutschland Natur- und Artenschutz schlicht niemals wirklich umgesetzt. Daher ist nun die Sorge groß, dass mit einer Abkehr vom Individuenschutz das Schicksal einiger Vogelarten durch rücksichtslose Bauvorhaben endgültig besiegelt sein könnte.
Insgesamt ist das eine sehr hörenswerte Folge, die einen guten Überblick über die Problemlage gibt. Als einziges Manko empfinde ich, dass im Zusammenhang mit bestehenden Abstandsregeln relativ ausführlich über Geräusche von Windkraftanlagen geredet wird, ohne das mit bestehenden Abstands- und Geräuschemissionsregeln für andere Industrie- und Gewerbebauten, Straßen und Autobahnen, Gleise, andere Kraftwerke und Kirchen ins Verhältnis zu setzen. Ein zweiter Teil ist jedoch bereits angekündigt – vielleicht kommt das ja noch.
Wie geht es weiter für MAAMA?
piqer:
Georg Wallwitz
Die Technologiebranche hat den alten Industrien wie Energie, Automobil oder Banken in den letzten 30 Jahren den Rang abgelaufen. In Europa und Deutschland (wo wirtschaftspolitische Debatten sich ohnehin häufiger um Verteilungsfragen, die fast immer in die Vergangenheit gerichtet sind, als um Zukunftsfragen drehen), halten wir zwar noch wacker am Glauben an den eigenen Wohlstand fest. Aber nicht zuletzt die latente Technikfeindlichkeit (die weit über den Kreis der Esoteriker und Querdenker und Wutbürger hinausgeht) hat dazu geführt, dass die wirtschaftlichen Schwergewichte heute anderswo auf der Welt beheimatet sind.
Der Economist hat einen guten Leitartikel zu der Frage geschrieben, wie es mit Microsoft, Apple, Amazon, Meta und Alphabet (MAAMA) weitergeht. Die Geschichte der Technologiekonzerne ist eine lange Liste von gescheiterten Großunternehmen (Fairchild Semiconductor, IBM, Xerox, Nokia …), die den Übergang auf die nächste technologische Stufe verpasst haben. Die Frage, die sich MAAMA stellt, ist also: Was kommt als Nächstes? VR-Brillen und das Metaverse? Dezentralisierte Netzwerke auf der Blockchain (Web3)? Autonomes Fahren? Eine KI, die nicht mehr auf große Datensätze angewiesen ist? Das Smartphone ist vermutlich nicht das Ende der Entwicklung.
Hier irgendwo spielt die Musik und die MAAMA, aus Angst vor Irrelevanz, investiert sehr viel Geld in neue Technologien, die unsere Zukunft bestimmen werden. Der Economist findet das gut (was mich nicht überrascht) und hofft, dass die Instinkte der Regierungen (erst regulieren, dann machen) auch den Großen der Branche (die immer wieder aus ganz unerwarteten Ecken wie TikTok Konkurrenz bekommen) noch ein wenig kreativen Freiraum lassen.