Fremde Federn

Inflation, Hambach, Bildungsschock

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Big Tech & Co. Ostdeutschlands Zukunft „kreativ“ zerstören, warum Klimaschutz (fast) keine Verbote braucht und wann ein kritischer Inflationsmoment entstehen könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Inflation ist wieder in den Schlagzeilen – was das bedeutet

piqer:
Rico Grimm

Deutsche behandeln manche Fragen obsessiv. Etwa, ob Joachim Löw in den letzten drei Jahren wirklich noch ein guter Bundestrainer war. Wie groß die Spaltmaße bei neuen E-Autos sein dürfen – und ob die Inflation unser Erspartes entwertet.

Die deutsche Angst vor Inflation; sie ist, das muss man mit Blick in ein Geschichtsbuch sagen, grundsätzlich berechtigt. Hyperinflation, die rasante Geldentwertung hat viele Deutsche vor 90 Jahren in den Ruin getrieben. Die Erinnerung daran wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Notfalls auch in Form harter Goldbarren unter dem Bett. Und die Inflation der 1970er Jahre liegt noch gar nicht solange zurück.

Wenn wir heute über Inflation reden, ist die Debatte aber eine andere. Es ist wichtig, hier genau hinzusehen und sich seinen eigenen Reim zu machen, um nicht blind irgendwelchen Crash-Propheten das Geld/Gold hinterherzuwerfen. Beim Reime machen, hilft dieser Text im Handelsblatt – ein historischer Überblick.

Damals [in den 1970er Jahren] gab es eine inflationäre Grundtendenz, in der jüngsten Vergangenheit eher einen deflationären Trend.

Deflationär – d.h. Geld wird mehr wert, nicht weniger. Hinzu kommt:

„Das Vertrauen in die Notenbanken ist heute größer als in den 70er-Jahren. Sie haben über längere Zeit bewiesen, dass sie die Inflation niedrig halten können“

Aber zwei Dinge sollten wir in den Nachrichten der Zukunft trotzdem im Auge behalten: Löhne und Rohstoffpreise. Sollte es Arbeiternehmern und Arbeitnehmerinnen gelingen, große Lohnsteigerungen über einen langen Zeitraum durchzusetzen, könnte sich die deflationäre Grundtendenz umkehren. Gleichzeitig: die Preise für Rohstoffe, Chips, Vorprodukte. Diese sind in den letzten Monaten wegen der Corona-Pandemie explodiert (fallen aber gerade erstmal wieder). Sollten die Preise hier hoch bleiben und gleichzeitig die Löhne eben steigen, würde mehr Geld auf weniger Warenangebot treffen.

Das wäre dann der kritische Inflationsmoment.

Wie Big Tech & Co. Ostdeutschlands Zukunft „kreativ“ zerstören

piqer:
Magdalena Taube

Der Autor, Forschungsreisende und Aktivist Christoph Marischka hat technologische Zukunftsparks besucht, viele davon im Osten – so etwas wie Ostdeutschlands Silicon Valleys könnte man sagen.

Dabei hat Marischka, der übrigens auch Autor des Buchs „Cyber Valley – Unfall des Wissens. Künstliche Intelligenz und ihre Produktionsbedingungen – Am Beispiel Tübingen“ (2019) ist, Überraschendes festgestellt :

„Gegenüber den großspurigen Pressemitteilungen sahen die jeweiligen Forschungscampi öde und vernachlässigt aus. Hier und da standen Neubauten. Dazwischen parkten Bagger und anderes Baugerät neben Schutt- und Kieshaufen sowie eingewachsenen, umgefallenen Bauzaun-Elementen.“

Statt “blühender Landschaften” gibt es “brachliegende Landschaften”. Die fast verwahrlost wirkende Unfertigkeit des Gebiets liest Marischka allerdings nicht als Anzeichen von Scheitern, sondern als Ausdruck jener „schöpferischen Zerstörung“, welche der Idee von Expansion und Disruption zugrunde liegt.

So lässt sich auch die Nachwende-Geschichte neu lesen: Es muss zunächst alles enteignet, privatisiert und platt gemacht werden, damit im Osten der geeignete Spielraum für das Kapital entsteht. Im Zuge dessen entstehen, wie wiederum Politikwissenschaftler Stefan Kausch und Diskursanalytiker Jürgen Link zeigen, perfekte Voraussetzungen. Für den Aufbau Ostdeutschlands?

Nein, beispielsweise für Tesla, aber auch andere kapitalistische Player (Amazon, Google, RB Leipzig mit dem Unternehmen Red Bull als Hauptstruktur), die den normalen Weg kapitalistischer Produktion nicht gehen und die Regeln von Genehmigung, Arbeiter*innenrechten etc. nicht befolgen wollen.

Warum Klimaschutz (fast) keine Verbote braucht

piqer:
Ralph Diermann

Dem Wahlkampf geschuldet dominiert derzeit eine grundlegende Frage die Debatte um den besten Weg zum Klimaschutz: Markt oder Zwang? Oder präziser formuliert: Wie viel Ordnungsrecht brauchen wir zusätzlich zu den marktwirtschaftlichen Instrumenten? Vor einigen Tagen habe ich einen Essay von Jens-Christian Rabe aus dem Feuilleton der SZ gepiqd, der ausführt, warum es ohne Verbote, ohne Zwänge und Ansprüche an das Handeln der Bürger nicht geht (und, warum es uns so schwerfällt, das zu akzeptieren).

Eine Gegenposition nimmt Lukas Köhler, klimapolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, ein. In einem Gastbeitrag für den Blog Politische Ökonomie, betrieben vom Wirtschaftsforum der SPD, argumentiert er, dass der Staat natürlich das Erreichen der Klimaziele sicherstellen muss, dabei aber so wenig wie möglich in die Handlungsfreiheit der Menschen eingreifen darf. Das einzig sinnvolle Verbot, so Köhler, ist das CO2-Limit des Emissionshandels. Der Gesetzgeber habe die Aufgabe, festzulegen, wann in welchem Maße der Treibhausgasausstoß reduziert wird. Mit welchen Technologien das geschieht und wer das verbleibende CO2-Budget nutzen darf, liege außerhalb seiner Kompetenz. Denn dazu fehlt ihm das Know-how – und die Legitimation, da er damit das Selbstbestimmungsrecht heutiger Generationen verletzt, argumentiert er mit Bezug auf die Klimaschutz-Erklärung des Bundesverfassungsgerichts vom letzten April (dazu ein piq).

Auch moralischer Zwang und Aufrufe zum Verzicht sind keine Lösung, so Köhler. Corona habe das deutlich gezeigt: Trotz Lockdown in vielen Teilen der Welt, trotz drastisch eingeschränkter Mobilität und weniger Konsum sind die CO2-Emissionen nur um acht Prozent zurückgegangen. Vielmehr sei Verzicht sogar gefährlich, so Köhler:

Die von Askese-Aposteln geforderte Stagnation des Wirtschaftswachstums stellt für Milliarden Menschen eine ernsthafte Bedrohung dar, weil so der Ausbau ihrer Versorgung mit Nahrung, Trinkwasser, medizinischer Versorgung, Elektrizität, einem Dach überm Kopf und Bildung behindert wird. Wer also auch nur ein bisschen über den Tellerrand des Klimaschutzes hinausschaut, erkennt die Komplexität des Klimawandels, der in zahlreiche Zielkonflikte eingebunden ist.

Hambach und die Braunkohle – Ursachen und Wirkungen

piqer:
Thomas Wahl

Der Tagebau Hambach ist die größte von der RWE betriebene Braunkohlegrube im Rheinischen Revier. Für viele ein Monstrum – wegen der Klimawirkung, wegen der zerstörten Ortschaften und jüngst wieder wegen der Rodung des Hambacher Forsts. Und für viele Aktivisten ist es nicht nur moralisch kaum verständlich, wie man jemals ein solches Unterfangen genehmigen konnte. Erst im längeren historischen Kontext wird das klarer, relativiert sich der moralische Impetus der Gegenwart:

Der großindustrielle Braunkohleabbau im Rheinland begann vor rund einhundertzwanzig Jahren. Das Holz aus lebenden Wäldern war in Europa schon im 17. Jahrhundert knapp geworden, ohne das versunkene Holz aus der Tiefe hätte es die Industrialisierung nicht gegeben, weil ihr der Brennstoff gefehlt hätte. Fossile Kohle ist bis heute der wichtigste Energieträger, trotz der seit 1900 wachsenden Bedeutung von Erdöl und später auch von Erdgas, dann von Kernenergie und heute von erneuerbaren Energien. Auch 2020 stammten rund 90 Prozent der weltweit erzeugten Energie aus Verbrennungsprozessen, der überwiegende Teil davon aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe.

Das Genehmigungsverfahren für das Hambacher Revier begann 1974, kurz nach dem »Ölpreisschock«, der wiederum durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelöst wurde.

In diesem Krieg kämpften Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten gegen Israel. Aus Protest gegen die Solidarität westlicher Staaten mit Israel beschloss die Organisation der erdölexportierenden arabischen Staaten, die OAPEC, die Fördermenge herunterzufahren. Daraufhin kam es zu einer drastischen Steigerung des Erdölpreises auf den Weltmärkten und einer Wirtschaftsrezession. Erstmals war in der Bundesrepublik ein Nullwachstum zu verzeichnen, die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich.

Fast alle westlichen Industriestaaten änderten ihre Energiepolitiken. Die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt setzte als oberstes Prinzip, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.

Die Maßnahmen umfassten den Ausbau der Kernenergie sowie die beschleunigte Nutzung von Braunkohle und Erdgas. Auch die Steinkohlenutzung sollte gefördert werden. Umweltpolitische Belange waren zwar bereits auf der Agenda, hatten aber keine Priorität; Klimaschutz war noch kein öffentliches Thema, obwohl der steigende Kohlendioxidgehalt der Luft damals schon seit sechzehn Jahren kontinuierlich gemessen wurde und obwohl manche Klimaforscher bereits warnten, dass der Konzentrationsanstieg eine globale Erwärmung mit sich bringe.

Damals setzte die Politik fast zwangsläufig auf Energieunabhängigkeit – gegen die Arbeitslosigkeit für das Wirtschaftswachstum, für eine sichere Zukunft.

 In diesem Kontext war die Genehmigung für den Tagebau Hambach nicht nur vertretbar, sondern schlüssig, im diskussionsfeindlichen politischen Jargon der Merkel-Zeit würde man sagen: alternativlos.

Heute setzen wir wieder notgedrungen auf eine politische Wende bei der Gestaltung unserer energetischen Infrastrukturen. Was könnten Lehren aus der damaligen Zwangssituation sein? Vielleicht sollte man Alternativen nicht wie die Kernkraft so absolut beiseite lassen? Vielleicht die Zeitgebundenheit und die Revidierbarkeit von Entscheidungen beachten, um nicht in tiefen Pessimismus zu verfallen. Veränderungen brauchen Zeit, bestehen auch aus Irrtümern, kommen aber voran:

RWE ist bekannt für die Produktion von Kohlestrom – und daher Hauptfeind der im Rheinland sehr aktiven Klimaaktivisten. Andererseits ist das Unternehmen heute schon einer der größten Produzenten für CO2-freien Strom, weltweit die Nummer zwei für erneuerbaren Strom aus Offshore-Windenergie, in Europa steht »RWE Renewables« als Energieerzeuger an dritter Stelle. In zwanzig Jahren will man klimaneutral sein.

Aus Überkommenem entsteht Neues. Daran ist nicht alles schlecht, nicht alles ist negativ und moralische Verurteilungen sind oft wohlfeil.

Die häufig und meist pauschal vorgebrachte Behauptung, durch den Braunkohletagebau würden »Flächen verbraucht«, stimmt offensichtlich nicht; langfristig können die Flächen vielmehr ökologisch aufgewertet werden. Schon während des Abbaus bilden die renaturierten Gruben Refugien und Asyle für nicht wenige Tier- und Pflanzenarten.

Und in Zukunft werden wir mit anderen, nicht minder gefährlichen, komplexen Problemen kämpfen müssen. Das macht der Artikel deutlich – daher das Prädikat lesenswert.

Gefühle, Triebe und Gespenster im Kapitalismus

piqer:
Achim Engelberg

Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Literaturwissenschaftler zu einem international anerkannten Analytiker der heutigen Gestalt des Kapitalismus entwickelt. Spätestens mit dem 2010 erschienenen „Das Gespenst des Kapitals“ ist das bei Joseph Vogl der Fall.

Daniel Graf versucht auf Grundlage des neuen Buches „Kapitalismus und Ressentiment“ das Spezifische dieser Theorie der Gegenwart herauszuarbeiten.

Die Plattform­ökonomie in ihrer heutigen Form führt zu einer Aushöhlung der Demokratie, lautet der Grund­befund.

So interpretiert Daniel Graf und entlockt so dem Dialektiker Joseph Vogl immer wieder starke Positionen und man bekommt Einblicke in den Motor seiner Denkfabrik.

Das sind Formulierungen, die gut in den Klappen­text passen würden, die aber im Buch selbst etwas anders gewendet werden. Was mich interessiert hat, ist eine Untersuchung mit einem längeren historischen Atem, die Entstehung dessen, was ich Finanz­regime nenne und was in seiner Genese auf die Frühe Neuzeit zurück­zudatieren ist.

Verbunden damit ist die These, dass so etwas wie das Finanz­wesen nicht einfach ein ökonomischer Sachverhalt ist, sondern in einer engen Austausch­konstellation zwischen Staats­apparaten und privaten Financiers entstanden ist. Seit der Frühen Neuzeit ist das Finanz­wesen eng verwoben mit regierungs­technischen Fragen, in jüngerer Zeit mit dem Ausbau von Governance-Strukturen. Es geht also um privat-öffentliche Osmosen.

Da hat sich eine Dynamik entwickelt, die das Finanz­regime mehr und mehr aus der Überprüf­barkeit durch rechts­staatliche demokratische Ordnungen heraus­gelöst hat.

Immer wieder arbeitet Joseph Vogl die Macht und Vielschichtigkeit von Gefühlen und Affekten heraus. So heißt es über das titelgebende Ressentiment, es sei

durchaus eine Spielart von Kritik, und niemand kann wohl behaupten, er oder sie wäre ganz und gar frei davon. Es produziert den bösen Blick, es sinnt auf Genugtuung, es aktiviert Kränkungs- und Verletzungs­gefühle. Aber – und das ist die Falle des Ressentiments – es nimmt meist einen mehr oder weniger polizeilichen Weg: Das Ressentiment fahndet und verdächtigt, gibt sich einer gewissen Straffreudigkeit hin, ruft nach stärkeren Instanzen und Mächten, die sich um die Schädigung oder Bändigung der Beleidiger kümmern sollen, schliesslich sucht es stets nach konkreten Schuldigen – irgendjemand muss ja schuldig sein, wenn es mir schlecht geht. Das wäre die Falle oder Sackgasse ressentimentaler Kritik. Kritik selbst aber sollte den umgekehrten Weg nehmen: heraustreten aus der Urteilssucht, aus der Vergeltungslust.

Bei solchen Passagen merkt man, warum sich Joseph Vogl schnellen Thesen verweigert. Urteile stellen fest und versperren den Blick auf das Offene von Geschichte.

Wer die Entwicklung von Joseph Vogl nachvollziehen möchte, wird auf der Webseite von Alexander Kluge fündig, der etliche Gespräche mit diesem führte. Bekanntlich heißt eins von Kluges Hauptwerken „Chronik der Gefühle„. So gibt es ein Gespräch vom 15. August 2011 mit dem Titel „Die Menschmaschine: Bestie Mensch“. In diesem wird erläutert, dass gerade im Zeitalter der industriellen Revolution, die „Triebe im Menschen“ als unheimliche Mächte neu entdeckt werden.

Schon hier ist angelegt, was nun offen zu Tage tritt. Das Werk von Joseph Vogl ist angesiedelt im Dreieck zwischen Verstehen des Wirtschaften auf dem neuesten Stand der Technik, der Analyse von damit verbundenen Gefühlen und Affekten sowie der Macht von Erwartungen und Phantasmen.

Weiter geht’s mit dem Bildungsschock

piqer:
Anja C. Wagner

BILDUNGSSCHOCK ist eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt über „Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren“ (bis 11.07.). Es existieren verschiedene erklärende Beiträge im Netz über die Ausstellung, aber das verlinkte PR-Video bringt die Vielfalt am besten und kompakt zum Ausdruck.

Worum geht’s und was haben die 1960-70er Jahre mit heute gemein?

Bildungsschock rekonstruiert die Folgen des «Sputnik-Schocks» von 1957. Nachdem die Sowjetunion den Westen mit einem ungeahnten Erfolg beim Wettlauf ins All düpiert hatte, expandierte Bildung im globalen Maßstab, um die vermeintliche „Weltbildungskrise“ der Nachkriegsordnung zu bewältigen. Unter dem Druck demografischer und technologischer Entwicklungen, sozialer Bewegungen und kultureller Veränderungen wurden das Lernen selbst, aber auch die Räume des Lernens neu gedacht und geplant.

Die Industriegesellschaft brauchte eine Vielzahl besser ausgebildeter Menschen, sodass zahlreiche Gebäude hochgezogen wurden, die es ermöglichten, existierende pädagogische Curricula in die Breite zu tragen. Begleitet vom ambitionierten „Moonshot Thinking“ der JFK-Ära, das schließlich in der Mondlandung, dem Internet und den sozialen Netzwerken mündete, um damit den US-amerikanischen globalen Führungsanspruch aufzubauen und zu festigen, sollten im Bildungssystem die Grundlagen geschaffen werden, auf denen sich die Zukunft wissenschaftlich fundiert aufsetzen ließ.

Dieses Bildungsverständnis top-down unter die Menschen zu bringen, stieß auf immer selbstbewusster auftretende emanzipatorische Bewegungen, die ein Mitspracherecht zur eigenen Selbstermächtigung einforderten. Bildungspolitik war und ist immer Machtpolitik der gesellschaftlich herrschenden Schichten mit lang anhaltender Bedeutung.

Wie also können oder sollten Lernräume gestaltet sein, damit einerseits Menschen volkswirtschaftlich sinnvoll geprägt und gleichzeitig individuell lebenstauglich begleitet werden können? Dieser Frage geht die Ausstellung nach und trägt weltweite Beispiele architektonischer Lösungen für Bildungsstätten zusammen.

Offenkundig ist, dass „Bildung“ je nach sozial-historischem Kontext unterschiedliche Sinnstiftungen verbinden helfen muss. Diesem Anspruch wird Bildungspolitik bis in heutige Zeiten kaum gerecht, will sie doch in kolonialistischer Manier immer wieder normativ verbindliche Standards für „richtige Bildung“ zugunsten der Herrschenden durchdrücken.

Der Bildungsschock durch Corona

Diesem Weltbild sind wir bis heute ausgesetzt. So schreibt der Intendant des HKW, Bernd Scherer, in seinem Vorwort zum umfangreichen Ausstellungsband:

In der traditionellen Klassenraumsituation geht es wesentlich darum, bestehendes Wissen von einer Generation an die nächste weiterzugeben. Im Sinne unserer Unterscheidung geht es um die Einübung des Denkens, indem der bestehende Wissenskanon weitergegeben wird. Die individuellen Differenzen bei der Aneignung der Lebensvollzüge, die den Wissensprozessen zugrunde liegen, werden dabei ausgeblendet. In diesem Sinne ist der traditionelle Klassenraum ein vom realen Leben bewusst abstrahierter Raum, der die Schüler*innen nicht dazu einlädt, eigene Erfahrungen zu machen. Es geht um eine Weitergabe von Wissen, in dem sich eine Gesellschaft über die Zeit, über Generationen zu stabilisieren versucht. Veränderungen beziehungsweise Abweichungen, die durch individuelle Aneignungsprozesse entstehen, sind in der Regel nicht erwünscht, werden bestenfalls toleriert. Das Wissen, das sich als Tradition über Generationen gebildet hat, soll der Gesellschaft als Orientierung dienen.

In dieser Tradition kommt die aktuelle Bildungspolitik unter Druck, sobald sie die Schüler*innen nicht mehr räumlich zwanghaft unter Kontrolle hat. Sie werden jetzt per Homeschooling über die Eltern bespielt, das Wohnzimmer über die virtuellen Räume mit pädagogisiert. Die Bildungspolitik greift somit maßgeblich in die familiären, privaten Strukturen ein, so der Kurator Tom Holert in einem Interview. „Die Bildung“ erziehe jetzt die gesamte Gesellschaft für ihre angeblich „bessere Welt“, in der die jeweilige Volkswirtschaft weiter eine weltgewichtige Rolle spielen soll.

Diese Pädagogisierung des Alltags ist sicherlich bedenklich. Inwiefern die Rückkehr der Kinder hinter die Wände der Schulen den ehemals emanzipatorischen Zug fortsetzen hilft, möchte ich bezweifeln. Es bräuchte vielmehr fluidere Lernumgebungen, die Rücksicht nehmen auf individuelle Aneignungsprozesse und Kulturen.

Die Ungewissheit in der Demokratie

piqer:
Thomas Wahl

Wie schafft man Demokratie? Für ein im Werden begriffenes Europa die grundlegende Frage. Schafft „man“ Demokratie oder schafft sie sich selbst? Eng verbunden die Frage: Kann sich Demokratie auch mit demokratischen Methoden selbst abschaffen? Kann und darf Demokratie das verhindern?

Solche Fragen stellt das Buch von Jan-Werner Müller: „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?“. Wie aktuell das ist, zeigt nicht nur der Streit der Europäischen Union mit Ungarn oder Polen, sondern auch die Auseinandersetzung darüber, wie autoritär eine Regierung mit Verboten gegen Mehrheiten im Volk im Namen des Klimawandels vorgehen darf.

Wie das demokratische Experiment ausgeht, wenn ein Zerstörer der liberalen Demokratie an deren Spitze gewählt wird, ist ungewiss, und es ist gerade die Ungewissheit der Wahlausgänge, die für Jan-Werner Müller neben Freiheit und Gleichheit ein definitives Merkmal der Demokratie darstellt. Jeder Versuch, diese prinzipielle Verwundbarkeit zu beseitigen, würde, Müller zufolge, auf die präventive Abschaffung der Demokratie zwecks Verhinderung ihrer Beseitigung hinauslaufen.

Eine Problematik, auf die Herfried Münkler in seiner Rezension unter der Überschrift „Die kritische Infrastruktur der Demokratie“ eingeht. Demnach wäre jeder wirklich freiheitlichen Ordnung das Risiko der Selbstdemontage unvermeidlich eingeschrieben. Und institutionalisierte Sperren zur Verteidigung und Immunisierung der Demokratie (wie etwa ernannte Verfassungsgerichte) gegen die Freiheit zu ihrer Einschränkung durch Mehrheiten nicht wirklich demokratiekompatibel.

Dazu auch interessant ist die Argumentation im „Verfassungsblock“ zur Diskussion der Demokraten in den USA, wie man die durch Trump auf Jahre festgelegte republikanische Dominanz im Obersten Gerichtshof schnell loswird.

Eine Stellungnahme, die dabei für besonders viel Aufsehen gesorgt hat, kam von dem jungen Harvard-Professor Nikolas Bowie: Aus dessen Sicht ist die Zurichtung des Supreme Court als Instrument rechter Politik nur ein Symptom eines viel tiefer liegenden Problems, nämlich des Rechts der Justiz, Gesetze außer Kraft zu setzen, die sie für verfassungswidrig hält.

Laut gängiger staatsrechlicher Orthodoxie gilt die sogenannte „judicial review“ als gut für Demokratie, Gerechtigkeit und zum Schutz von Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit. Was man mit Fug und Recht auch anders sehen kann.

Dass die Meinung von fünf Harvard- oder Yale-Absolvent_innen auf der Washingtoner Richterbank ausschlaggebend dafür sein soll, ob ein Gesetz gilt oder nicht, hält Bowie für einen Anschlag auf die demokratische Gleichheit.

Er meint auch, das die Geschichte zeige, die Interessen von Grundrechtsträger_innen und Minderheiten waren bei der Kongressmehrheit nicht schlechter aufgehoben. Zu dem ist natürlich auch ein oberstes Gericht missbrauchsanfällig. Münkler fragt nun:

Aber was tun, wenn die Verächter der Freiheit von dieser Freiheit Gebrauch machen, um sie zu beseitigen? Handelt es sich dann nicht um Missbrauch, den man rechtlich definieren kann, um ihm auf der Grundlage dieser Definition vorzubeugen? So jedenfalls sieht es das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vor, das die Befugnis zur Feststellung eines möglichen Missbrauchs dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten hat. Das Gericht kann die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststellen, deren politisches Gewicht aber gleichzeitig als so gering einschätzen, dass es, wie zuletzt beim Verfahren gegen die NPD, auf ein Verbot verzichtet. Die Karlsruher Richter haben hier einen politischen Ermessensspielraum, der die Reichweite eines genuin juristischen Urteils übersteigt.

Wie auch immer, das Dilemma, wer zwischen „Gebrauch“ und „Missbrauch“ der demokratischen Freiheit unterscheidet, bleibt.

Für Müller können das letzten Endes nur die Bürger selbst sein – und wenn diese nicht mehrheitlich zur liberalen Demokratie stünden, dann sei diese kaum zu retten. Diesem Schluss wird man in der Allgemeinheit wohl folgen können.

Nur was ist, wenn Medien und Parteien „als entscheidende Elemente einer funktionierenden Infrastruktur der Demokratie“ (auf die Müller setzt) schummeln, Teile dieser Eliten die demokratische Ordnung umgestalten wollen, um ihre Interessen oder Weltbilder durchzusetzen? Und wenn dann „die kognitiven Fähigkeiten und mentalen Dispositionen der Bürger, also das, was den ‚Geist‘ oder die ‚Tugend‘ der Bürgerschaft ausmacht“ dem nicht standhalten? Genau darin besteht die Offenheit der Geschichte.

Wie es immer besser wird

piqer:
Georg Wallwitz

Marc Andreessen ist einer der großen Wagniskapitalisten im Silicon Valley. Er hat es in den letzten Jahren wie kaum ein anderer geschafft, die globalen Trends frühzeitig zu verstehen, insbesondere in der digitalen Ökonomie. Wenn einer ahnt, wie es in der Wirtschaft weiter geht, dann ist es Andreessen.

Dieses Interview mit WIRED ist ein Rundumschlag. Es geht um das Schließen der „Digital Divide“, um Sprache als Interface, um die Möglichkeiten von AR (Augmented Reality) und VR (Virtual Reality), warum Softwareprogrammierer eine immer schwierigere Aufgabe haben, über Krieg im digitalen Zeitalter und warum Wachstum die Lösung und nicht die Ursache unserer Probleme ist.

Der Mann ist Berufsoptimist, das macht es so erfrischend, ihm zuzuhören (auch wenn er für meinen Geschmack zu schnell redet). Er verzweifelt nicht an Problemen, sondern sieht sie als Herausforderung. Und wenn man ihm zuhört, wird auch klar, warum in Amerika die Zukunft entsteht. Wer nicht einordnen kann, wer Marc Andreessen ist, sollte vielleicht auch das Portrait über ihn im New Yorker lesen.