Fremde Federn

Inflation, Auto-Industrie, Europawahlen

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Inflation intelligent bekämpft werden kann, weshalb Deutschland seine Auto-Industrie verliert und warum in diesem Jahrhundert Milliarden von Menschen auf der Flucht sein werden.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wohin geht die deutsche Auto-Industrie – nach China?

piqer:
Thomas Wahl

Viele Jahre bestand die Wirtschaftspolitik der führenden Industriestaaten darin, ihre Produktion nach Asien, vor allem nach China auszulagern.

Im Idealfall war das eine Win-Win-Situation. Die Unternehmen, die nun in China produzieren ließen, machten mehr Gewinne. Für die Konsumenten im Westen wurden Produkte billiger. In den Schwellenländern stiegen Löhne und das Bruttosozialprodukt.

Kein anderes Land hat von diesem Megatrend mehr profitiert als China. Hat das Land es eventuell damit geschafft, die Win-Win-Situation in ein Nullsummen-Spiel zu seinen Gunsten umzugestalten? Jedenfalls mehren sich die Anzeichen, dass diese Art der Globalisierung auf Dauer die wirtschaftliche Vormachtstellung und den Wohlstand des Westens untergräbt.

Nun wirft Philipp Mattheis bei BlingBling anlässlich der jährlichen Automesse in Shanghai (die während der Corona-Pandemie für westliche Besucher nicht zugänglich war) einen Blick auf die Automobilindustrie. Die Tatsache, dass China der größte Automobil-Markt ist, bleibt ungebrochen bestehen – ein Drittel aller weltweit produzierten PKW werden in China verkauft. Aber im Unterschied zurzeit vor der Pandemie finden sich jetzt chinesische Marken mit Elektromotoren im Mittelpunkt: Nio, BYD, Great Wall und Nio.

Als sich der Vorhang der Pandemie lichtete, war China plötzlich an den Konkurrenten Deutschland, den USA und Südkorea vorbeigezogen. Exportierte das Land 2018 noch 600000 Autos ins Ausland, sind es mittlerweile 2,6 Millionen. Nur Japan bringt es auf noch mehr. Im selben Zeitraum verfünffachte sich auch die Produktion von Elektro-Fahrzeugen. Zwar hat Tesla noch immer einen globalen Marktanteil von über 50 Prozent. An zweiter Stelle aber folgt nun schon der chinesische Hersteller SAIC. In China selbst dominiert BYD das Geschäft.

Für Deutschland kann das schnell zum volkswirtschaftlichen Desaster werden. An der PKW-Industrie hängen hierzulande rund 800.000 Arbeitsplätze. Neben den großen Unternehmen wie VW sichern vor allem im Süden unseres Landes Hunderte Mittelständler mit ihren hoch spezialisierten Produkten für die Konzerne einen Großteil der hoch bezahlten Arbeitsplätze. Es stimmt, solche alarmierenden Stimmen hat es in der deutschen Autoindustrie immer mal wieder gegeben, wenn es um China ging.

Schließlich, so fürchtete man, könne es ja genauso laufen wie bei den Hochgeschwindigkeitszügen oder der Solar-Industrie: Die erst durch billige Produktionskosten und später von dem gigantischen Konsumenten-Markt angelockten Unternehmen würden ihre Technologie an chinesische Mitbewerber abgeben, und anschließend von diesen ausgestochen werden.

Bisher hat das nie funktioniert, der technologische Vorsprung bei Verbrenner-Autos war wohl zu hoch. Erst mit der Elektromobilität kam Chinas Chance. Und die Strategie dazu kam von ganz oben.

Angeblich soll Präsident Xi Jinping 2014 verkündet haben, der Elektromotor sei die einzige Chance, von einem großen Automobilkonsumenten zu einem Produzenten aufzusteigen. Zwischen 2009 und 2022 flossen umgerechnet 29 Milliarden US-Dollar an staatlichen Subventionen in die Branche.

Dazu sicherte man sich gleichzeitig die benötigten Rohstoffe in Afrika oder Südamerika,

die für die Herstellung der Batterien notwendig sind: Lithium, Nickel, Kobalt. Mit Investitionen entlang der Neuen Seidenstraße/BRI in Häfen und Zugstrecken erleichterte man den Zugriff.

Aber diese Subventionsstrategie war keine staatlich Planung der Produktion im klassischen Sinne, sondern ein Wettbewerb unter nationalen und internationalen Konkurrenten:.

In der Folge begannen die Provinzen mit Subventionen untereinander zu wetteifern, wer schneller ein chinesisches E-Fahrzeug auf den Markt bringen konnte. Wie oft bei staatlichen Subventionen endeten diese an der falschen Stelle, und trieben Blüten: So wurden zwar tausende Autos produziert, der teuerste Teil, die Batterie, die bis zu 40 Prozent der Kosten ausmachen kann, aber weggelassen. Manche der Fahrzeuge fuhren nie. Aber im Großen und Ganzen funktionierte die Strategie.

Auch die Ansiedlung von Tesla nahe Shanghai 2018 sollte wohl den Wettbewerbsdruck auf die chinesischen Unternehmen verstärken und sie durch die Konkurrenz fitter werden lassen. Und sie damit langsam von den Subventionen entkoppeln. Mattheis nennt zwei weitere Gründe für den Erfolg der chinesischen Hersteller in ihrem Heimatmarkt:

  • Es ist zum einen eine andere Kultur im Umgang mit dem fahrbaren Untersatz. So ist den chinesischen Kraftfahrern eine Vernetzung im Internet mit der omnipräsenten App WeChat wichtiger als vielleicht eine perfekte Straßenlage. Denn ohne WeChat ist der chinesische Alltag nicht mehr zu bewältigen.
  • Zum Zweiten existiert in den chinesischen Ballungsräumen inzwischen eine entsprechende Ladeinfrastruktur. „Sowohl was den Anschaffungspreis als auch die Betriebskosten angeht, ist elektrisch fahren in China günstiger als Autos mit Verbrennungsmotor“ …

Ein dritter Erfolgsfaktor ist die Beherrschung quasi der gesamten Wertschöpfungskette für Batterien von den Rohstoffen bis zum Endprodukt. Hier haben westliche Hersteller und ihre Staaten offensichtlich komplett versagt.

Zuerst verlagert man den umweltschädlichen Abbau von Seltenen Erden und anderen Metallen nach China, weil man den Dreck nicht im eigenen Land haben will. Man sieht zu, wie ein autoritäres System die Lieferketten dominiert, die für die Energiewende notwendig sind. Und anschließend verbietet man den Verbrenner-Motor (ab 2035) – die Erfindung, um die in gewisser Weise die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten gekreist ist, und beständig die Export-Überschüsse erwirtschaftet hat, die für einen großen Sozialstaat notwendig sind.

Letzteres ist sicher grundsätzlich notwendig, führt aber ohne eine entsprechende industrielle Alternative u.U. zu einer “De-Industrialisierung”

bei gleichzeitiger Abhängigkeit von einem autoritären Regime (das in seinen totalitären Ansprüchen im Übrigen wesentlich aggressiver ist als das russische).

Zu beobachten ist ein beunruhigender allgemeiner Trend – die Verlagerung ehemals deutscher Großkonzerne nach China.

BMW verkaufte im vergangenen Jahre fast 37 Prozent seiner Autos in China, VW knapp 40 Prozent. BASF hat angekündigt die Produktion in Deutschland aufgrund gestiegener Energiekosten herunter zu fahren – und gleichzeitig angekündigt, zehn Milliarden in den Aufbau eines neuen Verbundes in Guangdong, in Südchina zu investieren. VW will eine Milliarde in ein „Innovationszentrum“ in China investieren. … Zuerst ging die Produktion nach China, dann war der Markt in China, und seit ein paar Jahren wird nicht mal mehr in Deutschland geforscht. Das sind dann eben „Chinese Companies with German characteristics“.

Mag sein, dass dies nur ein begrenzter Trend ist, dass die chinesischen Hersteller nur in den billigeren Marktsegmenten dominieren werden und die deutschen Marken das Premium-Segment behalten. Vielleicht gelingt es auch den anderen Industriezweigen hier ihren Vorsprung an Excellence zu halten. Aber das wird m.E. mehr Anstrengung erfordern als gegenwärtig zu sehen sind. Und ob wir das mit einer Vier- oder gar Drei-Tage Woche zum jetzigen kritischen Zeitpunkt erreichen – ich zweifele …. Wir befinden uns an einem Bifurkationspunkt, in denen sich demografisch, außenpolitisch und wirtschaftlich kritische Entwicklungspfade auftun. Da ist es vielleicht nicht so angebracht, sich zur Ruhe zu setzen?

Isabella Weber: Wie Inflation intelligent bekämpft werden kann

piqer:
Antje Schrupp

Dass gegen die hohe Inflation etwas unternommen werden muss, darüber sind sich viele einig, nur nicht über die Mittel dafür. Klassischerweise sollen Zinserhöhungen helfen, aber die haben unerwünschte Nebenwirkungen – sie kühlen die Wirtschaft ab und schaden erneut denen, die bereits unter den gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreisen am meisten gelitten haben, nämlich den Geringverdienenden.

Die Wirtschaftsprofessorin Isabella Weber schlägt in ihrem Buch „Das Gespenst der Inflation“ einen anderen Weg vor, nämlich gezielte Maßnahmen wie Preiskontrollen in jenen Branchen, die die Inflation verursachen. Anders als frühere Inflationen rühre die jetzige nämlich nicht aus einer zu großen Nachfrage oder einer übermäßigen Geldmenge her, sondern ist aus äußeren Umständen entstanden, die es einzelnen Akteuren ermöglicht haben, Preise unverhältnismäßig zu erhöhen, etwa durch die Staus an Schiffen in vielen Häfen oder eben den Krieg in der Ukraine.

Statt dass Staaten in solchen Situationen, wie im Fall der Gaspreisbremse geschehen, erst im letzten Moment und damit hektisch reagieren, sollten sie, so Webers Rat, eine Art „Katastrophenschutz“ für Wirtschaftspolitik aufbauen. Also Verfahren und Mechanismen, die es erlauben, in Märkte einzugreifen, wenn diese durch unvorhergesehene Ereignisse komplett aus dem Ruder zu laufen drohen. Denn Gründe und Anlässe wird es in Zukunft immer wieder einmal geben.

Ein sehr lesenswertes Interview.

Das „Woodstock of Postgrowth“

piqer:
Jürgen Klute

Das „Woodstock of Postgrowth“ nannte Louison Cahen-Fourot, Assistant Professor an der dänischen Roskilde Universität, die Beyond Growth 2023 Conference, die vom 15. bis 17. Mai in Brüssel im Europäischen Parlament (EP) stattfand.

Diese Empfehlung bezieht sich also nicht auf einen einzelnen Artikel, sondern auf eine Konferenz. Der Link führt zu den Aufzeichnungen einer ganzen Reihe der thematischen Veranstaltungen in deren Rahmen.

Der strategische Kopf hinter dieser Konferenz, die mit über 1.000 Teilnehmenden die bisher größte ist, die aus dem EP heraus organisiert wurde, ist der grüne belgische Europaabgeordnete Philippe Lambert. Unterstützt wurde er von Abgeordneten aus fast allen anderen Fraktionen des Parlaments mit Ausnahme der rechtsextremen Fraktionen. Die Unterstützung aus Deutschland war mit zwei MEP allerdings mehr als bescheiden: Manuela Ripa (Greens/EFA) und Helmut Scholz (The Left).

Die insgesamt 27 Veranstaltungen (7 Plenarveranstaltungen und 20 Workshops) waren hochkarätig besetzt. Neben vielen anderen standen die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz auf der Liste der ReferentInnen.

Auf einem hohen fachlichen Niveau ging es im Kern um die Frage, mit welchen Indikatoren wirtschaftlicher Erfolg und wirtschaftliche Entwicklungen angemessen erfasst werden können, denn sie dienen als Grundlage politischer Entscheidungen. Es ging also keineswegs nur um Verzicht und Verbote, sondern ganz wesentlich um die Frage sachgerechter Maßstäbe und wie unter heutigen Bedingungen überhaupt wirtschaftlich relevantes Handeln zu definieren ist.

Zum anderen hat diese Konferenz hunderten von jungen Menschen die Möglichkeit geboten, sich im Europäischen Parlament mit Abgeordneten, Beamtinnen der EU und Wissenschaftlerinnen über diese Fragen, die für die Bewältigung der Klimakrise von zentraler Bedeutung sind, auseinanderzusetzen und mit ihren Sorgen und Anliegen von Politikerinnen wahr- und ernstgenommen zu werden.

In bundesrepublikanischen Medien habe ich bisher über diese Konferenz keine Berichten entdeckt. Lediglich der englischsprachige Economist hat einen Verriss veröffentlicht: Meet the lefty Europeans who want to deliberately shrink the economy. Dass sich auch konservative und liberale Politikerinnen aus der EPP und Renew Europe aktiv an der Konferenz beteiligt haben, hat der Economist schlicht ignoriert.

Deshalb diese Empfehlung an dieser Stelle. Ich hoffe, dass viele sie wahrnehmen, und einfach mal reinschauen in die Aufzeichnungen der Konferenz. Auch wenn man/frau nicht in allem den Überlegungen folgen mag, gibt es sehr viele Anregungen auf den Plenarsitzungen und Workshops. Denn es ist schon bemerkenswert, dass das größte und bedeutendste Parlament in Europa sich Parteigrenzen überschreitend in beispielgebender Weise und auf einem ungewöhnlich hohen Niveau mit dem drängendsten Problem, vor dem wir als Menschheit stehen, unsere Art des Wirtschaftens und die daraus resultierende Klimakrise, drei volle Tage im Rahmen einer Großveranstaltung befasst und dies kaum öffentliche und mediale Resonanz findet.

Die nächsten Europawahlen nähern sich

piqer:
Jürgen Klute

Hier mal keine tief schürfenden Überlegungen zur Krise und Zukunft der Europäischen Union, sondern ein kurzer Artikel über ein paar einfache, aber politisch relevante Daten: Die Festlegung des Wahltermins für die Europawahlen 2023. Das Europäische Parlament hatte für einen früheren Termin votiert. Weshalb es dazu nun doch nicht kommt und wann die Wahlen stattfinden, berichtet Eleonora Vasques in diesem Artikel auf Euractiv. Außerdem verrät sie, wie es um die EU-weiten Wahllisten und das Spitzenkandidatenprinzip steht.

In 75 Jahren: vier Milliarden Menschen auf der Flucht

piqer:
Nick Reimer

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) befasste sich 2007 mit dem „Sicherheitsrisiko Klimawandel“. Heraus kam ein fast 300 Seiten dickes Gutachten. „Ohne entschiedenes Gegensteuern“, lautete damals das zentrale Ergebnis, werde der Klimawandel „bereits in den kommenden Jahrzehnten die Anpassungsfähigkeit vieler Gesellschaften überfordern“. Die daraus resultierende Gewalt und Destabilisierung werde „die nationale und internationale Sicherheit in einem erheblichen Ausmaß bedrohen“. Noch bis 2020, so das Gutachten, gebe es ein „Zeitfenster zur Vermeidung von Klimakonflikten“.

OK, 2020 ist vorbei und das Zeitfenster wurde nicht genutzt: Die Emissionen erreichten 2022 weltweit 36,6 Milliarden Tonnen – ein neuer Rekord. Und es ist ja nicht so, dass die Treibhausgase der Jahre 2021, 2020, 2019 … irgendwo verschwunden wären: Sie wirken bereits jetzt. Treibhausgase haben in der Atmosphäre eine sehr lange Lebensdauer, durch den Menschen verursachtes Kohlendioxid wird durch die natürlichen physikalischen und biogeochemischen Prozesse im Erdsystem beispielsweise nur sehr langsam abgebaut. Nach eintausend Jahren sind davon immer noch etwa 15 bis 40 Prozent in der ⁠Atmosphäre⁠ übrig.

Als „menschliche Nische“ gilt jener Bereich, in dem Menschen einem normalen, produktiven Leben nachgehen können. Die Wissenschaft definiert diese auf eine lokale Jahresmitteltemperatur unter 29 Grad Celsius. Mehr als 29 Grad im Durchschnitt – das gibt es derzeit nur auf 0,8 Prozent der weltweiten Landfläche, vor allem in der Sahara. Im Jahr 1980 waren es weltweit lediglich 0,3 Prozent.

Bei ungebremstem Klimawandel jedoch dehnen sich solche Gebiete in den kommenden 50 Jahren auf rund 19 Prozent aus. Ein Gürtel „nahezu unbewohnbarer“ Region zöge sich dann entlang des Äquators: Betroffen wären Teile Mittelamerikas, fast das komplette Amazonas-Becken, ein Streifen durchs nördliche Afrika mit bevölkerungsreichen Staaten wie Nigeria, Ägypten und Äthiopien sowie weite Teile der arabischen Halbinsel, Pakistans und Indiens bis nach Thailand, Indonesien und den Norden Australiens. Bis etwa 2070 würde damit die Heimat von rund 3,5 Milliarden Menschen aus der „klimatischen Nische“ rutschen.

Eine neue Studie kommt nun zu dem Schluss, dass Ende des Jahrhunderts rund vier Milliarden Menschen nicht mehr so leben und wirtschaften können, wie wir es kennen: Der Klimawandel vertreibt sie aus der menschlichen Nische. Mit anderen Worten: Sie müssen fliehen.

AI infiltriert das Betriebssystem menschlicher Zivilisation

piqer:
René Walter

Yuval Noah Harari schrieb vor ein paar Wochen eine gelungene, sehr grundsätzliche Kritik im Economist. Darin beschrieb er, wie AI-Systeme über ihre Fähigkeit zur Simulation von Sprachbeherrschung einen Zugang zu praktisch allen Mechanismen menschlicher Sozialität erhalten, von Religion über Bildung bis Wirtschaft und Finanzwesen.

Harari beschreibt im Text weiter, wie das Digitale und Social Media eine wirtschaftliche Konkurrenz um menschliche Aufmerksamkeit etablierte, die uns bereits seit nun rund zwanzig Jahren mit einer neuen Ökonomie konfrontiert, mit damals ungeahnten psychologischen Folgen. Harari warnt in diesem Text nun davor, dass AI-Systeme einen neuen Kampf um eine psychologische Intimität entfachen, die zuvor ausschließlich von den bislang einzigen intelligenten sprachbeherrschenden Systemen auf diesem Planeten erzeugt werden konnte, nämlich von uns. Über die Simulation der Sprachbeherrschung, so Harari, erhalten Systeme künstlicher Intelligenz über diese Intimität einen Zugang zu praktisch allen sozialen Subsystemen, die mit menschlicher Sprache erzeugt werden.

Das ist eine Kritik, die ich in anderen Worten in den vergangenen Monaten auf meinem eigenen Newsletter in kurzen Aufsätzen über Selbstradikalisierung formulierte, und wegen der ich letztlich den bekannten offenen Brief unterschrieb, der zu einem sechsmonatigen Moratorium der Entwicklung großer AI-Projekte aufrief: Sprachbeherrschende AI-Systeme laufen grundsätzlich Gefahr, einen echten neuen sozialen Teilnehmer zu erzeugen, der eine reale Theorie des Geistes hervorrufen kann, ganz egal, ob er nur aus Algorithmen besteht und künstlich erschaffen wurde. Genau hiervor warnten auch Philosophen und Rechtsgelehrte der Universität Leuven in Belgien in einem weiteren offenen Brief, den ich vor kurzem hier gepiqt hatte:

As soon as people get the feeling that they interact with a subjective entity, they build a bond with this „interlocutor“ – even unconsciously – that exposes them to this risk and can undermine their autonomy.

In anderen Worten: Sprachbeherrschende AI-Systeme erzeugen immer das Gefühl, mit einem anderen subjektiven, empfindsamen Wesen zu sprechen. Wir können nicht anders, denn die menschliche Psyche war im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte noch nie mit einem sprachbeherrschenden System konfrontiert, das nicht-menschlichen Ursprungs war. (Das Gegenargument würde an dieser Stelle lauten, dass AI-Systeme aufgrund der menschlichen Trainingsdaten ja menschlichen Ursprungs sind, und das eigentlich Fremdartige die Interpolation der Datenpunkte im Latent Space darstellt, aber das würde in diesem kurzen Piq zu weit führen.)

Die vergangenen Jahre haben bereits im Kontext von Social Media gezeigt, wie sehr Digitalität tatsächlich psychoaktives Potenzial zeitigt, das von Bad Actors auf allen Seiten zu manipulativen Zwecken missbraucht werden kann – und AI-Technologie wird diese Tendenz nur weiter verstärken.

Der von mir hier nun ausgewählte Vortrag im Frontiers Forum in Montreux, Switzerland ist eine etwas aktualisierte Version des oben verlinkten Textes und auch wenn ich Yuval Noah Hararis Buch „Homo Deus“ für maßlos überbewertet halte, so sehr stimme ich ihm in dieser grundlegenden Kritik zu.

Die wahnsinnige Seite von ChatGPT

piqer:
Jannis Brühl

Dass wir das Internet überhaupt besuchen können, ohne wahnsinnig zu werden, liegt an ihnen: Content-Moderatoren, die im Akkord brutale, menschenverachtende, übermäßig gehässige, rassistische und überhaupt illegale Inhalte sichten, markieren und sie löschen (lassen). Die großen Social-Media-Plattformen setzen schon lange auf sie, oft in Billiglohn-Ländern. Auch im Bereich generativer KI gibt es ähnliche Jobs. Denn Menschen prüfen einen Teil der Daten für die großen Sprachmodelle wie Bard oder ChatGPT noch einmal. Dieses Feedback von Menschen ist Teil des Lernprozesses und macht die Programme so „intelligent“, dass sie menschlich auf ihre Nutzer wirken.

Dass in diesem Bereich die Regeln, auf die die Tech-Branche demonstrativ setzt, nicht viel wert sind, zeigt diese Recherche von Reporter Alex Kantrowitz in seinem Newsletter Big Technology. Er hat mit dem Kenianer Richard Mathenge gesprochen, der einer jener Content-Sichter war, die im Auftrag von OpenAI arbeiteten: Er hat den Datensatz für ChatGPT gesichtet und das eklige Zeug rausgefiltert. Kantrowitz deutet die Dinge, die Mathenge und seine Leute sich ansehen mussten, nur an. Das reicht auch.

Die Geschichte, die Kantrowitz zutage fördert, klingt erschreckend bekannt und ist ebenso wichtig: Outsourcing in arme Länder, schlechte Löhne – und auf beiden Seiten des Atlantiks ducken sich alle weg, um die Verantwortung für traumatisierte Moderatoren zu vermeiden. Nur dass es in diesem Fall um jene Menschen geht, die wie Märtyrer alle Sünden des Netzes auf sich laden, nur damit wir eine „saubere Experience“ haben, wenn wir das Handy zücken.

Kantrowitz‘ trockene Wiedergabe der Kommunikation mit OpenAI und Sama, dem Unternehmen, das Mathenge in Kenia beschäftigte, liest sich kafkaesk:

The OpenAI spokesperson said the company sought more information from Sama about its working conditions. Sama, the spokesperson said, then informed OpenAI it was exiting the content moderation space. Sama did not respond to a request for comment.

Stolz, an dem Bot, der die Welt ganz kirre macht, mitgearbeitet zu haben, ist Richard Mathenge übrigens trotzdem. So vielschichtig können solche Geschichten sein.