In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Hätte Rom eine industrielle Revolution haben können?
piqer:
Rico Grimm
Ist das nicht erstaunlich? Tausende Jahre lang wuchsen menschliche Gesellschaften so gut wie gar nicht und machten nur selten wirklich bahnbrechende Erfindungen (die sich spürbar auf das Wirtschaftswachstum auswirkten) – während wir in den vergangenen 200 Jahren in immer schnellerem Tempo voranschreiten und sich ein „Zeitalter“ ans andere anschließt. Warum aber begann diese Entwicklung erst im 19. Jahrhundert und warum ausgerechnet in England? Um diese Frage besser zu verstehen, schaut dieser Text auf: das antike Rom. Ausgehend von einer Romanidee zeigt hier der Historiker Mark Koyama, was im antiken Rom hätte passieren müssen, damit die Industrialisierung schon dort hätte beginnen können. Implizit lernen wir so viel über unsere Zeit und unsere Wirtschaftsordnung.
Nachtrag: Fabian hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich zu unkonkret ausgedrückt hatte. Es geht mir und dem Text nicht um die Frage, ob die Zeitalter vor 1800 irgendwie „dunkel“ gewesen seien (was sie nicht waren), sondern nur darum welche Bedingungen es im 19. Jahrhundert für den Beginn des exponentiellen Wachstums gab. Deswegen habe ich den Text nochmal konkretisiert, aber den entsprechenden Kommentarstrang gelöscht, der ein Festival der Missverständnisse war.
Doku: Wie sich Superreiche aus aller Welt ganz bequem und legal die EU-Staatsbürgerschaft erkaufen
piqer:
Frederik Fischer
Arme Wirtschaftsflüchtlinge werden verteufelt, reiche Wirtschaftsflüchtlinge werden mit offenen Armen empfangen. Klingt platt aber isso, wie dieser Panorama-Beitrag eindrucksvoll belegt.
Geschildert wird das Geschäft mit Pässen. Die kann man nicht nur auf dem Schwarzmarkt kaufen, sondern ganz legal auf Messen wie „Emigration & Luxury Property“ in Cannes oder dem „Global Citizen Forum“ in Montenegro. Dort buhlen Passverkäufer um Superreiche und verbreiten dabei Basar-Atmosphäre. Beispiel Zypern: Wer bereit ist zwei Millionen Euro zu investieren, bekommt zum eigenen Pass auch direkt noch kostenlos Pässe für die ganze Familie dazu. Wem das zu teuer ist, der/die wird vielleicht ein paar Stände weiter in Portugal fündig. Dort bekommt man schon für den Kauf von Immobilien in Höhe von 500.000€ ein goldenes Visum. Gut, das ist kein echter Pass, aber EU-weite Reisefreiheit ist damit trotzdem garantiert.
Einigen reicht das, den meisten geht es jedoch um offizielle Dokumente, die die Käufer als EU-Bürger ausweisen, wie eine Passverkäuferin im Film erklärt:
Das ist was die Leute wollen. Sie gehen nicht nach Malta. Sie wollen nicht, dass bekannt ist, dass sie Russen oder Saudis sind, was von Nachteil sein kann. Deshalb wollen sie einen EU-Pass, mit dem sie in allen EU-Staaten aktiv sein können, zum Beispiel in Deutschland.
Deutschland hat von diesen Deals natürlich nichts. Schwacher Trost: Die Länder der Passverkäufer auch nicht zwingend. Im Gegenteil: Das Geld wandert häufig in Luxusimmobilien, die leer stehen, aber den Preisdruck in den Städten weiter erhöhen.
Im Beitrag leider noch nicht ausreichend belegt ist zudem die Vermutung, dass sich auf diesem Weg auch korrupte und/oder kriminelle Politiker und Unternehmer ihren Weg in die EU erkaufen. Selbst wenn die konkreten Beweise fehlen: Naheliegend ist der Verdacht. Weitere Recherchen und Leaks über den genauen Prozess der Käuferprüfung wären hilfreich.
Ein Wunder am Arbeitsmarkt?
piqer:
Eric Bonse
An das deutsche „Beschäftigungswunder“ haben wir uns gewöhnt. Wir kennen auch die Kehrseiten – schlechte Bezahlung, prekäre Jobs, wachsende Armut. Doch nun bahnt sich dasselbe auf EU-Ebene an. Nach Jahren der Krise ist der Jobmotor wieder angesprungen – und zwar schon 2013, fast unbemerkt.
Wie ist der Boom zu erklären? Die expansive Geldpolitik der EZB ist nicht die ganze Antwort. Auch jahrelange Lohnzurückhaltung und massive Gewinn-Steigerungen haben zum Aufschwung beigetragen. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sei exzellent, heißt es im „Herdentrieb“-Blog.
Die gute Nachricht ist, dass der Boom noch eine ganze Zeit anhalten dürfte. Die schlechte könnte sein, „dass sich der Euro zu stark aufwertet, was angesichts der vergleichsweise hervorragenden Fundamentals nicht auszuschließen ist.“ Auch Strukturprobleme könnten sich noch als Handicap erweisen. Doch das sei, so der Autor, eine andere Geschichte …
Die Anlagestrategie von Warren Buffett zeigt, dass die Wirtschaft des Westens ein Problem hat
piqer:
Rico Grimm
Warren Buffett? Kennt ihr – das ist der Mann, der als „Orakel von Omaha“ gilt, weil er ein paar wirklich weitsichtige Anlageentscheidungen getroffen hat. Seinem Anlagestil eifern auf der ganzen Welt Millionen Anleger nach. Der wichtigste Begriff dürfte dabei der des moats, des „Burggrabens“ sein, den ein gutes Investment haben muss. Was meint er damit? So ein Graben sichert das Geschäft einer Firma gegen Konkurrenz ab. Er stellt eine „Markeintrittsbarriere“ für andere Firmen dar. Zum Beispiel kann eine starke Marke ein moat sein (z. B. bei Disney), ein spezielles Software-System in Verbindung mit Hardware (z. B. bei Apple), aber auch staatliche Regulierung (z. B. bei dem Energiekonzern Innogy).
Diese Strategie ist aus Sicht eines Anlegers absolut richtig, wenn aber Millionen Anleger auf der ganzen Welt Buffett nacheifern und ihr Geld nur in Firmen stecken, die ihr Geschäft über tiefe Gräben von der Konkurrenz abschotten können, bekommt die reale Wirtschaft ein Problem. Warum beschreibt dieser Text.
Nationalpolitiker mit ökonomisierter Machtideologie
piqer:
Ali Aslan Gümüsay
Der Artikel ist zweierlei und sprachlich schön verwoben. Erstens wird ein neuer Typ eremitischer Politiker (ein Oxymoron?) geschildert. Sie verkörpern Paradoxa: sind eindringlich, aber nicht aufdringlich, traditionell und progressiv. Und sie sehen und gestalten Politik als Inszenierung und Simulation von Handlungsmacht. Zweitens haben sie gemein einen kompromisslosen Glauben an die freie Marktwirtschaft und die ökonomischen Kräfte. Man könnte von ökonomisierter Machtideologie sprechen, die eine nationale bis nationalistische Moral in der Politik und eine ebenso staatsfokussierte Amoral in der Wirtschaft anpreist.
Für diesen Typ Politiker gilt:
Er ist ein optimistischer Fatalist und kennt nur einen Ausweg: die Anpassung ans globale Rattenrennen. Damit folgt er einer Blumentopf-Theorie. Wenn jede Nation die ordoliberalen Regeln befolgt und ihr eigenes Pflänzchen begießt, dann wird alles wachsen und gedeihen. Falls nicht: selbst schuld.
Dabei sieht natürlich keiner besser, wenn alle sich auf die Zehen stellen. Thomas Assheuer fordert daher mehr statt weniger Kooperation in Politik und Wirtschaft.
Ein guter Text, insbesondere auch weil er im Feuilleton platziert wurde. Der Titel könnte besser sein – wie auch meiner.
Der Kommunismus ist tot? Nicht in dieser Kommune
piqer:
Reportagen. fm
Wer reisen will, muss das genehmigen lassen. Wer erbt, muss teilen. Klamotten gibt’s aus der Kleiderkammer. Und Dienstag ist Plenum. Nahe Kassel leben 75 Menschen in einer Kommune, seit 31 Jahren schon. Warum tun sie das?
Mit dieser Frage reist Reporterin Nadine Ahr für zwei Wochen zu den Kommunarden. Sie merkt, wie schwierig es ist, jeden Tag eine gemeinsame Vision zu tragen, jeden Tag das richtige Leben im falschen zu suchen. Und wie glücklich das machen kann.
Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution stellt der Text auch die Frage, ob es sich lohnt, den Sozialismus nochmal zu beleben und was das mit uns machen könnte. Er gibt keine Antwort, aber das muss er auch nicht.
(Hinweis: Text mit kostenloserer Registrierung zugänglich)
Grundeinkommen: Was hat das finnische Experiment bis jetzt gebracht?
piqer:
Meike Leopold
Halbzeit beim Pilotversuch der finnischen Regierung zum Thema Grundeinkommen. Die taz widmet dem Experiment zwei ganze Seiten. Sie stellt dabei drei von insgesamt 2000 Arbeitslosen in Finnland vor, die mitmachen dürfen. Juha (Schreiner), Tuomas (Journalist) und Marin (Erzieherin) berichten über ihre Erfahrungen mit dem Grundeinkommen und das ausnahmslos positiv.
Sie erhalten nämlich zusätzlich zum monatlichen Arbeitslosengeld zwei Jahre lang 560 Euro. Außerdem dürfen sie ohne Abzug so viel Geld dazu verdienen wie sie wollen. Das verschafft offenbar allen dreien Luft und Energie für neue Pläne und Initiativen in ihrem Leben. Normalerweise wird jeder zusätzliche Verdienst über 300 Euro vom Arbeitslosengeld abgezogen (ein Problem, das auch die Hartz-IV-Empfänger in Deutschland haben).
Die taz nennt die Initiative zu Recht „den Versuch einer epochalen Sozialreform“, die erstmals in Europa gewagt wird. Die Finnen begrüßen den Vorstoß. Die Hälfte der Deutschen hat sich bei einer Umfrage im vergangenen Sommer ebenfalls für das Grundeinkommen ausgesprochen. Wie sich das überhaupt umsetzen ließe, ist bislang allerdings unklar. Hierzulande müsste man wohl einige 100 Milliarden Euro mehr als für die bisherigen Sozialleistungen aufbringen. Und das ganze Sozialsystem komplett umkrempeln.
Doch das Thema ist auf dem Tisch und wird so schnell nicht wieder verschwinden. Diese Aussage des finnischen Politikers Martti Talja fand ich besonders überzeugend:
Unser Sozialsystem macht viele Leute depressiv. Wir müssen es modernisieren. Das Grundeinkommen ist vielleicht ein Teil dieses Prozesses.
Ich bin gespannt, wie die Finnen Ende 2018 weitermachen werden.