Fremde Federn

Industrie-Revolution, Partygate, Lobbysumpf

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Die Folgen der Energiewende für die Opec-Länder, die durchwachsene Klimabilanz der Ampel-Koalition und was das überstandene Misstrauensvotum (nicht) für Boris Johnson bedeutet.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

„Es gibt ein globales Macht­vakuum“ (Adam Tooze)

piqer:
Achim Engelberg

Die verbundenen, verflochtenen und dennoch auch einzeln zu betrachtenden planetarischen Krisen seit der Finanzkrise ab 2008 untergruben die alte Weltordnung, so der bekannte Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. Die Bekämpfung der Pandemie in den letzten Jahren ohne globalen Lösungsansatz und in den letzten Monaten der Krieg in der Ukraine zerstör(t)en und zertrümmer(te)n die nach 1990 entstandene Welt(un)ordnung.

Momentan greifen viele eingealterte Einschätzungen nicht mehr. Keine Deglobalisierung findet statt, wie man es zuweilen laut und falsch hört oder liest, sondern durch den Gewaltherrscher im Kreml gibt es zum Beispiel eine Erneuerung der Globalisierung unter atomarer Bedrohung. (Einschub: Wer nur eine spezielle Einschätzung des Krieges in und um die Ukraine lesen möchte, sei dieser Essay von Adam Tooze im New Statesman empfohlen.)

Im Gespräch geht er weniger auf den Krieg ein, sondern auf die Folgen aufgrund der ökonomischen Reaktionen auf diesen. Überall entstehen neue Lieferketten, ob beim Flüssiggas aus Katar oder bei Waffenlieferungen in die Ukraine.

Die Welt wird nicht deglobalisiert, sondern sie globalisiert sich in eine andere Richtung. Wir erleben eine gewalt­tätige Verschiebung in der Geometrie der Macht­systeme.

In einem planetarischen Rundumblick setzt Adam Tooze Schlaglichter, die er äußerst bedacht auswählt, egal ob er die Sanktionen gegen Russland mit denen gegen den Iran vergleicht, oder ob er Verschiebungen und Irrtümer in Ost und West beleuchtet und dabei die allgemeine Ratlosigkeit erläutert.

Er meidet dabei alle Polemik und sucht beharrlich nach genauen Worten. So entspinnt sich ein profundes, abwägendes Gespräch, dass aber durchaus katastrophale Fehler benennt.

Die EU in ihrer jetzigen Form ist alles andere als harmlos, und die Entwicklung eines echten Gesprächs über strategische Autonomie wird beginnen, wenn sie diese Realität anerkennt. …. wir sollten auch nicht vergessen, dass die ersten, die EU-Uniformen tragen, die Beamten des Grenzschutzes Frontex sind, die unter anderem an der Zurückdrängung von Migranten im Mittelmeer beteiligt sind. Eine Debatte über strategische Autonomie sollte dort ansetzen. Sieht so strategische Autonomie angesichts der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika und Westasien aus? Eine primitive Festung Europa? Wenn nicht, was ist dann die Alternative?

Was das überstandene Misstrauensvotum für Johnson (nicht) bedeutet

piqer:
Theresa Bäuerlein

Der britische Premierminister Boris Johnson hat das Misstrauensvotum seiner eigenen konservativen Partei überstanden. Anlass war „Partygate“. Johnson und Kolleg:innen hatten im November 2020 illegale Lockdown-Partys in der Downing Street gefeiert (hier ein paar hübsche Bilder von dem Event, die Party-Johnson beim Zuprosten zeigen). In dieser Analyse geht es darum, wie es mit Johnson weitergeht. Und warum die Briten ihre Königin lieben und ihre Premierminister hassen.

Das grundlegende Problem für Johnson ist, dass er jetzt ein Populist ist, der nicht mehr populär ist. Dies ist keine Wiederholung des Amtsenthebungsdramas von Donald Trump, bei dem der Präsident zwar landesweit unpopulär war, aber von einer Mauer der Unterstützung durch seine Basis geschützt wurde. In Großbritannien ist Johnson sowohl im Land selbst als auch in den Reihen der Tory-Basis unbeliebt. Entsetzt über die Enthüllungen über betrunkene Partys in Downing Street 10 während der COVID-Absperrungen scheint das Land zu dem Schluss gekommen zu sein, dass es ihn nicht wieder wählen wird. Und solange das Land so denkt, ist er erledigt. Oder wenn nicht er, dann ganz sicher die Konservative Partei.

Johnson hat übrigens seinen eigenen Untergang merkwürdig häufig prophezeit.

„Politik ist eine ständige Wiederholung“, schrieb er einmal. „Wie wir Könige für unsere Gesellschaften erschaffen, und wie wir sie nach einer Weile töten, um eine Art Wiedergeburt zu erreichen.“

Aber selbst wenn Johnson früher oder später gehen sollte, heißt das nicht, dass sich die Politik des Landes deswegen ändern wird, insbesondere nicht in Bezug auf das Verhältnis zur EU.

Dennoch werden die Kandidaten, die ihn ersetzen sollen, mit ziemlicher Sicherheit versprechen, alle wichtigen Punkte seiner Agenda beizubehalten. Einige haben dies sogar schon getan. Jeder von ihnen wird versprechen, außerhalb der EU und ihrer Wirtschaftszone zu bleiben, die Ukraine weiterhin zu unterstützen und das Nordirland-Protokoll zu überarbeiten, das die Grundlage für Großbritanniens schwierige Beziehungen zu Europa bildet.

Die düstere Prognose des Autors:

Großbritannien ist heute ein Land, in dem die Religion durch eine Art staatlichen Shintoismus ersetzt wurde, in dem die Monarchin in den Himmel erhoben wird, während ihre wichtigsten Minister rituell geopfert werden, um die Nation von ihren Sünden zu reinigen. Und die ganze Zeit über ändert sich nichts wirklich. Tief sitzende Probleme werden nicht angegangen, sie verfaulen und werden von einem Premierminister zum nächsten weitergereicht, von denen keiner in der Lage zu sein scheint, das Ausmaß der Herausforderungen zu erkennen, geschweige denn sie anzugehen. Johnson ist nur der jüngste Premierminister, der in seinem Amt spektakulär gescheitert ist, wenn auch in seinem Fall unter besonders schmutzigen Umständen. Er wird nicht der letzte sein.

Die Folgen der Energiewende für die Opec-Länder

piqer:
Jürgen Klute

Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Diskussionen über ein Embargo von russischem Gas und Öl haben nicht nur ein Nachdenken über Ersatzlieferungen dieser für die Wirtschaft grundlegenden Energieträger angestoßen, sondern auch Abhängigkeiten vor Augen geführt und einen neuen Blick auf die Energiewende als Ausweg aus diesen Abhängigkeiten gefördert.

Darum geht es in dem hier empfohlenen Artikel von Günther Strobl im Wiener Standard. Kurzfristig beruhigend ist, dass die Opec die Fördermenge erhöhen will. Weniger beruhigend ist hingegen ein anderer Aspekt, auf den Strobl verweist, nämlich der hohe ökonomische Druck, den die von der EU vorangetriebene Energiewende auf die Opec-Länder auslöst. Die Opec-Länder sind die ökonomischen Verlierer der Energie- und Verkehrswende.

Was klimapolitisch richtig und dringend nötig ist, erzeugt eben an anderer Stelle massive ökonomische Probleme – ungleich größere, als die Energiewende für die EU-Länder erzeugt. Das ist kein Argument gegen die Energiewende. Soll die Energiewende in der nötigen Geschwindigkeit gelingen, dann ist es allerdings erforderlich, diese Probleme zu sehen und auch Lösungen dafür im Blick zu haben. Dieser recht risikobehaftete Aspekt der Energie- und Verkehrswende (der Krieg Russlands gegen die Ukraine lässt sich aus dieser Perspektive auch als ein Krieg um die Energiewende interpretieren) wird noch viel zu wenig gesehen und ernstgenommen. Deshalb weise ich hier auf diesen Text hin.

Ampel-Koalition: Experten ziehen erste Bilanz ihrer Klimapolitik

piqer:
Ralph Diermann

Die neue Bundesregierung hat im ersten halben Jahr klimapolitisch so viel in Bewegung gesetzt, wie das Vorgänger-Kabinett nicht in seiner ganzen Amtszeit. Eine deutliche Erhöhung der Erneuerbaren-Ausbauziele (samt konkreter Maßnahmen, die das Erreichen der Ziele gewährleisten sollen), das De-facto-Aus für neue Gas- und Ölheizungen ab 2024 auch in Bestandsbauten, ein umfassender Arbeitsplan für mehr Energieeffizienz – das sind nur einige Beispiele, wie die Ampel-Koalition (genauer: das Bundeswirtschaftsministerium) hier Dampf macht.

Dem gegenüber stehen jedoch einige Entscheidungen, die diese Aufbruchstimmung stark trüben, der Bau von LNG-Terminals zum Beispiel oder der Steuerrabatt für Benzin und Diesel. Wie also fällt die erste klimapolitische Gesamtbilanz aus? Durchwachsen, meinen unabhängige Experten der renommierten Thinktanks „New Climate Institute“ und „Carbon Analytics“.

Zwar lege die neue Regierung bei der heimischen Klimapolitik deutlich an Tempo zu, so die Experten. Würden alle Staaten der Erde etwa beim Ausbau der Erneuerbaren ähnlich wie Deutschland agieren, könnte die globale Erwärmung auf zwei Grad begrenzt werden. Hart ins Gericht gehen die Analysten dagegen unter anderem mit einigen außenpolitischen Entscheidungen. So sei die Summe, die Deutschland für den globalen Klimaschutz ausgebe, trotz der beschlossenen Erhöhung noch viel zu niedrig.

Taz-Redakteur Bernhard Pötter stellt die wesentlichen Punkte der Analyse vor. Wer tiefer einsteigen will, findet hier die gesamte Untersuchung.

Über den Lobby-Druck gegen das EU-Klimapaket

piqer:
Dominik Lenné

In diesem kurzen Blogbeitrag skizziert der grüne Europa-Abgeordnete Michael Bloss, dass verschiedene wichtige Ziele, die im Umweltausschuss des EP* nach langen Kämpfen ausformuliert worden sind, nun gegen eine Blockierung durch Konservative, Liberale und Rechte zu laufen drohen und von wem alles Beeinflussungsversuche stattfinden. Die finalen Abstimmungen finden statt / waren am Mittwoch, 8. Juni 2022.

Es geht u. A. um das Emissionsminderungsziel, den Termin für das Verbot der Neuzulassung von Verbrenner-Autos, das Emissionsbegrenzungssystem (EU-ETS – EU emissions trading system), die emissionsbasierten Zölle (CBAM – carbon border adjustment mechanism).

Akteure der Beeinflussungsarbeit – „Lobbyismus“ ist ein Euphemismus – sind hier Großindustrie, Industrieverbände – das würde man erwarten. Interessanterweise ist auch die IG Metall mit dabei, die sich mit dem Arbeitsplatzargument gegen eine schnellere Verschärfung der Vorschriften wendet.

Einige Links im Artikel verweisen z. B. auf Bloss‘ Analyse des „Fit for 55“ Pakets und das europäische Klimagesetz. Ein weiteres unglaubliches Beispiel findet sich hier: der Bundesverband der Deutschen Industrie gibt Abstimmungsanregungen in Tabellenform an jeden EP-Abgeordneten. Neben jeder Einzelabstimmung gibt ein „+“ oder „-“ an wie man es gern hätte.

* ENVI = European Parliament Committee on Environment, Public Health and Food Safety

Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft – Degrowth oder Umstellung?

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Ole Wintermann

Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung hat eine interessante Studie zur nachhaltigen Produktion von Lebensmitteln veröffentlicht, die einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeits- und Wachstumsdebatte leitet. Ausgangspunkt der Studie war die These der Degrowth-Befürworter, dass Wachstumsverzicht bzw. ein Rückgang wirtschaftlicher Leistung einen wichtigen Beitrag zum Erreichen einer nachhaltigeren Produktions- und Lebensweise leisten könnte.

Die Forschenden haben nun mit Hilfe einer Simulationsrechnung nachgewiesen, dass die positiven Wirkungen einer Reduktion wirtschaftlicher Tätigkeit (in diesem Fall in der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie) nur marginal wären, wohingegen die Umstellung von Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie auf eine nachhaltigere Produktionsweise (weniger Tierhaltung, mehr Gemüseanbau, gezielteres Düngen, höhere Energieeffizienz) eine sehr viel weitreichendere Reduktion der Treibhausgasemissionen zur Folge hätte.

„Unser Ergebnis zeigt, dass das derzeitige Ernährungssystem im Grunde nie wirklich nachhaltig ist, egal mit welcher Wachstumsrate.“

Würden “nur” die Wachstumsraten reduziert, würde es sogar zu einem Anstieg der Emissionen kommen, da beim Übergang von niedrigen Einkommen zu mittleren Einkommen in wirtschaftlich aufholenden Ländern die ernährungsbedingten Emissionen einer nicht-nachhaltigen Ernährung deutlich ansteigen.

Eingegangen sind die Forschenden nicht auf die Frage, inwiefern fortschreitendes Wachstum im Ernährungssystem auf Dauer dann auch die positiven Effekte einer nachhaltigeren Produktionsweise konterkarieren könnten. Auch sind die Begrifflichkeiten “Nachhaltigkeit”, “Emissionen”, “Ernährungssystem” und “Landwirtschaft” – wie ich persönlich finde – nicht immer konsistent genutzt worden. An der Gesamtaussage ändert dies meiner Meinung nach aber nichts.

Die Zukunft der Arbeit ist absehbar

piqer:
Anja C. Wagner

Arte greift mit dieser Filmdokumentation die alte Frage auf, wie Digitalisierung, KI und Robotics immer mehr traditionelle Arbeitsplätze ersetzen – und dadurch den Gap zwischen Arm und Reich vergrößern.

Es wird diejenigen geben, die die neuen Technologien hoch qualifiziert zu nutzen wissen – und das wachsende Prekariat, das plattformbasierte Arbeiten übernimmt. Die Mittelschicht schwindet bereits. In den USA ist dies längst breite Realität. Nicht zuletzt das Buch und der Film Nomadland hat die Schattenseiten der neuen Arbeitswelt plastisch vor Augen geführt. Auch in dieser Doku kommen solche Protagonist:innen zu Wort, die abwechselnd positiv oder negativ die Potenziale und Risiken zeichnen.

Was offenbleibt, ist die Frage, ob Arbeit als solche wirklich weiterhin das zentrale, sinnstiftende Element unserer Gesellschaften sein kann und wird?! Und welchen Beitrag das Bildungs- und ich würde ergänzen: das soziale Sicherungssystem leisten kann, hier die Menschen adäquat zu begleiten.

Die Entwicklungen werden angesichts der vielfältigen Krisen derzeit gerne weniger prominent diskutiert. Dabei wird man den entstehenden gesellschaftlichen Druck mit der Bewältigung der fundamentalen Klimakrise in Einklang bringen müssen. Mit einem Weiter-so der Arbeitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts wird die Zeitenwende nicht gelingen.