In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wie es den Bauern wirtschaftlich wirklich geht
piqer:
Jannis Brühl
Die Bauernproteste haben viele aufgewühlt. Die Demonstranten nannten das geplante Ende der Agrardiesel-Subvention als Auslöser. Kritiker der Proteste verwiesen darauf, dass die Landwirtschaft die am stärksten subventionierte Branche sei, die Bauern müssten nach dem Haushaltsdesaster der Regierung also dieses Mal verzichten wie andere Gruppen auch.
Geht es den Bauern also zu gut? Die Antwort darauf ist natürlich wie so oft: Kommt drauf an. Die aus Landwirtschaft spezialisierte Journalistin Tanja Busse beschreibt in diesem SZ-Artikel differenziert die Gemengelage auf den Höfen:
- Die meisten Betriebe machen gute Gewinne, und mehr als früher, oft mehr als 100.000 Euro. Allerdings müssen oft ganze Familien davon leben.
- Von diesen Beträgen muss noch einiges abgezogen werden, darunter Altersvorsorge und – das wusste ich nicht – die Renten der Elterngeneration.
- In den Zahlen fehlen allerdings die Einnahmen für zum Beispiel Biogas und Windkraft, mit denen viele Bauern auch Geld verdienen.
- Mit der (ironischerweise maßgeblich von den Grünen verantworteten) Solarförderung haben die Bauern in den vergangenen Jahren viel Geld eingenommen, das sie investieren konnten.
- Weil der Wert von Land so extrem angestiegen ist, sind die in der Fläche großen Betriebe die großen Gewinner. Die Schiene zwischen Großen und Kleinen wird auch deshalb größer.
- Einige Bauern haben das Gefühl, dass die politischen Risiken immer mehr werden, von EU-Gesetzen bis zu den Strompreisschwankungen.
Ein Text, der kompakt über die wichtigsten Probleme und Erfolge der Bauern informiert. Und der aufklärt: Der Agrardiesel ist im Vergleich mit anderen Faktoren ziemlich egal.
Ursula von der Leyen zeigt sich bereit für eine zweite Runde
piqer:
Jürgen Klute
Schon länger wird darüber spekuliert, ob die aktuelle Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), sich um eine zweite Amtsperiode bewirbt. Die Spekulationen finden nun ein Ende. Euractiv berichtet, dass von der Leyen für eine zweite Amtszeit kandidieren will. Der Wiener Standard ergänzt mit Bezug auf den österreichischen MdEP Othmar Karas (ÖVP), dass die EVP/EPP am Montag (19. Februar 2024) bekannt geben will, dass von der Leyen zur Spitzenkandidatin der EVP bestimmt wird.
Nick Alipour konzentriert sich in seinem Artikel für Euractiv jedoch auf die Widersprüche mit denen von der Leyen in ihrer eigenen Partei und in der bundesrepublikanischen politischen Landschaft konfrontiert ist.
Von den Grünen und von den Sozialdemokraten wird sie durchaus geschätzt aufgrund ihres bisherigen klimapolitischen Engagements. In ihrer eigenen Partei erzeugt genau dieser politischer Schwerpunkt Widerspruch.
Alipour bringt diese Widersprüche treffend auf den Punkt:
„Der Druck aus der eigenen Partei schafft jedoch eine heikle Situation, in der von der Leyen als Spitzenkandidatin gegen ihre bisherigen Erfolge als Kommissionspräsidentin Wahlkampf machen muss.“
Thomas Meier, Brüsseler Korrespondent des eher sozialdemokratisch ausgerichteten Wiener Standard, plädiert dagegen eindeutig für eine zweite Amtsperiode der bisherigen EU-Kommissionspräsidentin: „Von der Leyen muss weitermachen“, ist sein Kommentar überschrieben. Das sei angesichts der vielen Krisen in und rund um Europa notwendig, meint Meier.
Ist die „Industrialisierung“ tot oder braucht die Welt mehr davon?
piqer:
Thomas Wahl
Der Streit unter Ökonomen und Politikern um die richtige Politik für den Wohlstand der Nationen geht schon länger. Nach dem 2. Weltkrieg und der Entkolonialisierung hat er noch mal Fahrt aufgenommen – oft an den Erfolgen von sich entwickelnden Ländern wie Südkorea, China und den asiatischen Tigern orientiert.
In den 1990er und 2000er Jahren waren die Fronten in der Entwicklungsdebatte ziemlich klar. Auf der einen Seite standen die Neoliberalen, die der Meinung waren, dass Freihandel, geringe Regulierung, umsichtige Makroökonomie sowie eine gute Gesundheitsversorgung und Bildung so ziemlich alles sind, was man braucht. Auf der anderen Seite standen die Industrialisierer, die meinten, der Schlüssel dazu sei, Südkorea nachzueifern und eine Industriepolitik zu betreiben, die auf den Export von Industriegütern ausgerichtet ist. Das letztere Lager war kleiner ……
Noah Smith greift die Diskussion wieder auf, die er noch nicht für entschieden hält. Womit er sicher recht hat. Inzwischen stellt sich auch für die alten Industrienationen die Frage, ob ihr Reichtum durch eine Deindustrialisierung bedroht ist. So fragt die FAZ: „Verliert Deutschland seine Industrie?“ Womit aber das verarbeitende Gewerbe gemeint ist. Auf den ersten Blick sieht Deutschland dabei nicht so schlecht aus.
Gemessen an der industriellen Bruttowertschöpfung sei Deutschland das Land, das sich am besten gehalten habe, ….. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung fiel in den Jahren nach der Wiedervereinigung, als im deutschen Osten viele Betriebe dichtmachten. Seit Mitte der Neunzigerjahre aber schwankt diese Kennziffer um 22 Prozent. Erst in den Jahren seit 2018 rutscht sie ein wenig ab. Im Vergleich liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in Deutschland deutlich höher als die 16 Prozent in der Europäischen Union (inklusive Deutschlands) oder die rund 11 Prozent in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten. Diese Länder haben bis in die frühen Jahre dieses Jahrhunderts einen großen Deindustrialisierungsschub erlebt, Deutschland aber bislang nicht.
Der FAZ-Autor Patrick Welter zieht daraus den Schluß, dass ein hoher Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung eines Landes nicht unbedingt ein Vorteil sein müsse.
Obwohl die industrielle Basis in den Vereinigten Staaten seit vielen Jahren weit geringer ist als in Deutschland, ist der Wohlstand in Amerika – gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Kopf – weit größer als im alten Europa. Die Vermutung, dass die Industrie für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar ist, wird dadurch widerlegt.
Er übersieht dabei, dass der amerikanische Digitalsektor in diesem Vergleich gar nicht enthalten ist, aber das Land den globalen Handel mit digitalen Gütern dominiert. Vergleicht man z.B. die jeweiligen Top 10 der börsennotierten Internetunternehmen in den USA, China und Europa nach Marktkapitalisierung (Anwendungssoftware, E-Commerce-Abwicklung, Infrastruktursoftware, Internetbasierte Dienste, Internetmedien), sieht man dass die großen amerikanischen Firmen 2022 eine Marktkapitalisierung von fast 4,5 Billionen Euro hatten, China lag immerhin bei etwa 1,2 Billionen, während Europa mit seinen Digitalunternehmen lediglich auf ca. 0,3 Billionen Euro kam. Die USA haben also für ihre abgewanderte verarbeitende Industrie eine moderne Alternative gefunden. Man sollte daher tiefer bohren. Und so zeigt sich für die Bundesrepublik laut FAZ:
In wichtigen Bereichen der Industrie ist die Produktion seit dem konjunkturellen Hoch in den Jahren 2017 und 2018 stark gesunken. Besonders betroffen sind die chemische Industrie mit einem Minus von 20 Prozent, die Automobilindustrie mit minus 14 Prozent, die Metallindustrie mit minus 13 Prozent und der Maschinenbau mit minus 10 Prozent. Zusammen erwirtschaften diese Branchen hierzulande mehr als die Hälfte der Produktion im verarbeitenden Gewerbe. Ihnen ist gemein, dass sie sich seit Jahren schlechter als die Konkurrenz in den anderen Staaten der Europäischen Union entwickelt haben.
Und das leider ohne einen starken Strukturwandel hin zu einer Digitalwirtschaft, mit der sich eine neue Art von Industrialisierung ankündigt, die auf nicht so einfach handelbaren Dienstleistungen basiert. Und die eine andere Industriepolitik bräuchte, jenseits der Regulierung der großen globalen Player.
Wie sieht es nun laut Noah Smith mit den „Industrialisierungs-Politiken“ in den weniger entwickelten Ländern der Welt aus, die ja einen großen Teil des produzierenden Gewerbes übernommen haben? Wie haben sie dies erreicht – vorrangig „neoliberal“ wie oben beschrieben oder mit Industriepolitik? Oder mit einer Kombination von beiden Strategien? Smith sieht hier auch keine eindeutig klaren Indizien für die eine oder andere Strategie. Das Beispiel der rasanten Industrialisierung Chinas spricht eher für eine Abfolge und Anpassungen:
… seine frühen Erfolge waren vor allem auf neoliberale Reformen zurückzuführen, aber ab Ende der 2000er Jahre wurde eine Reihe industriepolitischer Maßnahmen ergriffen. Es ist immer noch eine offene Frage, wie wichtig – und wie zuverlässig und wie einfach – eine exportorientierte Industriepolitik ist.
Aber auch zwei der spektakulärsten Entwicklungserfolge seit 1990 – Polen und Malaysia – sind Erfolgsgeschichten, die nur von Südkorea (dem Klassiker der „Entwicklungsdiktatur„) und Taiwan und ihren Export-Produktionsstrategien in den Schatten gestellt werden. Polen und Malaysia sieht Smith in seinem Post „The Developing Country Industrialization series“ als
Superstars des verarbeitenden Gewerbes, die in der Wertschöpfungskette stetig nach oben geklettert sind und sich nun an der Schwelle zum Status eines Industrielandes befinden. Und beide haben diesen Erfolg zum Teil dadurch erreicht, dass sie um große Mengen ausländischer Direktinvestitionen geworben haben – eine Idee, die von einigen Befürwortern der Industriepolitik mit Argwohn betrachtet wird, die aber Polen und Malaysia bisher nicht geschadet zu haben scheint. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob sie den endgültigen Sprung in die Riege der reichen Länder schaffen können.
Dieser letzten These widerspricht nun der Harvard-Ökonom Dani Rodrik sowie der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz. Diese Rodrik-Stiglitz-These, dass die Tage der Industrialisierung gezählt sind, diskutiert Noah Smith kritisch. Klar ist, dass die Industrialisierungs-Strategien der sich entwickelnden Staaten in das globale Produktions- und Handelsgefüge integriert sind. Als sich, so Rodrik, die verspäteten Entwicklungsländer
dem Handel öffneten, wurden ihre Produktionssektoren von einem doppelten Schock getroffen. Diejenigen Länder, die keinen großen komparativen Vorteil im verarbeitenden Gewerbe hatten, wurden zu Nettoimporteuren des verarbeitenden Gewerbes, wodurch ein langer Prozess der Importsubstitution umgekehrt wurde. Darüber hinaus „importierten“ die Entwicklungsländer die Deindustrialisierung aus den fortgeschrittenen Ländern… Diese Erklärung steht im Einklang mit dem starken Rückgang sowohl der Beschäftigung als auch der Produktionsanteile in den Entwicklungsländern (insbesondere in den Ländern, die sich nicht auf das verarbeitende Gewerbe spezialisiert haben). Sie trägt auch dazu bei, die Tatsache zu erklären, dass die asiatischen Länder, die einen komparativen Vorteil im verarbeitenden Gewerbe haben, von denselben Trends verschont geblieben sind.“
Was bedeuten könnte, das diesen Ländern die Industrialisierungsmöglichkeiten früher und auf einem viel niedrigeren Einkommensniveau ausgehen könnten als den frühen Industrieländer. Wobei nicht die Automatisierung der Schuldige ist, sondern der sich globalisierende Handel.
Rodrik kann damit auch die Deindustrialisierung Afrikas und Lateinamerikas seit den 1960er Jahren erklären:
Die Industrialisierung Asiens hat den größten Teil der Nachfrage der reichen Welt nach Produktionsgütern aufgesaugt, so dass weniger für Afrika und Lateinamerika übrig blieb.
Die Menschen in den reichen Ländern begannen, mehr Dienstleistungen zu kaufen, und ihre Nachfrage nach materiellen Gütern kam zum Erliegen, was insgesamt eine geringere weltweite Nachfrage nach Industrieerzeugnissen bedeutet.
Sollte das stimmen, könnten sich Afrika und Lateinamerika nicht auf die gleiche Weise industrialisieren und modernisieren wie die schon früher gestarteten und erfolgreichen Länder. Smith sieht das nicht so pessimistisch. Ihm sind die Thesen und Alternativen von Rodrik und Stiglitz zu allgemein und zu spekulativ.
Rodrik und Stiglitz sprechen sehr allgemein über Dinge wie „strategischen Dialog“, „politische Koordinierung“ und „Institutionen“ zur Unterstützung einer neuen Art von Industriepolitik, die sich auf nicht handelbare Dienstleistungen konzentriert. Aber das Bild ist sehr vage. Im Gegensatz dazu wissen die Länder inzwischen ziemlich genau, wie sie den Export von Industrieerzeugnissen fördern können.
Denn die Länder, die sich gerade jetzt schnell entwickeln, haben gerade mit einer ziemlich traditionellen Strategie der Industrialisierung Erfolg.
Vietnam ist ein gutes Beispiel, aber mein Lieblingsbeispiel ist Bangladesch. In den letzten Jahrzehnten hat Bangladesch einen der reibungslosesten Wachstumspfade von allen Ländern hinter sich. Es ist immer noch arm und wächst nicht so schnell wie China, aber es hat sein Pro-Kopf-BIP seit 1995 verdreifacht und dabei große Fortschritte bei der Bekämpfung der absoluten Armut gemacht
Aber auch Indonesien scheint mir laut NZZ ein gutes Beispiel zu sein. Die dortige Wirtschaftspolitik ruht demnach auf drei Säulen:
- ausländische Investoren anlocken und neue Jobs schaffen
- die Wertschöpfung vom Abbau des Rohstoffs Nickel bis zum fertigen Endprodukt im Land zu halten, um den Export höherwertiger Produkte zu fördern
- Ausbau der Infrastruktur
Indonesien ist damit eines der am schnellsten wachsenden Schwellenländer geworden.
Die Ökonomen der Denkfabrik Capital Economics rechnen damit, dass Indonesien 2050 die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt sein wird. 2022 belegte das südostasiatische Land in dem Ranking noch den 16. Platz.
Insofern können wohl Ökonomen nur bedingt die richtigen Strategien für reale Ökonomien vorgeben. Es ist und bleibt immer ein konkreter Prozess von Versuch und Irrtum – probieren geht über studieren. Aber man sollte dabei die Daten und theoretischen Diskussionen kennen. Nicht der Wissenschaft folgen, sie als Werkzeug nutzen …
Sabine Adler: „Russland könnte ein blühendes Land sein“
piqer:
Dirk Liesemer
Sie kennt das Land seit Jahrzehnten: Sabine Adler hat die hoffnungsvolle Zeit der Perestroika miterlebt, die Enttäuschungen unter dem angeblichen Demokraten Jelzin und die Staffelübergabe an Putin, unter dem alles in die falsche Richtung gelaufen sei. Im Gespräch mit der langjährigen Moskau-Korrespondentin geht es um die Präsidentschaftswahlen im kommenden März, aber natürlich auch um den Überfall auf die Ukraine und vor allem um den alten Traum vom Imperium.
Über den Staat sagt sie:
Russland ist ein krimineller Staat, der unzähligen normalen Menschen ihr Eigentum abnimmt. Unternehmer werden noch mehr verfolgt als politische Widersacher. Man kann daher von einem Mafiastaat sprechen, der Staat ist die Mafia, sie existiert nicht parallel zum Staat.
Und über die russische Mentalität sagt sie:
Fragt man Russen, was sie mit ihrem Land verbinden, ist es immer die Zugehörigkeit zu diesem großen Reich – viel weniger geht es um ein gutes Leben in diesem Imperium. Das ist der Kern dessen, was ich mit russischer Mentalität verbinde. Sanktionen werden daher nie zu einem Umschwung in Russland führen. Dafür ist die Leidensfähigkeit zu hoch.
Hoffnung hat sie wenig. Einerseits könnte Russland blühen, aber überall herrsche Gewalt.
In der Gesellschaft regiert das Gesetz des Stärkeren. Stärke gilt als etwas Positives und eben nicht als etwas Unzivilisiertes, das man bestenfalls wohldosiert einsetzt. Es macht mir Angst, welche Gefahr von diesem Land ausgeht. Die Eroberungshysterie kann nur von außen gestoppt werden – von den angegriffenen Ländern und den sie unterstützenden Bündnissen. Das ist die schlechte Botschaft.
Von Sabine Adler ist dieser Tage ein neues Buch erschienen: Was wird aus Russland? Ich hab es in Vorbereitung auf das Interview gelesen und kann es nur empfehlen.
Wie deutsche Forscher zwei Millionen Hektar Wüste begrünen wollen
piqer:
Squirrel News
Während die Suchmaschine Ecosia gerade vermeldet hat, 200 Millionen Bäume gepflanzt zu haben (was ebenfalls einen Piq wert wäre), macht sich ein anderes deutsches Projekt daran, eine riesige Fläche der Sahara in Mauretanien zu begrünen.
Es ist ein Forschungsteam vom Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier, das an der Küste des afrikanischen Landes Entsalzungsanlagen bauen will, die mit Solar- und Windenergie betrieben werden.
„Mit diesem entsalzten Wasser bewässern wir die Wüste großflächig und pflanzen dort Bäume. Die wachsen und nehmen dann CO2 aus der Luft auf.“
Was vor ein paar Jahrzehnten für viele noch verrückt geklungen hätte, klingt mittlerweile durchaus machbar, und auch ein Experte, den tagesschau.de zitiert, hält das Vorhaben grundsätzlich für umsetzbar.
Die Wirkung wäre beachtlich:
„Wenn wir diese zwei Millionen Hektar in der Wüste Mauretaniens bepflanzen, könnten wir so beispielsweise ein Viertel der deutschen jährlichen Emissionen gewissermaßen im Sand der Sahara binden.“
Anfang Dezember hat der Saarländische Rundfunk bereits darüber berichtet. Nun konnte Projektleiter Peter Heck laut tagesschau.de die entsprechenden Landrechte erwerben und Vereinbarungen mit Politikern vor Ort treffen.
So richtig glauben und vorstellen kann man sich das Ganze zwar immer noch nicht. Andererseits: Wenn ein Start-up aus Kreuzberg weltweit 200 Millionen Bäume pflanzen lassen kann, dann wird es mit diesem Projekt bestimmt auch klappen.
Anpassungsfähigkeit an Nachhaltigkeit: Keine deutsche Kernkompetenz
piqer:
Ole Wintermann
Allzuoft wird der notwendige nachhaltige Wandel, gegen den sich ja immer wieder Konservative und Liberale stemmen, leider nur als technokratischer Prozess gesehen, für dessen Umsetzung Regulierungen aka „Stellschrauben“ angepasst werden müssen. Diese Sicht auf Transformation ist eine durch die Volkswirtschaftslehre dominierte Sichtweise. Leider haben die Excel-Tabellen und deren Gleichungen selten etwas mit sozialen Realitäten zu tun. Es ist einfach nicht möglich, den Wandel einer Gesellschaft durch regulatorische Stellschrauben umzusetzen.
Genau an dieser Stelle hat ein estnisches Forschungsteam angesetzt, als es sich die Potenziale von über 60 Ländern zur nachhaltigen Transformation angeschaut hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass es eben nicht nur die volkswirtschaftliche Stärke eines Landes ist, die über den Weg der öffentlichen Finanzen dann den Wandel vorantreibt. Ein Blick auf die polarisierte Stimmung in einem Teil der deutschen Gesellschaft, die mit dem notwendigen Wandel hadert und teils sogar das demokratische System infrage stellt, zeigt, dass es eben auch die politischen Institutionen und die der Gesellschaft zugrundeliegenden Normen sind, die die Krisenanpassungsfähigkeit einer Gesellschaft prägt.
So stehen neben Schweden eben auch Länder im Anpassungs-Ranking des Teams ganz oben, die man dort eventuell nicht vermutet hätte: Spanien, Brasilien, Slowenien, Peru, Nicaragua. Deutschland hingegen hat keine Kernkompetenz „Anpassungsfähigkeit“ aufzuweisen.
Das Feindbild Wokeness und seine politischen Ausläufer
piqer:
Theresa Bäuerlein
Über Anti-Wokeness als Kulturkampf wird ja derzeit viel geschrieben, aber selten so sachlich und gut durchargumentiert wie in diesem Artikel, der auch erklärt, warum Anti-Wokeness als politische Kampfstrategie so gut funktioniert. Und daher von der AfD, Putin, Orban, Trump usw. geliebt wird, die vor einer woken Hegemonie warnen. Ein Beispiel:
Ein russisches Video, das seit geraumer Zeit in den sozialen Netzwerken kursiert, zeichnet überspitzt nach, wie diese Hegemonie beschaffen sein müsste, wenn es sie denn gäbe. In dem professionell gemachten Clip sitzt eine Kleinfamilie aus Russland im Flieger auf dem Weg in die Vereinigten Staaten. Zunächst freudig gestimmt, erleidet die Familie Schlimmes. Erst muss sie irritiert feststellen, dass ihre Sitznachbarinnen ein lesbisches Paar sind. Danach weist die Stewardess mit starrem Lächeln den Vater an, seinen Fleischkonsum zu unterlassen, um eine dümmlich blickende Veganerfamilie nicht zu belästigen. Außerdem müssen sie die Plätze wechseln, um ein kinderloses Paar nicht mit ihrem Kinderreichtum zu stören.
Der Gipfel des woken Wahnsinns ereignet sich beim Toilettengang: Ein Afroamerikaner will sich vordrängeln. Anstatt den Drängler in die Schranken zu weisen, fallen die westlichen Passagiere mit den Worten: „Forgive us, Sir“ auf die Knie, um sich für die jahrelange Unterdrückung schwarzer Menschen zu entschuldigen. Der letzte Schnitt zeigt die Familie an der geöffneten Tür des Flugzeugs in den Flugwind brüllen: „Vergib uns, Mutter Russland! Wir kommen zurück!“ Viele Kommentare unter dem Video überschlagen sich in Ihrer Zustimmung. Genau so sei es! Das Video sei keine Parodie, sondern zeige vielmehr die Realität!
Das kann man leider nicht als Skurrilität abtun, denn das Anti-Woke-Feindbild hat reale Folgen:
Auch das im Mai 2023 verabschiedete Grundsatzprogramm der CSU enthält einen Satz zum Eintreten gegen den „Kulturkampf in Form von Identitätspolitik, Wokeness und Cancel Culture“. Und es bleibt mitunter nicht bei Worten. Russland verabschiedete bereits 2013 ein Gesetz „gegen homosexuelle Propaganda“ und stufte die queere Szene jüngst offiziell als „extremistisch“ ein. In Polen wurde 2022 ein ähnliches Gesetz verabschiedet. In der Türkei werden Menschen wegen des Tragens einer Regenbogenfahne verhaftet. Im US-Bundesstaat Florida wurde ein „Stop WOKE“ Gesetz eingeführt. Auch Ungarns Präsident Victor Orbán erklärte im Sommer, Rettung vor dem „Virus Wokeness“ bringe nur ein Verbot von Migration und „Trangsgender-Propaganda“.
Der Artikel beschreibt und liefert Belege dafür, dass die Angst vor der woken Terrorherrschaft mit Fakten und Daten nicht zu belegen ist. Darum geht es in der Debatte ja aber auch gar nicht.
Mit der Wokeness-Panik wurde ein diskursiver Strohmann geschaffen, gegen den auch liberale und linke Stimmen ankämpfen. Der Trick liegt darin, den ziemlich erfolgreichen Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten verzerrt darzustellen, als Unterdrückung von weißen Männern und heterosexuellen, fleischessenden Familien. Paradoxerweise ist die Liberalisierung der Gesellschaft so erfolgreich, dass sie nur mit Bezug auf den angeblichen Verlust von Freiheit bekämpft werden kann.
Eine zentrale Folge davon: Die gesellschaftlichen Debatten bleiben in dem verhaftet, was antiwoke Stimmen vermeintlich bekämpfen wollen: endlose Kulturkämpfe, die mit der eigentlichen Sachlage nur noch wenig zu tun haben. Währenddessen, auch das weist die Triggerpunkte-Studie nach, rutschen wichtige Themen wie soziale Ungleichheit und die Bekämpfung der Klimakrise in der Aufmerksamkeitsökonomie ab. Aber womöglich ist das manchem Kulturkämpfer auch gar nicht so unrecht.