Fremde Federn

Homeland Economy, Kriegskeynesianismus, KI-Journalismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Deutschlands Hochtechnologie-Industrien gerade ein Déjà-vu erleben, wieso der Ukraine-Krieg nicht aus ökonomischen Gründen enden wird und wie eine klimaverträgliche Wirtschaft gelingen könnte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Macht „Homeland Economy“ die Welt nicht sicherer – aber sicher ärmer?

piqer:
Thomas Wahl

Wir haben es hier und heute mit einem „Déjà-vu„-Erlebnis zu tun. 1990, kurz nach dem Mauerfall, veröffentlichte Konrad Seitz sein Buch „Die japanisch-amerikanische Herausforderung: Deutschlands Hochtechnologie-Industrien kämpfen ums Überleben“. In dem Buch hatte Seitz minutiös den historischen Verlauf und den Stand des Wettbewerbs in den Hochtechnologiebereichen analysiert. Damals (wie heute) ging es um die Informationstechnologien (sowie um die darauf aufbauende Konsum- und Investitionsgüterelektronik) um die Telekommunikation und die Biotechnologie über neue Werkstoffe, Energietechniken bis hin zur Luft- und Raumfahrt. Der Titel sagt es bereits, Seitz sah die deutsche und europäische Industrie damals in der Gefahr, den Wettbewerb gegen Japan und gegen die USA zu verlieren. Und in einigen Bereichen hat Europa durchaus verloren. Trotz der geforderten und z.T. auch betriebenen Industriepolitik.

Wenige Jahre später, in einem nächsten Buch, schreibt Seitz dann, als Botschafter in Peking, bereits:

Das japanische Wachstumsmodell . . . hat ausgedient. Aber die Krise der Japan AG läßt sich nicht auf die Wirtschaft beschränken. Vor unseren Augen spielt sich der politisch-moralische Zerfall des Modells Japan ab. Japan steht vor der gewaltigen Herausforderung, ein neues Wirtschaftssystem zu entwickeln. Japan muß sich neu erfinden . . .

Die nächste Herausforderung war für ihn damals schon folgerichtig China.

Die Krise Ostasiens legt die Machtverschiebung offen, die sich seit Mitte der neunziger Jahre in der Region vollzieht: ein alterndes, mut- und ziellos gewordenes Japan dankt ab . . . Aber die chinesische Regierung ist handlungsfähig und weiß, was sie will. Sie kann Strategien entwerfen und diese Strategien durchsetzen.

Zumindest diese Prognose hat sich bewahrheitet. Die Globalisierung seit den 90er Jahren war stark geprägt von chinesischen Strategien, deren (verborgenen?) Zielstellungen der Westen wohl nicht immer richtig interpretiert hat. Wie auch immer, die Welt hat sich – so der Economist in dem hier empfohlenen Schwerpunktbericht – durchaus in Richtung eines globalen Dorfes entwickelt:

Angetrieben vom Glauben an die Macht der Märkte nahm die Globalisierung in den 1990er Jahren Fahrt auf. Die Regierungen lockerten die Kontrollen für Reisen, Investitionen und Handel. Im Jahr 2001 trat China der Welthandelsorganisation bei, was den Handel zwischen Asien und dem Westen ankurbelte. Die Veränderungen brachten viele Vorteile mit sich, reduzierten Armut und Ungleichheit und gingen mit einer wachsenden politischen Freiheit weltweit einher.

Ein Prozess mit oft unerwarteten Wendungen. Und doch hat er – wenn auch mit Friktionen – die Welt vorangebracht. Der Anteil der Menschen in der Welt, die von weniger als 2,15 US-Dollar am Tag leben mussten, sank von knapp 40% auf unter 10%. Die Einkommen der bestverdienenden 10% der Weltbevölkerung betrugen 1990 das 42-fache der unteren 50%. 2020/21 lag dieser Wert immerhin „nur“ noch bei etwa dem 32-fachen. 1990 lebten noch fast 40% der Menschheit in geschlossenen Autokratien, gegenwärtig (mit leider steigender Tendenz) sind es noch gut 25%.

Vier Schocks der jüngeren Vergangenheit – so der Economist – unterbrechen nun diesen Prozess. Angefangen bei der Pandemie und die dadurch zerstörten Lieferketten über geopolitische Krisen (Konfrontation China-USA, Ukrainekrieg), dem Energieschock und laut Economist die generative KI, die eine Bedrohung für viele Arbeitsplätze darstellen könnte.

Das Vertrauen in Globalisierungsprozesse schrumpft weiter und es zeichnet sich (wieder) eine grundlegende Alternative ab, vor der dieser Bericht auch warnt. Es ist der Rückzug in das nationale Wirtschaften, in nationale Wirtschafts- und Industriepolitiken. Die Zeitung bezeichnet es als „Homeland Economy“. Jake Sullivan, Nationaler Sicherheitsberater im Kabinett Biden,

signalisiert, dass sich die Kontrolle über die Wirtschaft auf die Geostrategen verlagert hat. Andere Führer haben ähnliche Aussagen gemacht. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, rühmt sich, dass die Europäische Union (eu) „die erste große Volkswirtschaft ist, die eine Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit entwickelt hat“. Emmanuel Macron spricht von „strategischer Autonomie“ für Frankreich; Narendra Modi, Indiens Premierminister, mag wirtschaftliche „Selbständigkeit“.

Die „Homeland Economy“ will damit die eigene Nation und die Welt in Zukunft vor weiteren Schocks schützen.

Es sollen die Vorteile der Globalisierung, mit dem Schwerpunkt auf Effizienz und niedrigen Preisen, beibehalten werden. Aber gleichzeitig sollen die Nachteile des vorherigen Systems – Unsicherheit und Ungerechtigkeit – vermieden werden. Dies erfordert die Verflechtung der nationalen Sicherheit und der Wirtschaftspolitik.

Im Rückgriff auf europäische Erfahrungen der 1950er und 1960er Jahre setzen Regierungen auf die Etablierung nationaler Champions in strategischen Branchen. Natürlich nicht wie damals für Kohle und Stahl, sondern bei Computerchips, Elektrofahrzeugen und KI. Regierungen vergeben riesige Subventionen um die Produktion im eigenen Land zu fördern.

Vieles spricht für diese Strategie aber auch die Warnung ist berechtigt: Überzogene Industriepolitik und Protektionismus könnten letztendlich den Handel gefährden, den Wohlstand senken, ohne die westlichen Volkswirtschaften sicherer zu machen. Offen bleibt auch, wie hier die Energietechnologien unter dem fortschreitenden Klimawandel zu integrieren wären.

Einer der Artikel im Schwerpunkt diskutiert dazu die historischen Erfahrungen mit Industriepolitik. Einerseits gäbe es es nur wenige industriepolitische Erfolge so eine der zitierten Studien.

„Versuche, durch staatliche Leitung und Unterstützung einen Wettbewerbsvorteil zu schaffen, waren im Allgemeinen erfolglos“, argumentiert Geoffrey Owen von der London School of Economics in einer Überprüfung der europäischen Industriepolitik der Nachkriegszeit. Es ist kein Zufall, dass Großbritannien in den 1950er Jahren, als es diesen Ansatz am enthusiastischsten annahm, weit hinter dem Rest Europas zurückblieb.

Andere sagen, dass die Industriepolitik funktionieren kann, wenn man sie wie etwa in Südkorea richtig gestaltet.

In einem neuen Papier untersucht Nathan Lane von der Universität Oxford die Auswirkungen durch den bahnbrechenden industriellen Schub Südkoreas – den Antrieb für schwere Chemie und Industrie (hci) von 1973-79, in dem die Regierung eine Politik einschließlich billiger Kredite zur Steigerung der Produktion und des Exports einführte. Lane vergleicht Branchen, die Hilfe erhalten haben, mit denen, die dies nicht getan haben, und kommt zu dem Schluss, dass „die vorsätzliche Industriepolitik wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Schaffung der modernen südkoreanischen Wirtschaft gespielt hat“. In den 20 Jahren nach 1973 stieg das reale BIP Koreas pro Kopf um 349%.

Kritiker sagen dazu, es sei zwar möglich, dass in den Anfangsstadien der Industrialisierung solche nachholenden Aktivitäten einer Regierung eine bedeutende Rolle spielen können, das sie aber in reifen und entwickelten Volkswirtschaften nicht so gut funktionieren würden.

Andere Experten verweisen auf die angeblich erfolgreiche Industriepolitik Chinas.

Seit 2015 hat der chinesische Staat unter Xi Jinping und seinem Projekt „Made in China“ eine noch aktivere Rolle bei der Steuerung der Wirtschaftstätigkeit eingenommen. Der Umfang der staatlichen Unterstützungen verglichen mit den Gewinnen der in China börsennotierten Unternehmen stieg von 3 % im Jahr 2012 auf 5 % im Jahr 2020. Die Zahl der steuerlichen Maßnahmen zur Förderung der Hightech-Industrie ist sprunghaft angestiegen ….. Hat dies der chinesischen Wirtschaft geholfen? Irgendwie schon. Das Land hat heute in vielen Branchen eine weltweite Monopolstellung. Subventionen haben es den Unternehmen ermöglicht, die Preise zu senken und ausländische Konkurrenten aus dem Geschäft zu drängen.

Es bleiben allerdings Zweifel, ob China als Ganzes von der Industriepolitik profitiert hat. Ein kürzlich veröffentlichtes Papier stellte etwa bei der Untersuchung börsennotierter Unternehmen fest,

dass es in den geförderten Unternehmen „kaum statistische Belege für Produktivitätssteigerungen oder einen Anstieg der FuE-Ausgaben, der Patentanmeldungen und der Rentabilität“ gibt. Ein weiteres Papier  …, deutet darauf hin, dass die Unterstützung eines Unternehmens durch Subventionen anderen eher schadet.

Wie immer kann man aus der historischen Analyse nicht sicher auf aktuell/zukünftig erfolgreiche Strategien schließen. Der Weg in die Zukunft besteht aus Versuch und Irrtum, gestützt auf Erfahrung. Die Staaten werden gefordert sein ihre Standorte zu unterstützen, sollten aber die Erfolge ihrer Strategien nach jedem Schritt auch kritisch betrachten. Und dabei die Globalisierung nicht ganz vergessen. Ein schwieriger Balanceakt, Zukunft bleibt spannend und nicht ohne Risiko.

Russlands Kriegskeynesianismus

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Jürgen Klute

Die EU und andere westliche Staaten haben auf den Angriff Russlands auf die Ukraine mit ungewöhnlich harten Sanktionen reagiert. Seit dem wird jedoch immer wieder über die Wirkungen dieser Sanktionen diskutiert. Einerseits scheinen die Sanktionen zu wirken, jedenfalls im Blick auf die Unterbindung der Lieferung von kriegswaffenrelevanter Technik. Andererseits scheint die russische Wirtschaft insgesamt bisher die Sanktionen recht gut überstanden zu haben.

Thorsten Fuchshuber hat sich für seinen Artikel für die Luxemburger Zeitung woxx die Entwicklung der russischen Wirtschaft etwas genauer angeschaut und kommt zu einem recht differenzierten Urteil. Die schuldenfinanzierte Kriegswirtschaft hat zumindest für den Moment für Vollbeschäftigung, gute Löhne und ebenso für eine steigende Inflation gesorgt, also in eine eher überhitzte Wirtschaft geführt. Deshalb hat laut Fuchshuber der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze die Entwicklung der russischen Wirtschaft als „Kriegskeynesianismus“ charakterisiert. Vor einem Zusammenbruch steht die russische Wirtschaft demnach derzeit zumindest nicht und dementsprechend wird der Krieg vorerst auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen zu einem Ende kommen.

Wie schaffen wir eine klimaverträgliche Wirtschaft?

piqer:
Jürgen Klute

Unsere derzeitige Art zu wirtschaften – Ulrich Brand nennt sie imperiale Lebensweise – beschleunigt die Klimaerwärmung immer schneller und zerstört so die Grundlagen sowohl menschlichen Lebens als auch die anderer Lebewesen.

Das ist nun keine neue Erkenntnis. Aber das genau ist das Problem. Trotz des breiten Wissens um die negativen Folgen unseres Wirtschaftens und der längst auch vor Ort erfahrbaren Folgen der Klimaerwärmung gibt es derzeit nur eine sehr begrenzte Bereitschaft zum dringend nötigen Umsteuern.

Ulrich Brand setzt sich in seinem im Wiener Standard veröffentlichten Essay mit dieser negativen Variante von Nachhaltigkeit – oder auch Beharrungsvermögen – auseinander und versucht einen Weg aufzuzeigen, das Beharrungsvermögen zu durchbrechen.

Ergänzend dazu möchte ich hier auch noch auf den taz-Artikel „Wachstumskritisches Denken: Degrowth für Dummies“ von Julien Gupta verweisen. Er erklärt darin noch einmal, was mit Degrowth gemeint ist und wie die Degrowth-ProtagonistInnen sich eine andere, nicht auf unendlichem Wachstum basierende Wirtschaft vorstellen.

Diktaturen der Welt vereinigt euch – gegen den Westen

piqer:
Thomas Wahl

Wir scheinen uns langsam an den Ukrainekrieg zu gewöhnen – er wird zum Alltagsereignis. Auch der Konflikt mit China, die Ereignisse im Iran, beunruhigen nur noch begrenzt. Man sieht diese Ereignisse gewöhnlich nicht als bedrohliche Gesamtstrategie. Unsere moralisierende Außenpolitik (und nicht nur die) folgt ihrem gewohnten Lauf. Richard Herzinger zeichnet nun in der NZZ ein sehr bedrohliches, leider auch realistisches Szenario – eine potenzielle Weltkriegsallianz der Diktatoren unserer Welt gegen den Westen.

Das blitzt auf, wenn sich etwa Wladimir Putin mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un trifft. Oder wenn der Iran Drohnen und mehr nach Moskau liefert. Auch China agiert gegenüber Russland und seinem Krieg in der Ukraine eher undurchsichtig. Seine Absicht gegenüber Taiwan allerdings formuliert es auch gegenüber dem Westen knallhart. Selbst Serbien träumt wohl im Windschatten von Russlands Krieg von einer Revanche gegenüber Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Die Diktatoren in Syrien und Weißrussland sind ebenfalls an Bord. Die kleinen Despoten wittern Morgenluft. Und Russland ist offensichtlich dabei, systematisch eine weltweite Kriegsfront gegen westliche Demokratien aufzubauen.

Doch im Westen wird das Ausmass der Bedrohung, die ihm durch das Entstehen einer gegen ihn gerichteten potenziellen Weltkriegsallianz erwächst, längst noch nicht ausreichend erkannt. Weiterhin hängt man in westlichen Hauptstädten der illusionären Vorstellung an, Moskau werde sich über kurz oder lang zu «Verhandlungen» über einen «gerechten Frieden» (Olaf Scholz) für die Ukraine bereitfinden. In Wahrheit rüstet sich Russland massiv für eine jahrelange Fortsetzung seines genozidalen Feldzugs gegen die ukrainische Nation.

Und wer genau hinhört, bemerkt, dass die russische Führung den Überfall auf die Ukraine

nur als ersten Akt des viel grösseren Kriegs gegen die Nato betrachtet, durch den die weltpolitische Dominanz des demokratischen Westens ein für alle Mal beseitigt werden soll. Das Ziel des kriminellen Regimes in Moskau ist nicht weniger, als die gesamte auf universellen Werten und Normen gegründete internationale Ordnung zum Einsturz zu bringen und sie durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen.

Wiederholt sich jetzt die Autosuggestion des Westens, die ihn am Tag des Überfalles auf Kiew so unvorbereitet dastehen ließ, gerade im globalen Maßstab? Was ist aus der Zeitenwende geworden, die unser Kanzler ausgerufen hat? Klammert sich der Westen nicht immer noch an die Hoffnung,

die Widersprüche zwischen den Kräften innerhalb der autokratischen Phalanx seien zu gross, als dass diese dauerhaft zusammengehalten werden könnte. Tatsächlich aber kennen Iran, dessen theokratisches Regime von der apokalyptischen Erwartung einer anbrechenden Weltherrschaft des Islam angetrieben wird, Russland, das sich als Beschützer und Retter des von liberaler «Dekadenz» bedrohten «christlichen Abendlands» aufspielt, und die streng atheistische Diktatur Nordkoreas (die den Glauben an ein höheres Wesen freilich durch die Vergottung ihres weltlichen Führers ersetzt hat) keinerlei weltanschauliche Berührungsängste, wenn es gegen den verhassten Westen geht.

In den USA sehen wir derweil Spielchen zwischen Republikanern und Demokraten, die die Unterstützung der Ukraine bis hin zum Zusammenhalt des Westens überhaupt massiv gefährden. Bundeskanzler Scholz weigert sich beharrlich, militärisch dringend notwendige Marschflugkörper zu liefern und von einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsinitiative hört man auch nichts. Man möchte ausrufen – Völker hört die Signale:

Der Kollaps der regelbasierten internationalen Ordnung könnte schneller eintreten, als man es im Westen zumeist wahrhaben will.

Die EU auf dem Weg zur Föderalisierung?

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Jürgen Klute

Das Highlight der bald zu Ende gehenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments war die Europäische Zukunftskonferenz, mit deren Ankündigung sich Ursula von der Leyen 2019 die Mehrheit der Stimmen im Europäischen Parlament für ihre Kandidatur als EU-Kommissionspräsidentin gesichert hat.

Die EU-Zukunftskonferenz fand dann auch tatsächlich statt. Bürger und Bürgerinnen aus allen EU-Mitgliedsländern haben sich daran beteiligt und am Ende gab es eine Reihe von Vorschlägen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Europäischen Union.

Mitte September 2023 haben einige Europaabgeordnete diese Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger aufgenommen und im Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments (AFCO) ein umfangreiches und ehrgeiziges Projekt zur Vertragsänderung vorgestellt, der mit einem Antrag verbunden ist, in dem der Rat aufgefordert wird, die vorgelegten Reformvorschläge unverzüglich und ohne weitere Beratung dem Europäischen Rat vorzulegen, mit dem Ziel, einen Konvent nach dem ordentlichen Änderungsverfahren gemäß Art. 48 EUV zu ermöglichen. Vermutlich wird der Antrag ohne größere Änderungen Anfang Oktober im AFCO angenommen und wird dann Anfang November im Plenum des Europäischen Parlaments zur Abstimmung stehen. Erarbeitet wurde der Antrag von einem Ko-BerichterstatterInnentream im AFCO, dem Guy Verhofstadt (Renew, BE), Sven Simon (EPP, DE), Gabriele Bischoff (S&D, DE), Daniel Freund (Greens/EFA, DE) und Helmut Scholz (The Left, DE) angehörten.

Luca Lionello, Assistenzprofessor für EU-Recht an der Katholischen Universität Mailand, hat sich den Antrag genauer angeschaut und auf dem Webportal Verfassungsblog die wichtigsten Aspekte des Antrags dargestellt.

Der Antrag beruft sich auf das Manifest von Ventotene und auf die Schuman Deklaration und fordert eine stärkere demokratisch eWeiterentwicklung der EU-Institutionen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Lionello betont, dass erstmals nicht Regierungsvorschläge im Zentrum einer Weiterentwicklung der EU stehen, sondern die von Bürgern und Bürgerinnen im Rahmen der Europäischen Zukunftskonferenz erarbeiteten Vorschläge.

Drei grundlegend Vorschläge stehen im Zentrum des AFCO-Antrags: Eine Neuausrichtung des institutionellen Gleichgewichts der EU, die zu einer Stärkung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission führen soll bei gleichzeitiger Verringerung der Bedeutung des Rates der EU, der derzeit strukturell den beiden anderen Institutionen überlegen ist. Zudem soll es eine Ausweitung der Zuständigkeiten der Union auf zentrale Politikbereiche geben sowie eine stärkere Überwachung der nationalen Politik durch die EU.

Im Ergebnis führen die AFCO-Vorschläge, so Lionello, also zu einer Reduzierung des Einflusses der Regierungen der Mitgliedstaaten und zu einer Stärkung des Einflusses der Bürgerinnen und Bürger über das Europäische Parlament. Zum Abschluss seines Beitrags fragt Lionello noch nach den Chancen einer Umsetzung dieser aus seiner Sicht in einem guten Sinne provokanten Vorschläge.

Bericht zur Nutzung von K.I. im Journalismus

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René Walter

Die Google News Initiative und der Journalismus Think Tank Polis haben einen Bericht zur Nutzung von K.I.-Technologie im Journalismus veröffentlicht. Der Report ist der zweite nach einer ersten Umfrage aus dem Jahr 2019 und ist vor allem interessant, da die Befragung nach dem explosionsartigen Siegeszug von ChatGPT und Generative AI stattfand.

Das 90-seitige Dokument – hier das PDF – enthält Einordnungen und Zusammenfassungen einer globalen Umfrage unter mehr als 105 journalistischen Organisationen aus mehr als 46 Ländern, unter anderem beteiligten sich Reuters, AP und AFP, NPR, der Economist und weitere renomierte Institutionen.

Laut Bericht nutzen bereits 75% der befragen News-Organisationen K.I.-Technologien im weitesten Sinne, was auch Lösungen zur automatischen Erstellung von Transkripten aus Audio-Dateien oder Optical Character Recognition zur automatischen Umwandlung von gescannten Dokumenten in Text mit einschließt. 80% der Befragten erwarten einen zunehmenden Einsatz der Technologie in Redaktionen und 60% haben dabei ethische Bedenken, die von der Unterschreitung von Qualitätsstandards durch KI-Halluzinationen bis hin zu Arbeitsplatzabbau und Widerständen bei Arbeitnehmern reichen.

Der Bericht erweckt insgesamt durchaus den Eindruck, dass sich die journalistischen Organisationen ihrer Rolle als vierte Gewalt bewusst sind und die neuen Möglichkeiten von KI-Technologie und redaktioneller Automation offen, aber skeptisch betrachten. So haben etwa der Guardian und Wired früh eigene Standards zu ihrer Nutzung von AI-Tech erarbeitet und transparent gemacht – der Goldstandard für Redaktionen und News-Orgas.

Mir bereitet aber der Einsatz von KI-Technologien in Organisationen mehr Sorge, die keinen Wert auf Qualitätsstandards oder ethische Bedenken legen. So nutzt etwa Rupert Murdochs News Corp alleine in Australien KI-Technologie um 3.000 Artikel pro Woche zu veröffentlichen; Jonah Peretti von Buzzfeed hat klargemacht, dass Generative AI praktisch sämtliche „statischen Inhalte“ ersetzen soll; G/O Media hat sämtliche Autoren der spanischen Edition des Tech-Magazins Gizmodo entlassen und übersetzt nun durch KI, während in der gleichfalls zu G/O gehörenden und ehemals renommierten Film-Website AV Club mittlerweile maschinell erstellte Artikel erscheinen, die direkt von IMDB kopiert werden; Red Ventures baut in den Redaktionen des Tech-Magazins CNet massiv Stellen ab und experimentiert gleichzeitig mit Robot-Journalismus; News-Guard hat bislang 498 „Unreliable AI-Generated News Websites“ identifiziert; in Deutschland fallen beim Springer Verlag 200 Stellen alleine bei der BILD weg, während generative KI-Technologie ausgebaut wird, und der Burda Verlag hat ein komplettes Kochmagazin von generativer AI-Tech befüllen lassen, von Illustrationen bis hin zu den Rezepten.

Ich finde es natürlich gut und richtig, wenn sich seriöse Redaktionen renommierter Nachrichten-Organisationen Gedanken um die Folgen für ethische und redaktionelle Standards des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz im Nachrichtenjournalismus machen und dabei auch arbeitsmarktpolitische Bedenken nicht außen vor lassen.

Aber machen wir uns nichts vor: Die großen Zahlen und Clickbringer werden von Yellow Press und Boulevard generiert, und wie die genannten Beispiele zeigen, schert man sich dort um redaktionelle Standards oder gar ethische Bedenken eher so mittel, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Künstliche Intelligenz und die typischen AI-Probleme wie algorithmic Bias über die boulevardjournalistische Backdoor enormen Einfluss auf die Perspektiven und Weltsichten der Gesellschaft nimmt – noch mehr als ohnehin schon.

Man wird das kaum wegregulieren können, aber eine der neuen Aufgaben des sogenannten Meta-Journalismus der Zukunft ist, den Menschen klarzumachen, dass große Teile der meistgelesenen Medien des Boulevard algorithmisch von Künstlichen Intelligenzen erstellt werden, die ihren Output noch mehr an Klickzahlen und Marktoptimierung ausrichten als zuvor schon: Von Menschen produzierter Clickbait war nur der Anfang.

Wir sollten das Metaverse nicht gleich komplett abschreiben

piqer:
IE9 Magazin

Der Begriff „Metaverse“ war lange nur Science-Fiction-Fans ein Begriff. Doch inzwischen kennt ihn die halbe Welt, genau wie die damit verbundene Vision von virtuellen Welten, die miteinander und mit der physischen Welt verschmelzen. Dafür verantwortlich war Mark Zuckerberg, der mit der Umbenennung seines Konzerns von Facebook in Meta einen gigantischen Hype entfachte, auf den Investoren, Start-ups, Tech-Konzerne aufsprangen. Jetzt reden alle nur noch über KI, selbst Mark Zuckerberg scheint sich vor dem Thema Metaverse zu drücken. Ist das Metaverse also schon tot, bevor es richtig begonnen hat?

Der Artikel argumentiert, dass das Metaverse nach wie vor die Zukunft des Internets sein könnte – der Hype allerdings viel zu früh kam, weil die dafür notwendigen Technologien noch gar nicht verfügbar waren. Außerdem war die Idee vermessen, dass eine einzige Firma einfach so das Metaverse ausrufen könnte. Doch die Milliardeninvestitionen der letzten Jahre haben Entwicklungen in Richtung Metaverse beschleunigt. Der Text beleuchtet daher, wie Meta und andere Unternehmen an VR- und MR-Brillen, digitalen Avataren oder generativer KI arbeiten, die das Metaverse ermöglichen sollen. Auch verbringen gerade junge Menschen immer mehr Zeit in virtuellen Welten, also in Vorboten des Metaverse.