Fremde Federn

Hitzesommer, Twitter-Exodus, Einwanderungsland

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Liebe in Zeiten der Schichtarbeit, wie Nationen korrupt werden und warum viele kluge Leute Twitter den Rücken kehren.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Deutschland ist nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland

piqer:
Achim Engelberg

Deutschland hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem der dynamischsten Migrationsakteure weltweit entwickelt.

So beginnt Naika Foroutan, Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung und Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin, ihren Gastbeitrag.

War die Bundesrepublik in den Jahren 2008 und 2009 statistisch gesehen noch ein Auswanderungsland – die Fortzüge ins Ausland waren also höher als die Zuzüge nach Deutschland – so hat sie sich in den letzten zehn Jahren in absoluten Zahlen zum zweitgrößten Einwanderungsland direkt hinter den USA entwickelt.

Mit Statistiken oder historischen Beispielen erläutert die bekannte Migrationsforscherin, dass unser Land nie so einheitlich war, wie einige heute behaupten. Immerhin war die erste staatliche Einheit erst im Jahre 1871, da waren viele andere Länder in Europa schon Nationalstaaten. Unser Land in der Mitte des Kontinents war häufig eines der Mischungen:

Auch wenn der Horror der Homogenität im Dritten Reich der Nazis einen Großteil der Vielfalt vernichtet hatte, waren bis Mitte der 1970er Jahre bereits 11 Millionen Migranten nach Deutschland eingewandert, lebten alliierte Soldaten in binationalen Familienzusammenhängen, wurden Studienaustauschprogramme und transnationale Freundschaftsprogramme entwickelt, die allesamt mit sichtbarer und zunehmender Diversität verbunden waren.

Lügen und Verleumdungen, die, weil sie häufig wiederholt werden, von vielen zumindest teilweise geglaubt werden, enthüllt sie als solche. So etwa die Behauptung, dass vor allem junge Männer kommen, die kriminell werden. Aber

der Unterschied zwischen eingewanderten Frauen (47 Prozent) und Männern (53 Prozent) ist nicht so groß, wie es das Bauchgefühl oder die zum Teil toxischen Debatten um Kriminalität, Gewalt und Integration vermuten lassen.

Naika Foroutan plädiert, da die reichen Länder Zuwanderung brauchen, für eine

Kommission, die dem defätistischen, von Misstrauen und Abwehr geprägten migrationspolitischen Kanon ein neues Leitbild entgegensetzt. Festung Europa war gestern – heute brauchen wir die Plaza Europa, den Marktplatz der Zukunft, um uns nicht moralisch und ökonomisch ins Dunkel zu manövrieren.

Das ist richtig, allerdings nur ein Schritt: Die Analyse davor ist für mich stärker als die Lösung. Vor allem wegen der Beschreibung der Lage empfehle ich den Artikel. So komprimiert und faktengesättigt findet man es ansonsten selten.

Wenn Nationen paranoid und korrupt werden

piqer:
Thomas Wahl

Wie die meisten Ideen und die entsprechenden Umsetzungen kann, so der Economist, auch Nationalität als Konzept positiv oder negativ wirken.

Die positive Art – die Liebe zum eigenen Land – kann eine Kraft für das Gute sein. „Sie ist die stärkste Grundlage für die Solidarität zwischen Menschen, die sonst nur wenige Gemeinsamkeiten haben“, schreibt Yascha Mounk in „The Great Experiment: How to Make Diverse Democracies Work“. …..  Weil der Gedanke gutartig und – außer an einigen westlichen Universitäten – unumstritten ist, wird der positive Nationalismus von fast allen Politikern unterstützt. Kaum einer würde zugeben, sein Land nicht zu lieben.

Eine Analyse in der aktuellen Ausgabe stellt nun fest, dass die paranoide Variante des Nationalismus global auf dem Vormarsch ist. Dieser negative Nationalismus besteht darin, die Angst und das Misstrauen gegenüber Außenseitern zu schüren. Dabei kann es sich um Ausländer oder inländische Minderheiten handeln.

Vielleicht weil diese paranoide Variante auf einem tief verwurzelten Instinkt beruht – dem Wunsch, den eigenen Stamm/Volk zu schützen -, ist sie äußerst wirksam.

Zunehmend merken skrupellose Staatschefs, dass sie mit der Methode, die Menschen gegen erfundene Bedrohungen zu verteidigen, ihre Macht in Wahlen erhalten können. Und damit werden Regierungen nicht nur bösartiger, sondern offensichtlich oft auch korrupter. Wie die Beispiele zeigen, ist es egal, aus welcher politischen Richtung diese Staatschefs kommen, ob Putin in Russland, Orban in Ungarn, Tunesiens Präsident Kais Saied, Nicaraguas Präsident Ortega (einst ein revolutionärer Marxist) oder Chinas Führer der kommunistischen Partei und Präsident Xi Jinping – sie alle nutzen das Instrument nationalistischer (Feind)Propaganda.

Für ihre statistische Analyse der Zusammenhänge stützte sich die Zeitung auf Daten des V-Dem Instituts, eine Denkfabrik der Universität Göteborg in Schweden. Jedes Jahr bittet dieses Institut Experten zu beschreiben, wie sich die Regierungen der Welt vor den Wählern oder Bürgern rechtfertigen. Nach der Gewichtung der Länder nach ihrer Bevölkerungszahl stellte der ECONOMIST fest

dass sich die Regierungen zwischen 2012 und 2021 verstärkt auf den Nationalismus stützten, um sich zu rechtfertigen. (Genauer gesagt, auf eine Ideologie, die ein nationalistisches Element enthält. Dies kann auch andere Elemente wie Populismus oder Islamismus beinhalten.) Die Veränderung war signifikant ……

Dieses Maß für den Nationalismus von Regierungen wurden dann mit Daten über die Wahrnehmung von Korruption im öffentlichen Sektor von Transparency International (ti) für die Jahre 2012 bis 2021 kombiniert.

Mithilfe eines statistischen Modells fanden wir heraus, dass dort, wo Regierungen auf nationalistische Rhetorik setzen, um an der Macht zu bleiben, der öffentliche Sektor nach Meinung von Experten viel korrupter ist. Vergleicht man die Länder seit 2012 mit sich selbst, so stellt man fest, dass mehr nationalistische Rhetorik mit mehr Korruption und weniger Nationalismus mit weniger Korruption verbunden ist. Diese beiden Ergebnisse bleiben auch nach Kontrolle der Durchschnittseinkommen und deren Veränderungen sowie der weltweiten Trends bei Nationalismus und Korruption bestehen.

Wobei z. B. China eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt – es wurde zugleich „sauberer“ und nationalistischer. Insgesamt ist die Korrelation aber weltweit statistisch signifikant:

Ein Anstieg des Nationalismus um eine Standardabweichung korrelierte mit einem Korruptionssprung von 5,31 (auf einer Skala von 0 bis 100), wenn man Länder miteinander vergleicht, und einem Sprung von 0,13 Punkten, wenn man innerhalb der Länder vergleicht. Letzteres mag gering erscheinen, doch ändern sich die Korruptionswerte in der Regel nicht wesentlich. Interessant ist, ein vorlaufender Anstieg des Nationalismus kündigte einen zukünftigen Anstieg der Korruption an.

Wie könnte es zu dieser Korrelation kommen? Im Artikel wird Daniel Eriksson von ti zitiert. Er sieht drei Faktoren, wie der Nationalismus Machtmissbrauch und Korruption fördern kann.

Politiker können nationalistische Leidenschaften anheizen, um ihr Amt zu gewinnen oder zu behalten. Indem sie ihren Verwandten oder Kumpanen Einfluss gewähren, können sie versuchen, den Staat zu erobern. Und indem sie Kritiker als Verräter abstempeln, können sie die Kontrollmechanismen aushöhlen, die die Plünderung öffentlicher Gelder verhindern.

Ja, nationalistische Argumente sind ein süßes Gift, einfach zu verstehen, emotional  ergreifend.

„Wählt mich, und ich werde die Schulen schrittweise verbessern“ ist zwar eine gute Plattform, aber ein langweiliger Slogan. „Der Stamm nebenan greift uns an!“ ist ein elektrisierender Slogan.

Gerade wenn man es mit konkreten Lösungsvorschlägen für unsere komplexen Probleme vergleicht. Die zu verstehen, erfordert eine ständige Anstrengung. Der perverse Nationalismus ist daher auch ein Zeichen der Überforderung und Unmündigkeit der Bürger. Was keine Entschuldigung sein kann, wenn eine Gesellschaft versagt.

Auch wenn alle Fälle, alle Autokratien etwas anders sind, der im Artikel als ein Beispiel gewählte Fall Nicaragua ist durchaus typisch.

Daniel Ortega, der Präsident, war einst ein revolutionärer Marxist. Er schoss sich 1979 an die Macht, verlor aber 1990 eine Wahl. Entschlossen, die Macht wiederzuerlangen und zu behalten, dämpfte er seinen Marxismus, steigerte die antiamerikanische Hetze, gewann 2006 eine Wahl und hat seitdem die Demokratie schrittweise abgewürgt.

Die Wahl dieses Feindbildes ist durchaus clever. Die Vereinigten Staaten haben vor Jahrzehnten tatsächlich die Konterrevolution in diesem Land unterstützt. Diese Bedrohung ist allerdings längst vorbei,

aber Ortega behauptet immer noch, seine Gegner seien „Agenten des Yankee-Imperiums“, die „schon lange nicht mehr Nicaraguaner sind“. Im Februar ließ er mehr als 300 Dissidenten die Staatsbürgerschaft entziehen.

Für die Familie Ortega hat sich die Zeit an der Macht gelohnt. Neben wichtigen Fernsehsendern (und damit den Propagandamitteln)

kontrolliert die Familie schätzungsweise 22 Unternehmen in Branchen von Energie bis Immobilien. Nicaragua ist auf der ti-Skala um satte zehn Punkte korrupter als 2012 und rangiert nun schlechter als der Kongo.

Wie gefährlich diese überzogene nationalistische Schiene ist, zeigt eine im Artikel zitierte Auswertung von fast 500 Bürgerkriegen. Demzufolge ist

die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs fast doppelt so hoch ist, wenn die politischen Parteien ethnisch motiviert sind. Und Instabilität ist etwa 30 Mal wahrscheinlicher, wenn es sich bei dem betreffenden Land weder um eine Diktatur (die Unruhen unterdrücken kann, bevor sie eskalieren) noch um eine vollständige Demokratie (in der Streitigkeiten in der Regel friedlich gelöst werden) handelt.

Es ist also diese „unreife“ Form von Demokratien, die anfällig zu sein scheint. Sie befinden sich entweder in Phasen des Niederganges, der Dekadenz wie vielleicht die USA (?) oder entgleisen im Entstehen. Wirtschaftliche Probleme, fehlendes Wachstum und Armut treiben diese Prozesse.

Der globale Hitzesommer 2023: Das Gesamtbild der Klimakrise

piqer:
Ole Wintermann

Der Höhepunkt des Sommers der nördlichen Hemisphäre ist langsam überschritten. Höchste jemals gemessene Temperaturen wurden weltweit in den Ozeanen, in Japan und in Indien verzeichnet. Rekord-Hitzewellen im Westen der USA und in Europa sowie nie zuvor gesehene Waldbrände in Kanada komplettieren das Bild. Wie sieht das Zusammenspiel der Wechselwirkungen des Klimawandels aus und was können wir unternehmen, um den Klimawandel baldmöglichst aufzuhalten?

Dieser Frage widmet sich der WIRED-Podcast mit dem Wissenschaftsjournalisten Matt Simon. Simon vermag es auf großartige Weise, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in journalistischer Sprache den Zuhörenden (oder im Falle des Transkripts den Lesenden) nahezubringen. Schwerpunktthemen sind dabei die maritimen Hitzewellen, die Zunahme der tödlichen Schwüle, die so nicht erwartete Akzeleration der Erderwärmung, die wichtige Rolle der Attributionsforschung und menschliche Fehler im Umgang mit der sich erwärmenden Erde.

Wer ist letztlich für den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel (haupt-) verantwortlich? Simon kritisiert zu Recht das Konzept des vom Öl-Multi BP erdachten „individuellen CO2-Fußabdrucks“, das psychologisch dem Ziel diente, von den Schäden abzulenken, die BP et al. zu verantworten haben und stattdessen die Schuld dem Verbraucher zuzuschieben. Seinen klaren Worten für die Verantwortlichkeit der Klimakatastrophe kann ich mich nur anschließen:

„It’s the market that got us into this catastrophe in the first place. (…) But what I think we can do as individuals is start electing politicians that give a damn about this, that really understand the crisis that we’re in. (…) It’s these planetary criminal companies that are destroying our civilization.“

Zahlen zum Twitter-Exodus

piqer:
Jannis Brühl

Na danke, Elon!

Ich selbst habe ja geglaubt, dass Twitter/X auch nach den Änderungen, die der neue Boss Elon Musk angeordnet hat – von neuen Sortier-Algorithmen bis zur Nichtsanktionierung von (meist rechtsradikalen) Ausfällen – weiter relevant bleibt. Mittlerweile häufen sich aber die Zeichen, dass passiert, was viele befürchtet hatten: Abgeschreckt von der Vulgarität, von lahmer UX und Rechtsdrift verlassen die klugen Leute Twitter, und Communities zerfallen. Markus Reuter fasst erste Untersuchungen bei netzpolitik.org knapp zusammen:

  • 380.000 Konten aus dem Umweltbereich wurden untersucht. Sechs Monate nach der Übernahme durch Musk waren nur noch 52,5 Prozent der Gruppe aktiv (Quelle: Trends in Ecology &Evolution).
  • 9.200 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wurden befragt, und „fast die Hälfte aller Befragten nutzte die Plattform seit der Übernahme seltener, fast sieben Prozent hatten Twitter komplett den Rücken gekehrt“(Quelle: Nature).

Sollte die Vertreibung progressiver und aufgeklärter Menschen (was natürlich nicht auf alle Umwelt-Forscher und -Aktivisten zutreffen muss) Musks Ziel gewesen sein, war er demnach erfolgreich. Immerhin: Aus diesem Exodus bildet sich offenbar doch eine neue Fach-Plattform für die genannten Nischen, nämlich Mastodon. Dort landen nämlich viele der Flüchtenden.

Passend dazu schreibt der geschätzte Kollege und X-Exilant Johannes Kuhn in seinem Newsletter: „Da ich nicht mehr bei Twitter bin und nur ab und zu mit einem Burner-Account etwas nachgucke, habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung, wie im Moment Deutschtwitter ist. Allerdings weiß ich, dass sich mein Twitter-Logout wirklich positiv auf meine Lebensqualität ausgewirkt hat.“

Liebe in Zeiten der Schichtarbeit

piqer:
Christian Gesellmann

Erinnerst du dich an den Dokumentarfilm „Searching For Sugarman“, der 2013 den Oscar erhielt? Darin sucht ein Journalist nach einem verschollenen Musiker, trägt Legenden zusammen, spricht mit ehemaligen Bekannten. Etwa in der Mitte des Films, wenn man überhaupt nicht mehr damit rechnet, guckt uns der Totgeglaubte plötzlich mitten ins Gesicht. Sein Auftritt im Film ist wie eine Erscheinung. Er ist aber nicht auferstanden oder so, er war nicht einmal weg, nur vergessen.

Das Radiofeature „Liebe in Zeiten der Schichtarbeit“ hat einen ähnlichen, sehr eindrucksvollen Moment, und ich will ihn jetzt natürlich nicht verraten, aber eindrucksvoll ist er nicht nur dramaturgisch, sondern auch im Sinne von: Wie verrückt ist eigentlich das Leben und gibt es so etwas wie Zufall wirklich? Es ist jedenfalls das, was aus diesem eh schon sehr guten Radiofeature ein außergewöhnliches macht. Darin folgen wir den beiden Autoren, wie sie versuchen, die Geschichte eines jungen schichtarbeitenden Liebespaares herauszufinden, deren mit rührenden Liebesbotschaften und kuriosen Alltagsbanalitäten verziertes Haushaltsbuch aus den Jahren 1988/89 sie beim Einzug in einem lang leer stehenden Haus im ehemaligen Leipziger Arbeiterviertel Plagwitz gefunden haben. Absolute Hörempfehlung!